Wessen wollen wir gedenken?
Zur Debatte um die Aktualisierung des Bundesgedenkkonzepts
Martin Sabrow
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Es ist Zeit für das erinnerungspolitische Bekenntnis zu einer staatlichen Gedenkkultur, die die Wechselbezüge von Zivilisation und Barbarei ins Zentrum ihrer künftigen Förderpolitik rückt, fordert der Historiker Martin Sabrow. Er eröffnet damit im Deutschland Archiv eine Diskussionsreihe um die geplante Aktualisierung des Bundesgedenkkonzepts.
Entgegen einem populären Irrtum hält die Vergangenheit nur selten eindeutige Lehren bereit. Aber sie bietet Orientierung – im Umgang mit ihr erkennt sich die Gegenwart. Namentlich staatliche Gedenkkultur findet seit jeher besonderes öffentliches Interesse, auch wenn die Erinnerungszeichen unserer Zeit nicht mehr in Helden- und Schlachtendenkmalen bestehen, sondern mit der Pflege von Gedenkstätten vor allem das Gedächtnis einer unheilvollen Vergangenheit bewahren.
I.
Im Februar 2024 legte die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM) Claudia Roth eine Aktualisierung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vor, die sich bisher auf die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und dem DDR-Unrecht konzentrierte. Der 43 Seiten starke „Entwurf eines Rahmenkonzepts Erinnerungskultur“ brach mit dieser Fixierung und erklärte zusätzlich auch Kolonialismus, Einwanderungsgesellschaft und Demokratiegeschichte zu Feldern einer zeitgemäßen Erinnerungskultur, die in Zukunft staatliche Förderung beanspruchen könne. Das Konzeptpapier war allerdings nur für kurze Zeit im Netz zugänglich und wurde angesichts der aufkommenden Kritik rasch wieder zurückgezogen. In einer einmütigen Stellungnahme billigten die Dachverbände deutscher Gedenkstätten zwar die Erweiterung der bundesstaatlichen Gedenkförderung um die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kolonialismus. Sie warnten aber zugleich vor einem geschichtspolitischen Paradigmenwechsel und äußerten die Befürchtung, dass das BKM-Konzept „zu einer fundamentalen Schwächung der Erinnerungskultur führen würde“ und sogar „als geschichts-revisionistisch im Sinne der Verharmlosung der NS-Verbrechen verstanden werden“ könne.
Auch im Feuilleton schlug dem BKM-Papier ein teils geradezu vernichtendes Urteil entgegen. Die FAZ brach den Stab über das Konzept, das die Lernorte der Vergangenheit nachgerade in Schulen des Verlernens zu verwandeln drohe. Scharf abwehrend urteilte auch die Jüdische Allgemeine , während andere Stimmen vor allem die handwerklichen Schwächen des „hemdsärmelig“ gearbeiteten Papiers attackierten, das mit einem „Clash der Schlagworte“ aufwarte und sich als „pompöses Geschwurbel“ präsentiere ; der Spiegel berief sich gar auf ungenannte Expertinnen und Experten, die das Dokument nicht nur für eine „intellektuelle Beleidigung“ hielten, sondern gleich als „umfassende Katastrophe“ bewerteten.
II.
Dieser lautstarke Streit um die künftige Ausrichtung der staatlichen Gedenkpolitik steht allerdings in einem sonderbaren Missverhältnis zur sehr unspektakulären Geschichte seiner Arbeitsgrundlage. Denn eine Bundesgedenkstättenförderung, wie sie sich inzwischen als identitätsbegründendes Fundament des historischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik präsentiert, entstand erst mit der deutschen Vereinigung 1990, und sie kam als Sturzgeburt auf die Welt. In der Bonner Republik wurde die Frage nach einer bundesstaatlichen Verantwortung für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit gar nicht gestellt.
Die seit den Sechzigerjahren schleppend anlaufende Finanzierung von NS-Gedenkstätten war Ländersache: Für die erst nach langem Anlauf 1965 begründete KZ-Gedenkstätte Dachau sorgte Bayern, für die Gedenkstätte Bergen-Belsen das Land Niedersachsen, und in Neuengamme gelang es erst 1984, wenigstens die Reste der von der Stadt Hamburg weitgehend abgetragenen KZ-Gebäude unter Denkmalschutz zu stellen. Vor 1990 erreichte die Frage eines angemessenen Gedenkens der deutschen Katastrophe den Bundestag nur ein einziges Mal. Doch die 1985 geführte Debatte über ein zentrales Denkmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft versandete alsbald wieder angesichts der empfundenen Unmöglichkeit, in einem Mahnmal Täter und Opfer zugleich ehren zu wollen.
Es war das Erbe der DDR, das den Bund in die Verantwortung zwang. Paragraf 35 des Einigungsvertrags bestimmte, dass die kulturelle Substanz des Beitrittsgebiets keinen Schaden nehmen dürfe, und dies schloss die Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR ein, die das antifaschistische Staatsbekenntnis der SED in Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück pflegten. Sie wurden im Gefolge des Einigungsvertrages für zunächst zehn Jahre in eine hälftige Bundesförderung aufgenommen, und mit ihnen erhielten neben NS-bezogenen West-Berliner Gedenkorten wie die Externer Link: Topographie des Terrors, das Externer Link: Haus der Wannseekonferenz und die Externer Link: Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Berliner Bendlerblock auch einzelne Einrichtungen zur Erinnerung an das SED-Unrecht eine befristete Bundesförderung, nämlich die Gedenkstätten Externer Link: Hohenschönhausen, Externer Link: Torgau und Externer Link: Bautzen.
Erst in den Folgejahren und getrieben durch die Empfehlungen der Externer Link: Enquêtekommission zur Überwindung der Folgen der SED-Diktatur entwickelte sich eine 1999 verabschiedete Bundesförderkonzeption, die neben einer dauerhaften institutionellen Finanzierung durch Bund und Länder auch eine Reihe von Kriterien definierte, die fortan als Grundlage bundesstaatlicher Finanzierung dienten: der nationale beziehungsweise internationale Stellenwert des Ortes und seine Authentizität, dazu seine Exemplarität für einen Aspekt der nationalsozialistischen Terrorherrschaft oder der SED-Diktatur.
III.
Vor diesem Hintergrund bewegte sich die kürzlich vorgelegte und alsbald zurückgezogene Überarbeitung des bisherigen Gedenkstättenkonzepts in eher gewohnten Bahnen. Mit ihr kommt der Bund einer geschichtspolitischen Aufgabe nach, die er ungern und zögernd übernommen hat. Er bewältigt sie auch in der jüngst vorgelegten Aktualisierung mit einer Ausweitungsbereitschaft, die sich als konzeptionell unterreflektierte Addition alter und neuer Aufgabenfelder liest. Doch ein Grund zu öffentlicher Aufregung hätte sich daraus allein wohl nur für die bestehenden Institutionen des zeithistorischen Gedenkens ergeben, die nicht zu Unrecht die Kürzung ihrer Haushalte durch Erweiterung des Förderspektrums befürchten müssen.
Wenn die im April 2024 aufgekommene Debatte mit überraschend harten Bandagen geführt wird, dann liegt es daran, dass in der allgemeinen Wahrnehmung offensichtlich mehr auf dem Spiel steht als nur die auskömmliche Finanzierung der deutschen Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung. Tatsächlich geht es um die künftige Ausrichtung staatlicher Geschichtspolitik insgesamt, und in der Debatte wird das historisch grundierte Selbstverständnis der Bundesrepublik in der Zeitenwende verhandelt, wie sich am Duktus mancher Wortmeldungen unschwer erkennen lässt: „Die deutsche Erinnerungskultur soll demnach in einer bunten Mischung multikultureller Narrative aufgelöst werden“, begründete etwa ein früherer Gedenkstättenleiter seinen Verriss des BKM-Konzepts.
Globalisierungskrise, Ukrainekrieg und Rechtspopulismus haben die liberaldemokratische Fortschrittserzählung erschüttert, die nach dem Ende des Kalten Krieges ihren erst europäischen und dann weltweit ausgreifenden Siegeszug im Zeichen von Freiheit, Frieden und Toleranz antrat. Die neue Ungewissheit erfasst auch die Vergangenheit: An welche Wege und Irrwege der Vergangenheit wollen wir uns in einer Zukunft erinnern, in der die Lehren aus der doppelten deutschen Diktaturvergangenheit mit der Zeitenwende und dem wachsenden generationellen Abstand ihre aufklärerische Kraft zu verlieren drohen?
IV.
Das BKM-Papier antwortet auf diese Frage mit einer doppelten Ausweitung seines Zuständigkeitsanspruchs. Zum einen übertritt es schon im programmatischen Titel „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“ die Scheidelinie zwischen staatlichem Gedenken und öffentlichem Erinnern. Es skizziert unter Berufung auf den Koalitionsvertrag einen Handlungsrahmen, der von der „Erinnerung an das Unrecht, das von Deutschland ausgegangen ist“ bis hin zu Anstößen reicht, „wie die Bundesrepublik Deutschland ihre Erinnerungsarbeit auch und noch stärker als bisher als Teil eines europäischen Erinnerungsprozesses begreift“.
Indem das Gedenkstättenpapier ein „zeitgemäßes Erinnerungskonzept“ zu entwickeln beansprucht, das auf eine „lebendige und auf die Zukunft unserer Demokratie ausgerichtete Erinnerungskultur“ zielt, begibt sich die Behörde von Claudia Roth allerdings schon begrifflich auf schwankenden Boden. Der Terminus „Erinnerungskultur“ ist kein analytischer Begriff kritisch-distanzierter Wissenschaft, sondern die Sprachformel einer emphatischen Parteinahme. In ihr drückt sich der Wechsel des Geschichtsbewusstseins nach 1945 aus – weg von einer tradierten Stolzkultur und hin zu einer kathartischen Schamkultur, die die heutige Gedenklandschaft gegenüber dem denkmalgestützten Heldenkult früherer Epochen markant abhebt. In der Rede von der Kultur des Erinnerns steckt die emphatische Wendung gegen das Vergessen, ohne die doch in Wahrheit keine Vergangenheitsbetrachtung auskommt. Die Behörde der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (Externer Link: BKM) hat aber keinen erinnerungskulturellen, sondern lediglich einen gedenkpolitischen Auftrag. Sie soll Einrichtungen von nationaler Bedeutung finanziell unterstützen, aber sie hat keine normativen Überlegungen anzustellen oder gar Initiativen zu ergreifen, wie die Gesellschaft sich ihrer Vergangenheit zu erinnern habe.
V.
Mit der beabsichtigten Erweiterung des eigenen Gestaltungsanspruchs von der Gedenkpolitik hin zur Erinnerungskultur lässt das BKM-Konzept einen fragwürdigen identitätspolitischen Zugriff auf die Vergangenheit anklingen, wie er eher zu autoritär verfassten Gemeinwesen passt als zu einem liberalen Staat wie der Bundesrepublik, die sich mit ihrem gerade 75 Jahre alt gewordenen Grundgesetz bekanntlich als Rechtsstaat und nicht als Wertegemeinschaft begreift. Es ist bedauerlich, dass das Roth-Papier auf diese Weise auch eine weitere gedenkpolitische Richtungsänderung ins Zwielicht setzt, die sehr viel mehr Zukunftsorientierung verspricht und deswegen ernsthafte Erwägung lohnt.
Über vierzig Jahre hinweg stand die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit im Zeichen einer Aufarbeitung, die der Nachkriegszeit der Verdrängung und Verleugnung den Appell zur schmerzhaften Aufklärung über die Menschheitsverbrechen der NS-Herrschaft und des Stalinismus entgegensetzte. Die unter diesem Vorzeichen entstandene Gedenkstättenlandschaft ist in ihrer Breite und Eindrücklichkeit einmalig; nirgendwo und nirgendwann hat ein Staat sich so rückhaltlos und so eindringlich zu den Schrecken seiner Geschichte bekannt.
Aber der Anspruch auf schonungslose Vergangenheitsaufarbeitung hat sich mit den Jahren abgenutzt, er hat sein kritisches Potenzial zu erschöpfen begonnen. Die das Gemeinwesen erschütternde Aufklärung über die Verbrechen der Diktaturen ist unmerklich in die identitätsbildende Affirmation eines Staates übergegangen, der aus dem Bewusstsein seiner historischen Verantwortung die Kraft zur Durchsetzung seiner Werte schöpft.
Die Zahl der eingereichten Gedenkstättenförderanträge sinkt seit Jahren. Zugleich ordnet eine an Raum gewinnende postkoloniale Gegenerzählung die Vernichtung der europäischen Juden in eine rassistische Kontinuitätslinie bis zur Gegenwart ein, in der die vermeintlich aufgearbeitete Vergangenheit als Schutzschild einer ungebrochenen Vorherrschaft des weißen Westens erscheint. Zu dem durch die staatliche Geschichtspolitik nur scheinbar marginalisierten Antisemitismus gesellt sich in der deutschen Einwanderungsgesellschaft ein neuer Judenhass, der die mit dem deutschen Völkermord motivierte Solidarität mit Israel seinerseits als Genozid hinstellt.
Zweifel am zeitlosen Erfolg des Projekts Vergangenheitsaufarbeitung kommen nicht nur von außen. Auch unter Geschichtslehrern und Gedenkstättenpädagogen ruft das rasante Erstarken des Rechtspopulismus in Deutschland die Frage wach, ob vierzig Jahre anstrengender Arbeit gegen das Vergessen nicht vergeblich waren. Blass wirkt der Appell Annalena Baerbocks, die NS-Geschichte früher im Schulunterricht zu thematisieren, um der Gleichgültigkeit gegenüber den Gräueltaten des „Dritten Reichs“ entgegenzuwirken. „Wie viele Hitler-Dokus braucht ihr noch?“, fragte ein Schild auf der Demonstration gegen „Rechts“ vor dem Berliner Reichstag im Februar 2024 so ratlos wie richtig.
Die daraus folgende Erkenntnis liegt auf der Hand: Die staatliche Gedenkpolitik kann sich nicht länger auf dem Erfolg der zivilgesellschaftlich durchgesetzten Aufarbeitung der lange beschwiegenen NS-Vergangenheit und später auch der SED-Diktatur ausruhen; sie muss neu reflektiert werden, um nicht museal zu erstarren und stumm gegenüber den Herausforderungen der Gegenwart zu bleiben.
Die daraus erwachsende Forderung nach einer Verbreiterung des gedenkpolitischen Handlungsraums darf sich über entschiedene Gegenwehr freilich nicht beschweren. Es steht viel auf dem Spiel: Die Ergänzung der bundesstaatlichen Gedenkstättenförderung um eine kolonialgeschichtliche Dimension ist unweigerlich mit der Frage nach der historischen Singularität des Holocaust konfrontiert. Ihre Ausweitung auf Erinnerungsorte der Demokratie wiederum gerät unvermeidlich in Spannung mit der Opferorientierung der Diktaturaufarbeitung. Und die Einbeziehung innergesellschaftlicher Migrantenverfolgung verträgt sich nicht mit der Fokussierung auf die beiden großen Unrechtsregime. Entsprechend harsch wehrten sich die Dachverbände der Gedenkstätten, indem sie dem BKM-Papier vorhielten, dass die in ihm „als weitere Säulen eingeführten Themen Migrationsgesellschaft und Demokratiegeschichte (...) nicht dem Themenfeld staatlich verübter Massenverbrechen an(gehören) und (...) damit den klar definierten Bereich [verwässern], für den die Bundesrepublik eine ganz besondere Verantwortung hat“.
Gegen die ablehnende Haltung der Gedenkstätten kam auch ein Antwortschreiben Claudia Roths nicht an, das im Sinne der Faulenbach-Formel versicherte, dass auch im Selbstverständnis der Kulturstaatsministerin die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch keine Relativierung und die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur keine Bagatellisierung dulde.
In einem zweiten Schreiben erklärten die Dachverbände der Gedenkstätten unverändert, dass sie den „Entwurf des BKM zu einem ‚Rahmenkonzept Erinnerungskultur‘ nicht mittragen können“, und insistierten darauf, dass die „kritische Auseinandersetzung mit den von großen Teilen der Gesellschaft getragenen nationalsozialistischen Regimeverbrechen (...) wesentliche Grundlage unserer demokratischen Geschichtskultur“ sei und daher auch in einer Fortschreibung des Gedenkstättenkonzeptes gegenüber anderen Epochen und Verbrechenskomplexen eine herausgehobene Stellung einnehmen“ müsse.
Niemand, der in Deutschland geschichtspolitische oder geschichtsvermittelnde Verantwortung trägt, wird an dieser Feststellung rütteln – sie formuliert den Kern des historischen Selbstverständnisses der heutigen Bundesrepublik und die Grundlage jeder Auseinandersetzung mit der unheilvollen deutschen Vergangenheit des 20. Jahrhunderts. Aber steht sie deswegen auch für das Ganze, das bundesstaatlicher Gedenkförderung würdig wäre? Die Stellungnahme der Gedenkstätten bekräftigt selbst, dass im Zuge der deutschen Einheit auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur zu einer gesamtstaatlichen Aufgabe geworden sei, und sie spricht sich weiterhin dafür aus, dass auch die „staatlich verantworteten Verbrechen in den deutschen Kolonien (...) nicht länger ignoriert werden“ solle, sofern dies unter der Voraussetzung geschehe, „dass die NS-Verbrechen damit nicht relativiert werden und das SED-Unrecht nicht bagatellisiert wird“.
VI.
In Bernd Faulenbachs seit Jahrzehnten klassischer Gegenüberstellung von „Relativierung“ und „Bagatellisierung“ schwingt eine Abstufung mit, welche die nach 1989 zunächst erbittert geführten Kontroverse um den legitimen Ort der Erinnerung an die stalinistische und staatssozialistische Zwangsherrschaft erfolgreich befriedet hat. Ließe sie sich nicht unschwer um ein drittes Gebot erweitern, auch die über Diktaturen hinausgehenden Lasten der deutschen Geschichte nicht zu ignorieren?
Gegen eine solche Erweiterung sprechen nach der Ansicht der Kritiker von Roths Papier vor allem zwei Punkte. Der erste betrifft die Auffassung, dass eine gedenkpolitische Verantwortung des Bundes allein bei staatlichen Verbrechen gegeben sei. Aber auch in der deutschen Geschichte war der Staat zu keiner Zeit alleiniger Urheber historischen Unrechts – der aufkommenden Kolonialbewegung stand das Kaiserreich lange Zeit denkbar reserviert gegenüber, und noch die von Bismarck initiierte Kongo-Konferenz von 1885 zielte aus deutscher Sicht vor allem auf die internationale Ächtung des Sklavenhandels. Aber sollte daraus eine gedenkpolitische Verweigerung gegenüber der deutschen Teilhabe am rassistischen und kolonialistischen Erbe des Westens folgen?
Auch die vielen Gedenkstelen und Erinnerungsorte, die republikanische Vereinigungen in den Weimarer Jahren für ihre von der radikalen Rechten verfolgten Repräsentanten Matthias Erzberger, Walther Rathenau und Friedrich Ebert errichteten und dann die neuen Herren 1933 beseitigten, passen so wenig in den Zwangsrahmen staatlicher Verbrechenspolitik wie die Gedenkzeichen, die im Berliner Tiergarten an die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg erinnern.
Wäre die Erinnerung an die von der Bevölkerung initiierten Judenpogrome von Jedwabne oder Kielce staatlicher Förderung unwürdig, wenn sie sich nicht in Polen, sondern in Deutschland ereignet hätten? Und müsste ein BKM-Antrag der Kölner Synagoge kategorisch zurückgewiesen werden, weil deren aufsehenerregende Schändung 1959 und die folgende Welle von antisemitischen Hakenkreuzschmiereien nicht behördlich veranlasst, sondern vom Straßenmob verübt worden waren? Anschläge auf Ausländer seien mit dem staatlich organisiertem organisierten Menschheitsverbrechen der Schoah nicht vergleichbar und der Unterschied zwischen Staatsverbrechen und politischer Kriminalität einer ums Ganze, argumentierte Andreas Kilb in der „FAZ“.
Wirklich? Der NS-Terror fügt sich solcher Kategorisierung zumindest bis zum Ende der Weimarer Republik ganz und gar nicht. Auch später entfaltete er sich nicht nur in der behördlich gelenkten Vernichtungsmaschinerie, sondern ebenso in der allgemeinen Bereitschaft, „dem Führer entgegenzuarbeiten“ (Ian Kershaw). Natürlich – fremdenfeindliche und rassistische Gewalttaten gingen in der Bundesrepublik nicht mehr von Regierungen und Behörden aus, und der Staat muss darum den in Deutschland verfolgten Zuwanderern kein Denkmal bauen. Aber er kann es und damit zeigen, dass der demokratische Staat von einer gesellschaftlichen Akzeptanz seiner Grundwerte lebt, die er selbst nicht garantieren kann.
Zitat
Eine fortgesetzte Begrenzung der Bundesgedenkförderung auf staatliche Verbrechen könnte eben das bewirken, was die Kritik dem neuen Rahmenkonzept vorhält: Es schwächt die demokratische Erinnerungskultur, statt sie zu stärken.
Ein zweiter Einwand gegen eine thematische Erweiterung der staatlichen Gedenkpolitik ergibt sich aus einer nationalstaatlichen Begrenzung der öffentlichen Erinnerung, wie sie immer noch gefordert wird: „Migrantische Erfahrungen sind kein Gegenstand nationaler Gedenkkultur“, hieß es in der „FAZ“; sie sollten „Familieneigentum“ bleiben wie die Erinnerung deutscher Auswanderer in Amerika.
Aber Rassismus, Ethnophobie und Fremdenfeindlichkeit halten sich nicht an nationalstaatliche Grenzen, und sie lassen sich nicht zu langsam verblassenden Ankunftserfahrungen von Zuwanderern in der abweisenden Fremde verkürzen, sondern machen eine grenz- und zeitüberschreitende Kontinuitätslinie sozialer Ausgrenzung sichtbar. Erst recht ist die Kolonialgeschichte ein globales Phänomen, auch wenn die einzelnen europäischen Kolonialstaaten nicht um dieselben Einflusszonen rivalisierten. Aber sie einte derselbe Überlegenheitsgedanke, derselbe Zivilisierungsanspruch, derselbe Ausbeutungswille. Ihn etwa mit einem zentralen Lernort in eine zukünftige Ausrichtung der deutschen Gedenkpolitik aufzunehmen, verwässert die deutsche Gedenkstättenlandschaft ebenso wenig wie eine gedenkpolitische Verneigung vor dem Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Im Gegenteil: Diese Erweiterung erst öffnet den Blick für die Aktualität politischer Gefährdungen, die allzu lange in das beruhigend feste Gehäuse einer vermeintlich für immer überwundenen Vergangenheit gesperrt waren.
Was spricht schließlich dagegen, auch den demokratischen Handlungsraum mit seinen bis 1848 zurückreichenden Traditionen und Konflikten entschiedener als bisher in eine bundesstaatliche Gedenkförderung aufzunehmen? Müssen wir uns wirklich darum sorgen, dass der erreichte Stand der Aufklärung über die Menschheitsverbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts von der Renaissance einer nationalstolzen Vergangenheitsversicherung überdeckt werden könnte, wenn auch die lange im Schatten gebliebenen Orte der ersten demokratischen Revolution von 1848 wie das Hambacher Schloss institutionelle Förderung durch die BKM erfahren?
Vielleicht sollten wir lieber fragen, warum der Friedhof der Märzgefallenen von 1848 im Berliner Friedrichshain nicht dieselbe Aufmerksamkeit genießt und auch die Weimarer Republik immer noch keinen Gedenkort von bundesweiter Ausstrahlung gefunden hat. Ein rühriger Verein sprang in die Bresche, um ihr wenigstens in Weimar einen Gedenkort zu schaffen, für den sich in Berlin auch hundert Jahre nach der Gründung der Weimarer Republik noch kein Pendant gefunden hat – es sei denn, man wollte den Gedenkstein an der Stelle des Mordes an Interner Link: Walther Rathenau als zureichende Repräsentation der zerstörten Vorläuferdemokratie im öffentlichen Gedächtnis empfinden.
Der Unwille über gedenkpolitische Richtungsänderungen ist nicht neu. Er erhob sich nach 1945, als die bundesdeutsche Beschäftigung mit der Vergangenheit sich vom Heldenruhm zum Opfergedenken wandelte, und er kehrte wieder, als nach 1989 neben der Erinnerung an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den von ihr ausgehenden Zivilisationsbruch auch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus und dem SED-Unrecht ihren Platz einforderte.
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In beiden Fällen gelang der Umbruch. Er schuf eine Gedenkstättenlandschaft, deren Vielgestaltigkeit und deren Wechselbeziehung etwa an den Orten mit sogenannter „doppelter“, nämlich nationalsozialistischer und stalinistischer Vergangenheit einen bis heute geltenden Gedenkkonsens schufen. Dieser Vorzug sollte nicht in einer neuerlichen Umbruchzeit verspielt werden, in der auch in der Geschichtskultur die hergebrachten Unterscheidungen von Staat und Gesellschaft, deutscher Nation und europäischem Ausland nicht mehr eine hinreichende Antwort auf die Gefährdungen der Gegenwart bieten können.
Es ist vielmehr Zeit für das erinnerungspolitische Bekenntnis zu einer staatlichen Gedenkkultur, die die Wechselbezüge von Zivilisation und Barbarei ins Zentrum ihrer künftigen Förderpolitik rückt.
Sie darf die fortgesetzte Aufarbeitung der NS-Gewaltherrschaft und der SED-Diktatur nicht im Geringsten infrage stellen, aber sie kann ihr durch den Einbezug einer selbstkritischen Demokratisierungsgeschichte neue Perspektiven bieten – vorausgesetzt, dass dem geschichtspolitischen Wollen auch die finanzielle Absicherung folgt. Nur so wird es gelingen, die staatliche Erinnerungspolitik aus der von Ritualisierung bedrohten Konservierung einer abgeschlossenen Vergangenheit zu befreien und auf die Konfliktlagen der Gegenwart hin zu öffnen.
Zitierweise: Martin Sabrow, „Wessen wollen wir gedenken?", in: Deutschland Archiv, 01.06.2024 Link: www.bpb.de/549049. Die Reihe wird in loser Folge fortgesetzt. In Kürze erscheint ein Beitrag von Wolfgang Benz. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
ist Professor em. für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ehemaliger Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Er ist Sprecher des Leibniz-Forschungsverbunds „Wert der Vergangenheit“.
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