Die Maueröffnung am 9. November 1989 war eine zwangsläufige Entwicklung des Geschehens in der DDR im Herbst 1989 - als Folge einer Mischung aus Revolution, Ausreisedruck, Implosion des Machtapparats und Paralyse des DDR-Alltags. Vorausgegangen war im Sommer 1989 eine anhaltende Ausreisewelle aus der DDR, via Polen, der Tschechoslowakei und vor allem Ungarn, von wo aus in den Sommermonaten 1989 über 50.000 Einwohner der DDR ihr Land verlassen hatten, wie nachfolgende MfS-Statistik belegt:
Vor 35 Jahren: Die Wege zum 9. November 1989 Ein multimediales Mosaik über den Beginn der Friedlichen Revolution in der DDR vor 35 Jahren, den Mauersturz am 9.11.1989 und die Entwicklung dahin.
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Ein vielschichtiges Geschehen spitzte sich Anfang Oktober 1989 in der DDR zu, just zu ihrem 40. Jahrestag, der zugleich ihr letzter wurde. Kaum vorhersehbar öffneten Ausreisestrom und Demonstrations-Dynamik den Weg zur Demokratisierung der DDR, zu den ersten freien Volkskammer-Wahlen am 18. März 1990 und zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990. Nachfolgend ein bebilderter Überblick, aus dem Links zu vertiefenden Einzelbeiträgen führen, darunter als "Zeitreise"-Angebot auch mehrere Videos.
Zugleich wuchsen in der DDR Frust und Bürgermut, die "Friedliche Revolution" nahm ihren Lauf und kulminierte rund um den 7. Oktober, das war der 40. Jahrestag der DDR, der feierlich von der SED-Spitze im Ost-Berliner Palast der Republik begangen wurde, abgeschirmt durch Stasi und Volkspolizei von der Bevölkerung. Dort war aber die Sehnsucht nach Reformen und offenen Grenzen zunehmend gewachsen, insbesondere in der jüngeren Generation, hier Eindrücke aus einer Fernsehreportage mit dem Titel
Auslöser der damals einsetzenden Ausreisewelle war der Fall des "Eisernen Vorhangs" in Ungarn, wo DDR-Bürger und Bürgerinnen häufig Urlaub machten. Seit Anfang Mai 1989 wurde dort "aus Kostengründen" der Grenzzaun abgebaut, mit Rückendeckung des sowjetischen Staatsoberhaupts Michail Gorbatschow. Joachim Jauer hat dies 2019 im Deutschland Archiv hintergründig beschrieben: "
Diese Schritte waren aber nur möglich, weil in den Jahren zuvor die unabhängige polnische Gewerkschaft Solidarność osteuropaweit das Bewusstsein dafür geschaffen hatte, dass sich Freiheitsengagement lohnt, daran erinnert Basil Kerski in seinem Beitrag: „
Diese Entwicklungen ermutigten auch die Bürgerbewegung in der DDR und verliehen ihr Auftrieb, insbesondere am 7. Mai 1989. An jenem Wahltag in der DDR war der SED-Staat dabei ertappt worden, wie die Ergebnisse der DDR-Kommunalwahlen flächendeckend "geschönt" wurden, nachzulesen im bpb-Hintergrundtext Externer Link: "Wahlbetrug 1989 – als die DDR-Regierung ihre Glaubwürdigkeit verlor".
Noch blieb die Zahl der von nun an regelmäßig Demonstrierenden aber überschaubar. Das änderte sich, als im Verlauf des Sommers immer mehr Menschen frustriert die stagnierende DDR verließen, allein im Juli und August 1989 mehr als 50.000 Menschen: Externer Link: "Sommer 1989: Die große Flucht aus der DDR". Nun kamen auch Demonstrierende hinzu, die verstärkt für eine Reform der DDR demonstrierten, damit diese wieder attraktiver wird ("Wir bleiben hier!"). Auch (verbotene) Parteigründungen wurden geplant. Die Zahl der "Mutbürger" wuchs, aber auch die Gegenwehr des zunehmend verunsicherten Staats. Peter Wensierski beschreibt diese Entwicklung in Externer Link: "Mutbürger - Ein Rollentausch in Leipzig: Die Stasi im Visier".
In den zwei Jahren zuvor war auch in Ost-Berlin eine zunehmend selbstbewusstere Jugendopposition herangewachsen, weitgehend unter dem schützenden Dach einzelner Kirchen, an denen sich die Geheimpolizei Stasi die Zähne ausbiss, hier dokumentiert in einem Fernsehbeitrag vom 2. Dezember 1987 im ZDF: Externer Link: "Stasirazzia in der Umweltbibliothek".
Stasi-Razzia in der Umweltbibliothek
Auch das Ziel der SED die Kirche durch Stasileute zu unterwandern schlug trotz hoher IM-Dichte weitgehend fehl, sie blieb "das Loch im Fahrradschlauch DDR", wie der Ostberliner Pfarrer Rainer Eppelmann Kirche einmal definierte, aufgrund der demokratischen Grundprinzipien und Freiräume, die sie engagierten DDR-Bürger*innen bot, und dem Prinzip der Friedfertigkeit, das sie vermittelte. Komplett friedlich blieb die 1989 allmählich einsetzende "Revolution" in der DDR allerdings zunächst nicht.
Bei Krawallen vor dem Dresdener Hauptbahnhof in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1989 ausgebranntes DDR-Polizeifahrzeug. (© BArch)
Anfang Oktober 1989 gab es wechselseitig Gewalt durchaus auch von Demonstrierenden, als Eisenbahnzüge mit DDR-Flüchtlingen auf ihrem Weg aus Prag ins westdeutsche Hof DDR-Bahnhöfe passierten. In und rund um Dresdens Hauptbahnhof gab es daraufhin Krawalle, die einzig die Stasi auf Video dokumentierte, zu sehen in dem 30-minütigen Film Externer Link: "Vom Einläuten der Friedlichen Revolution", der 2014 in der Berliner Gethsemanekirche Premiere hatte. Der halbstündige Dokumentarfilm dokumentiert aber auch aus zahlreichen privaten Quellen, wie Polizei, Staatssicherheit und Betriebskampfgruppen in den Folgetagen auf durchweg friedliche Proteste reagierten, einschüchternd und gewaltsam vor allem rund um den 7. Oktober 1989.
Vom Einläuten der Revolution
Insbesondere aus solchen Gewalt- und Angsterfahrungen entwickelten sich in mehreren Orten der DDR zeitgleich Initiativen, die in der Folgezeit auf unterschiedlichsten Ebenen für "Dialog" und Gewaltlosigkeit eintraten, beispielgebend in Dresden, Leipzig und Plauen. Ausschlaggebend war auch, dass Anfang Juni 1989 die Volksrepublik China in Bejing die dortige Demokratiebewegung brutal niederschlagen ließ. Da Chinas KP dafür sogar Rückendeckung aus der SED-Spitze erhielt und der DDR
Nachdem die DDR-Sicherheitskräfte am 7.10.1989 im sächsischen Plauen darauf beharrten, ein Feuerwehrfahrzeug als Wasserwerfer zu benutzen, protestierten mehrere Feuerwehren in schriftlichen Erklärungen wegen Zweckentfremdung ihres Löschfahrzeugs. (© BArch, MfS BV-KMS, Abt. XX, Nr. 2733, Blatt 02, Bild 74)
Öffentliche Diskussionen über ihren unbeirrten Kurs und Proteste dagegen ließ die DDR-Führung jedoch vor dem 40. Republik-Geburtstag am 7. Oktober nicht zu. Die vergreiste Machtelite der DDR ließ ihn pompös in Ostberlin feiern, mit Fackelzug, Militärparade, Staatsbankett und Lobeshymnen in den staatsgelenkten Medien. Aber erwartete Reformen wie in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow lehnte die SED nachdrücklich ab und desillusionierte damit zunehmend auch ihre eigenen Anhänger und Anhängerinnen, von denen immer mehr ihr Parteibuch zurückgaben. Zugleich bildeten sich ganz neue Parteiinitiativen, denen der SED-Staat aber zunächst eine Anerkennung versagte.
Voller Selbstzufriedenheit, Selbsttäuschung und Selbstbockade. Die SED-Führung am 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989, kurz vor ihrer Ablösung. (© picture-alliance/dpa, ADN-Zentralbild)
Im Deutschland Archiv hat der seinerzeitige Mitbegründer der sozialdemokratischen SDP in der DDR, Martin Gutzeit, Gorbatschows Einfluss auf die DDR-Opposition 2022 in einem Nachruf noch einmal eindrücklich beschrieben: Externer Link: "Gorbatschows vergessene, erste Friedliche Revolution".
Als Staatsgast nahm Michail Gorbatschow am 6. und 7. Oktober 1989 höflich distanziert an den hermetisch abgeriegelten Jubiläums-Feierlichkeiten der SED-Führung teil und wurde zum Leidwesen der SED-Oberen beim abendlichen Fackelumzug am 6.10. als vorbildlicher Reformer umjubelt, wie auch das nachfolgende Dokument des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) belegt:
In der DDR spitzelte die Geheimpolizei Stasi nahezu überall. Nicht nur in Kreisen der Opposition, auch in Reihen der staatstragenden Jugendbewegung FDJ (Freie Deutsche Jugend). Diese interne MfS-Information bezieht sich auf die "Aktion Jubiläum 40", die das MfS abzusichern hatte. Am 6. und 7. Oktober 1989 feierte die SED-Führung pompös den 40. Jahrestag der DDR. Ehrengast war der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow, der die DDR-Spitze vergeblich zu Reformen drängte. Nun meldeten Informanten aus der FDJ, dass viele junge Leute planten, bei einem abendlichen Fackelmarsch entlang einer Ehrentribüne "Gorbi, Gorbi!" zu rufen, aber nicht so intensiv SED-Chef Erich Honecker zuzujubeln. Daraufhin mussten sich diesem Dokument zufolge Teilnehmenden schriftlich wieder zur Linientreue verpflichten.
Gegenüber dem Deutschlandarchiv der bpb erläuterte dazu in einer Mail am 2.9.2022 der damalige FDJ-Vorsitzende Eberhard Aurich: "Die Idee, meine Erklärung diesmal von den Teilnehmern unterschreiben zu lassen, war schon Wochen vorher entstanden. Da wussten wir noch nicht einmal, dass Gorbi kommt. Als wir diesen Text den Teilnehmern vorlegten, gab es zwei Wünsche: Streichen eine Eloge auf Erich Honecker und Betonung der Freundschaft zur Sowjetunion, was ich dann gemacht habe. Wir und andere ahnten natürlich die Gorbi-Rufe während des Fackelzuges. Ich fürchtete tatsächlich den Eingriff der Stasi oder der Partei – so wie am 1. Mai, als Gorbi-Bilder entfernt wurden. Ich hatte eine Begrüßungsrede vorbereitet, die namentlich die Gäste nennen sollte: Gorbatschow, Ortega, auch Ceausescu. Am Morgen des 6. Oktober erhielt ich einen Anruf mit dem Auftrag, die namentliche Nennung zu unterlassen. Das hat mich empört. Ich habe daraufhin zwei Dinge getan: Die Rede so überarbeitet, dass ohne namentliche Nennung trotzdem an der richtigen Stelle der Jubel ausbrach und Buh-Rufe unterblieben. Des weiteren habe ich die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen angewiesen, auf keinen Fall Gorbi-Rufe zu unterbinden, sondern der Stimmung freien Lauf zu lassen, wie es ja auch geschah. Auch gab es Hoch-Rufe auf Honecker!! Das Fernsehen hat bei der Life-Übertragung die Gorbi-Rufe unter anderem unterdrückt. Honecker hat sie sehr wohl wahrgenommen, weshalb er sich von mir nicht mal nach dem Fackelzug verabschiedete." (© BArch, MfS, HA II/6/631/89, Blatt 235)
Auch den bundesdeutschen Nachrichtendiensten entging nicht, dass es zunehmend Spannungen zwischen Gorbatschov und der SED-Führung gab, das Ausmaß der
"Wer zu spät komt, den bestraft das Leben", Reformer Michail Gorbatschow über den Reformgegener Erich Honecker 1989 (© picture-alliance, SVEN SIMON)
Unmittelbar nach Gorbatschows nachmittäglicher Rückreise nach Moskau kam es am Abend des 7. Oktober zu massiven Schlagstock- und Wasserwerfereinsätzen der "Sicherheitsorgane", sowie zu zahlreichen Festnahmen, aber nicht nur in Ostberlin als "Hauptstadt der DDR", sondern auch in Plauen, Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), Halle, Leipzig und weiteren Orten der DDR. Wagemutige Bürger*innen haben damals Proteste heimlich mit Fotoapparaten, Video- und Schmalfilmkameras dokumentiert, ein Zusammenschnitt davon ist ebenfalls in dem oben erwähnten Externer Link: Video zu sehen, das die heile Welt der DDR-Propaganda nachhaltig konterkariert.
Polizeikette in Karl-Marx-Stadt am 7.10.1989, fotografiert vom MfS (© Polizeikette in Karl-Marx-Stadt am 7.10.1989, fotografiert vom MfS)
Zwei Aufsätze im Deutschland Archiv beschäftigen sich mit der Aufarbeitung der rigiden Polizeieinsätze des 7. Oktober, die zahlreiche Ermittlungsverfahren nach sich zogen, diesmal angestoßen von den Opfern staatlicher Polizeigewalt, die in Ostberlin einen Ermittlungsausschuss initiierten. Das war ein Novum in der von der Sozialistischen Einheitspartei (SED) diktatorisch gelenkten DDR. Von einer Externer Link: "Sternstunde des demokratischen Aufbruchs" spricht DA-Autor Andreas Förster, der in seinem Beitrag ausführlich aus den damals dokumentierten Anzeigen zitiert.
Fallsammlung von Polizeiübergriffen am 7. und 8. Oktober 1989 in Ostberlin. (© bpb/kulick)
Bereits im September 2009 widmete sich Klaus Bästlein ausführlich diesem "Letzten Tag der Republik" in der damaligen Printausgabe des Deutschlandarchivs. Interner Link: Hier sein elfseitiges PDF.
Zwei Tage nach dem 7. Oktober hatte der SED-Staat zwar immer noch zahlreiche Sicherheitskräfte mobilisiert, um die sogenannte "Montagsdemonstration" in Leipzig am Abend des 9. Oktober niederzuschlagen. Örtliche Kirchengemeinden und Mitglieder der neu gegründeten Bürgerbewegung "Neues Forum" hatten sie im Anschluss an innerkirchliche "Friedensgebete" geplant. Die SED-Führung ließ aber angesichts der unerwartet großen Zahl von über 70.000 Teilnehmenden davon ab, gewaltsam durchgreifen zu lassen.
Über 70.000 Menschen ziehen am 9.Oktober 1989 in der ersten großen Montagsdemonstration durch die Leipziger Innenstadt. (© AP)
Jeglicher Befehl blieb aus. Obendrein hatten sich nicht wenige der bewaffneten Kräfte geweigert, Einsatzbefehlen zu folgen, die mit einem Schusswaffengebrauch verbunden gewesen wären. Dies war der Durchbruch der "Friedlichen Revolution", die demonstrativ mit Kerzen statt Waffen in der Hand und mit den Rufen "Keine Gewalt!" ihren Lauf nahm.
Die Angst hatte die Seiten gewechselt. Deshalb regen nicht wenige Historiker wie Ilko-Sascha Kowalczuk an an, diesen besonders richtungsweisenden 9. Oktober zu einem offiziellen Gedenktag zu machen:
Heimlich und risikoreich entstanden an diesem Abend in Leipzig Videoaufnahmen, deren Geschichte einer der beiden Kameramänner anschaulich im Deutschlandarchiv beschreibt, Siegbert Scheffke: Externer Link: "Schlüsselmoment der Geschichte: Der 9. Oktober 1989 in Leipzig".
Schlüsselmoment der Friedlichen Revolution: Die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989
Da diese Videoaufnahmen der Proteste in die Bundesrepublik geschmuggelt und vom Westfernsehen auch in die DDR ausgestrahlt wurden, kam es im Dominoeffekt zu anhaltenden Protesten in zahlreichen weiteren Orten der DDR, die durchweg friedlich blieben. Dies regte immer mehr Menschen an, die vorher eher abwartend und ängstlich zu Hause verharrten, sich nun ebenfalls aktiv an den Protesten und aufkeimenden öffentlichen Aussprachen zu beteiligen.
Die Parolen jener Zeit hat die Stasi ausführlich dokumentiert, sorgfältig in einer internen Dokumentation protokoliert, nach Themen geordnet und mit Datum versehen. Die bpb hat dieses Dokument in ihrem Stasi-Dossier online gestellt: Externer Link: "Es lebe die Oktoberrevolution 1989". Gesammelt vom MfS - Parolen der Friedlichen Revolution in der DDR".
"Keine Angst mehr!", als Demo-Parole notiert vom MfS im Herbst 1989 (© BStU, MfS, ZAIG 17084)
Mit eigens initiierten Bürgerdialogen und einem Personalwechsel an der Spitze versuchte die SED noch einmal, die Zügel in der Hand zu behalten, Staatschef Erich Honecker musste am 18. Oktober 1989 abtreten und seinem Parteigenossen Egon Krenz weichen, der sich aber selber nur bis zum 6. Dezember im Amt halten konnte. Honecker wurde in der Folgezeit als dezidierter Schönfärber enttarnt - auch in eigener Sache. Dies rekonstruierte damals die ZDF-Sendereihe Kennzeichen D in ihrem Beitrag Externer Link: "Stasiakte Honecker", abrufbar in der bpb-Mediathek.
Bürgerprotest für Reisefreiheit am 7. Oktober in Plauen im Bezirk Karl-Marx-Stadt, vom MfS fotografiert (© BStU, BV KMSt, XX-2733; S.1, Bild 46-t)
War dies alles zusammen nun eher eine Revolution? Eine Implosion? Eine Paralyse? Schlicht eine taktische "Wende"? Dies war damals unter ehemaligen SED-Systemanhängern ein häufig benutzter Begriff, den Externer Link: Egon Krenz an seinem ersten Amtstag, dem 18. Oktober 1989, geprägt hatte. Doch dieser SED-interne Machtwechsel führte umgehend zu weiteren Protesten, die am 4. November ihren Höhepunkt erreichten, mehr als eine halbe Million Menschen ging in Ost-Berlin auf die Sraße - aber noch nicht Richtung Grenze, wie fünf Tage später. Noch versuchten SED und Reformkräfte in der Stasi, das Demonstrationsgeschehen in ihrem Sinne zu steuern, scheiterten aber angesichts einer immer selbstbewusster auftretenden Bevölkerung.
Wendland - ein Transparent am 4. November 1989 in Ost-Berlin (© Holger Kulick)
In Leipzig war am 9. Oktober die Angst abgeschüttelt worden, in Berlin und über 40 weiteren Orten der DDR verloren die Demonstrierenden am 4. November auch den Respekt vor der Staatsmacht, schildert der Historiker
Für die SED-Machtelite herrschte zu jener Zeit zunehmend Konfusion und Hilflosigkeit beschreibt der damalige FDJ-Vorsitzende Externer Link: Eberhard Aurich, den Funktionären, so schildert er, standen ihre eingebläuten Feindbilder und ihr systemimmanenter Autoritarismus im Weg und ihnen fehlte ein offenes Ohr für das eigene Volk.
Von ihren anfänglichen Erfolgen beflügelt, sei es von der ersten Umrundung des Leipziger Ringes am 9. Oktober 1989 oder der Großdemo am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz, erreichte die Politisierung der Bevölkerung ihren Zenit. Bis zum Mauerfall am 9. November wuchs die Zahl der Demoteilnehmer in Leipzig von Woche zu Woche. Gleichzeitig stieg auch die Anzahl der Städte an, in denen montags ebenfalls demonstriert wurde.
Montagsdemonstration in Leipzig am 24. Oktober 1989. Die Demonstranten setzten ihre Hoffnungen auf den sowjetischen Regierungschef Gorbatschow, der die DDR-Führung zu Reformen angehalten hatte. (© AP)
Am Tag der Montagsdemonstrationen, dem 6. November 1989, waren DDR-weit über 900.000 Menschen auf der Straße, die ihre Angst vor den Angstmachern der Stasi abgelegt hatten. So viele wie an keinem anderen Tag, beschreibt Achim Beier aus Leipzig den Externer Link: "Mythos Montagsdemonstration", den insbesondere eine kleine Leipziger MutbürgerInnen-Gruppe mit langem Atem und viel Kreativität beflügelt hat, wie Peter Wensierski in seinem Buch über die Externer Link: "Leichtigkeit der Revolution" dokumentiert.
Der Mauerfall als logische Konsequenz
Der Fall der Mauer blieb in diesem Prozess nur noch eine Frage der Zeit. Nur rund ein Monat verging, von den Protesten am 7. Oktober bis zum 9. November 1989, als Ostberliner Bürger*innen nach einer missverständlichen Pressekonferenz der SED couragiert in das streng bewachte Grenzgebiet vordrangen und vollkommen friedlich auf der sofortigen Grenzöffnung beharrten - ebenfalls von einem eher zufällig anwesenden Kamerateam dokumentiert. Der damalige Spiegel-Redakteur und Augenzeuge Georg Mascolo hat die Entwicklung an diesem Abend beschrieben: Externer Link: "Die Maueröffner Das Zeitdokument einer historischen Nacht - Der 9. November 1989 in der Bornholmer Straße. Ein Video".
Der 9. November 1989: Die Maueröffner
Dass die DDR so rasch ihrem Untergang entgegen ging, hatte allerdings auch finanzielle Hintergründe. Der SED-Staat war nahezu pleite und überlegte bereits, sich eine Variante der Maueröffnung in Bonn im Tausch gegen einen umfangreichen Milliardenkredit zu "erkaufen" und DDR-Bürgern großzügigere Reisemöglichkeiten in Aussicht zu stellen - auch als Reaktion auf die anhaltenden Proteste.
Diese vergeblichen Bemühungen des von der SED beauftragten DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski in der ersten Novemberwoche um neue Milliardenkredite beschreiben aus unterschiedlichen Perspektiven der Historiker Hans-Hermann Hertle in seiner Recherche Externer Link: "Totalschaden - Das Finale Grande der DDR-Volkswirtschaft 1989" und der Schweizer Bankier Holger Bahl, der damals schon länger hinter den Kulissen als Unterhändler agierte: Externer Link: "Geheimdienste, Zürcher Modell und Länderspiel". Aber auch der SED-Politiker Egon Krenz erwähnt in seinen Erinnerungen an den 9. November, das Schalck-Golodkowski in den Vortagen vergeblich als Emissär in Bonn darauf wartete, einen Maueröffnungs-Deal auszuhandeln:
Selbst am Vorabend des 9. November ahnte auch das Westfernsehen nicht, in welchem Maß die Auflösung der Mauer bevorstand, hier beispielsweise der komplette Mitschnitt des deutsch-deutschen ZDF-Fernsehmagazins Externer Link: "Kennzeichen D" vom 8.11.2022 und im Rückblick eine Externer Link: 3sat-Kulturzeit-Reportage mit O-Tönen von Akteuren und Akteurinnen des 9. November:
Augenzeugen und Akteure des 9. November 1989
Im Ergebnis hielten sich Euphorie und Skepsis die Waage. In Toncollagen hat der Berliner Linguist Norbert Dittmar versucht, so viele Stimmungslagen wie möglich für das Deutschland Archiv aus dieser Umbruchzeit einzufangen:
Das Ende der Friedlichen Revolution war all das aber noch nicht. Zunächst folgte die Entmachtung der verhassten DDR-Geheimpolizei "Staatssicherheit". Dabei erwiesen sich insbesondere gut vernetzte Frauen als ein Motor der Bewegung, wie, das skizzieren rückblickend die Bürgerrechtlerinnen Ulrike Poppe und Samirah Kenawi in einem Externer Link: ZeitzeugInnengespräch und die Schriftstellerin Gabriele Stötzer in einem Essay über die Entmachtung der verhassten Stasi, die im Dezember 1989 DDR-weit folgen sollte: Externer Link: "Für Angst blieb keine Zeit".
Besetzung der Stasi-Bezirksverwaltung in Frankfurt (Oder) am 5.12.1989 durch Mitglieder der Bürgerbewegung Neues Forum und Vertreter des örtlichen Bürgerkomitees (© Hartmut Kelm)
Letztendlich ergab sich die Gesamtentwicklung aus einem Gemisch aus vielerlei Faktoren (und auch historischen Zufällen), die sich im entscheidenden Zeitfenster zwischen Anfang Oktober und Mitte November 1989 ergaben - also ein Externer Link: vielfältiges historisches Mosaik.
Abschließend eine Schlussreflexion des ehemaligen Bürgerrechtlers und späteren Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl 1994, dem Molekularbiologen Jens Reich, der darin auch einen Bogen in unsere Gegenwart schlägt: Externer Link: "Revolution ohne souveränen historischen Träger". Der Historiker Stefan Wolle baut diese Sicht im Rückblick noch einmal aus, indem er zusammenfasst, auf wie wenigen Schultern eigentlich die "Friedliche Revolution" in der DDR ihren Anfang nahm:
ERGÄNZENDES ZUM 9. NOVEMBER:
Vor einem Jahr: Berliner Hinweisplakat auf das Gedenken am 9. November 2023 in Berlin - 85 Jahre nach dem deutschlandweiten Pogrom der Nationalsozialisten gegen Jüdinnen und Juden am 9. November 1938 und in der Zeit danach. (© bpb / Holger Kulick)
Vor einem Jahr: Berliner Hinweisplakat auf das Gedenken am 9. November 2023 in Berlin - 85 Jahre nach dem deutschlandweiten Pogrom der Nationalsozialisten gegen Jüdinnen und Juden am 9. November 1938 und in der Zeit danach. (© bpb / Holger Kulick)
Vertiefend erörterten am 9.11.2022 im Schloss Bellevue mehrere Experten und Expertinnen auf Einladung des Bundespräsidenten die Fragestellung: "Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen". Eine Auswahl der Impulsvorträge auf Externer Link: www.bundespräsident.de ist unter
Zitierweise: Holger Kulick, „Die Wege zum 9. November 1989. Ein multimediales Mosaik der Redaktion Deutschlandarchiv über den Beginn der Friedlichen Revolution in der DDR vor 35 Jahren", in: Deutschland Archiv, 01.11.2024, Link: www.bpb.de/514057.
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