Über die Wurzeln der Reichsbürgerbewegung in Ost und West und die begonnenen Reichsbürger-Prozesse in Frankfurt/Main, Stuttgart und München. Ein Hintergrundbericht von Andreas Förster.
Der Umsturz scheiterte, noch bevor der erste Schuss gefallen war. Am 7. Dezember 2022 gingen rund 3.000 Sicherheitskräfte in einem der größten Anti-Terror-Einsätze in der Geschichte der Bundesrepublik gegen eine geheime Organisation aus der Reichsbürgerszene vor. Mehr als zwei Dutzend Frauen und Männer der Vereinigung, die sich „Patriotische Union“ nennt, wurden festgenommen. Darunter Heinrich XIII. Prinz Reuß, der sich Ermittlungen zufolge mithilfe von Getreuen an die Spitze einer neuen Regierung in Deutschland putschen wollte, sowie eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete und mehrere aktive und ehemalige Angehörige von Bundeswehr und Polizei. In gleich drei Prozessen müssen sich die ersten 27 der Verschwörer in diesen Wochen vor Gericht verantworten.
Einer der Schauplätze des Antiterroreinsatzes vor knapp anderthalb Jahren war das beschauliche Saaldorf, ein winziges Nest am oberen Ende der Bleilochtalsperre in Thüringen. Keine 300 Einwohner hat das Dorf, das 1689 erstmals urkundlich erwähnt wurde und seit Anfang der 1960er Jahre ein Ortsteil von Bad Lobenstein ist. Und doch sollte hier – davon ist die Bundesanwaltschaft überzeugt – die deutsche Geschichte umgeschrieben werden. Die Ermittler hatten das auf einem Hügel am Saaldorfer Ortsrand gelegene Jagdschloss Waidmannsheil als Kommandozentrale der „Patriotischen Union“ enttarnt, die die Bundesrepublik in einen autoritären Staat zurückputschen wollte.
Heinrich XIII. Prinz Reuß, dem der einstöckige, mit gerade einmal 20 mal 15 Meter Grundfläche eher als Schlösschen einzustufende Bau gehört, soll hier mit Dutzenden Getreuen den Umsturz geplant und tatkräftig vorbereitet haben. Der Straftatbestand des Hochverrats, auf den Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslänglich stehen, definiert Handlungen, die auf den gewaltsamen Umsturz im Innern gerichtet sind. Genau den sollen der Prinz und seine Spießgesellen nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft vorbereitet und organisiert haben.
Prozessbeginn am 21. Mai 2024
Seit dem 21. Mai steht der 72-Jährige mit einigen seiner engsten Mitverschwörer in Frankfurt am Main vor Gericht. Der Strafvorwurf wiegt schwer: Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens. Es ist ein Novum in der bundesdeutschen Justizgeschichte, denn der Vorwurf des Hochverrats wurde das letzte Mal 1954 verhandelt (und durch das Gericht abgewiesen), und zwar in einem Verfahren gegen eine damals der Nähe zum Kommunismus verdächtigten Organisation.
Heinrich XIII. Prinz Reuß – ein gelernter Ingenieur, der sein Geld als Immobilienhändler in Frankfurt am Main verdiente – gilt den Sicherheitsbehörden seit Jahren als Anhänger der Reichsbürgerbewegung. Schon 2019 war er mit einem Auftritt beim „Worldwebforum“ in Zürich aufgefallen, wo er behauptete, Deutschland sei kein souveräner Staat, sondern noch immer von den Alliierten verwaltet. Im Sommer 2021 tauchten in der Nähe des Reuß’schen Jagdschlosses in Saaldorf Flugblätter auf, auf denen zur „Eröffnung der Wahllisten der staatlichen Wahlkommission Reuß“ aufgerufen wurde. Nur wer die „Staatsangehörigkeit Reuß“ besitze, dürfe sich auf solchen Wahllisten registrieren lassen und einen Interrimsregenten wählen, einen sogenannten „Verweser“.
Ein Jahr später steckten erneut Flugblätter in vielen Saaldorfer und Lobensteiner Briefkästen. Auf ihnen wurden die „hochgeehrten Bürger“ gefragt: „Ist Ihnen bekannt, dass Sie tatsächlich keine Staatsangehörigkeit besitzen, also staatenlos sind und demzufolge keinerlei Rechte besitzen?“ Als namenlose Absender der Schreiben wurden „engagierte und ehrenwerte Bürger“ genannt, die „im Besitz der Staatsangehörigkeit der Bundesstaaten Fürstentümer Reuß“ seien, gemäß Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913.
Vorläufer seit 1985
Die Anmaßung des Prinzen und seiner Reichsbürgerclique, ein Fürstentum mit eigener Staatsangehörigkeit zu verwalten, erinnert an Wolfgang Gerhard Günter Ebel. Der 2014 im Alter von 76 Jahren gestorbene ehemalige Reichsbahn-Fahrdienstleiter der Westberliner S-Bahn gilt als eine Art Gründervater der Reichsbürgerbewegung. Am 12. September 1985 hatte sich Ebel in seinem Haus Königsweg 1 in Berlin-Zehlendorf zum „Generalbevollmächtigten des Deutschen Reiches“ erklärt, womit er angeblich gleichzeitig Reichskanzler und Reichspräsident in Personalunion geworden war.
Die von ihm selbst ausgestellte Ernennungsurkunde überreichte er am selben Tag dem Regierenden Bürgermeister von Westberlin. Am Briefkasten seines Zehlendorfer Hauses brachte er ein Schild mit der Aufschrift an: „Kommissarische Reichsregierung (KRR). Der Reichskanzler. Wolfgang Gerhard Günter Ebel“. Selbst der Anrufbeantworter wurde neu besprochen: „Büro der Kommissarischen Reichsregierung. Provisorischer Amtssitz des Reichskanzlers. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen, melden Sie sich bitte mit Namen, Dienststelle und Datum.“
Ebel machte mit seiner „Kommissarische Reichsregierung“ auch Geschäfte. So bot er gegen Geld Personalausweise, Reisepässe, Führerscheine und weitere Papiere seines „Deutschen Reiches“ an. Eine Staatsbürgerschaftsurkunde bekam man schon für umgerechnet 20 Euro, für Ausweis und Kfz-Kennzeichen verlangte er zuletzt 100 Euro. Außerdem betrieb er einen „Reichsgerichtshof“, der Haftstrafen und Todesurteile an Beamte und politische Gegner per Post zustellen ließ.
Im Jahr 2000 soll Ebel nach Recherchen der Tageszeitung taz rund 100 Anhänger gehabt haben. 2008 wurde er zwangsgeräumt, weil er sich seit Jahren geweigert hatte, Miete für sein Haus zu zahlen, das ihm nach seinem Verständnis schließlich als Dienstsitz unentgeltlich zustand. Einer Anklage entging er jedoch, weil ihn die Staatsanwaltschaft Mühlhausen für schuldunfähig hielt, da seine „Aktivitäten für die sogenannte Kommissarische Reichsregierung die Ausprägung einer geistigen Erkrankung“ seien.
Diesem ersten, damals noch von vielen als Spinner belächelten Reichsbürger Ebel sind inzwischen Tausende Nachahmer gefolgt, die nicht nur die Legitimität und Souveränität des bundesdeutschen Staates infrage stellen, sondern auch die politischen Repräsentanten der Bundesrepublik und ihre Rechtsordnung konsequent ablehnen. Sie zahlen keine Steuern oder Bußgelder, erkennen Gerichtsbeschlüsse nicht an und befolgen keine Verwaltungsentscheidungen. All das begründen sie damit, dass die Bundesrepublik Deutschland völker- und verfassungsrechtlich illegal und damit rechtlich nicht existent sei. Stattdessen bestehe ihrer Meinung nach das Deutsche Reich fort, entweder in den Grenzen des Deutschen Kaiserreichs oder in denen von 1937.
Antisemitismus, Monarchismus, Esoterik und völkisches Gedankengut
Bezeichnend für die Szene ist, dass sie organisatorisch und ideologisch sehr heterogen ist und vorrangig aus – oft miteinander konkurrierenden – Kleingruppen oder sogar nur Einzelpersonen besteht, deren weltanschauliche Quellen vom Monarchismus über den Antisemitismus bis hin zu Esoterik und völkischem Gedankengut reichen.
Neben den Reichsbürgern treten seit einigen Jahren sogenannte Selbstverwalter immer häufiger in Erscheinung. Sie werden inzwischen von den Sicherheitsbehörden ebenfalls der Reichsbürgerszene zugeordnet. Diese Selbstverwalter behaupten, durch einseitige Erklärungen aus der Bundesrepublik und ihrer Gesetzgebung austreten zu können. Anders als die Reichsbürger beziehen sie sich dabei allerdings nicht auf ein angeblich fortbestehendes Deutsches Reich.
Die Zahl der Reichsbürger und Selbstverwalter wird vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) inzwischen mit etwa 23.000 Personen angegeben (Stand 2022). Jeder zehnte von ihnen gilt als gewaltbereit. Noch im Herbst 2016 ging der Geheimdienst von rund 10.000 Reichsbürgern aus. Auch die Zahl der von Reichsbürgern begangenen Straftaten hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Wurden im Jahr 2021 noch 1011 Straftaten, darunter 184 Gewalttaten, registriert, lag deren Zahl ein Jahr später bei 1358 beziehungsweise 286. Zu den Gewalttaten gehörten vor allem Erpressungs- und Widerstandsdelikte. Aber auch versuchter Mord war dabei, so etwa bei der Razzia vom 7. Dezember 2022, als einer der mutmaßlichen Mitverschwörer von der „Patriotischen Front“ das Feuer auf Polizisten eröffnete und einen Beamten schwer verletzte. Zu Gewaltaten gegen Polizisten als Vertreter des verabscheuten demokratischen Rechtsstaats kam es aber schon in den Jahren zuvor.
Eine westdeutsche Erfindung
Originär ist die in den 1980er Jahren sich herausbildende Reichsbürgerideologie eine westdeutsche Erfindung. In den rechtsextremistischen Kreisen der DDR gab es seinerzeit weniger eine Sehnsucht nach dem Deutschen Kaiserreich als nach dem Dritten Reich. Auch eine – durchaus über die Neonaziszene hinaus verbreitete – Ablehnung des DDR-Staates begründete sich vordergründig aus der politischen Unfreiheit und nicht aus völkerrechtlichen Zweifeln an der Legitimität der beiden deutschen Staaten. Daher verwundert es auch nicht, dass die meisten Reichsbürger nach wie vor im süddeutschen Raum anzutreffen sind, insbesondere in Baden-Württemberg und Bayern; gleichwohl verzeichnen die Sicherheitsbehörden inzwischen in ganz Deutschland Akteure der Reichsbürgerbewegung. Der Frauenanteil in dieser Szene liegt übrigens bei 33 Prozent und damit deutlich höher als im übrigen rechtsextremistischen Spektrum.
Die stark angestiegene Zahl der Reichsbürger und Selbstverwalter wird zum einen auf ein verbessertes Informationsaufkommen der Behörden zurückgeführt; zum anderen aber registriert das BfV auch ein deutliches Anwachsen der Szene durch „die Proteste gegen die staatlichen Coronaschutzmaßnahmen sowie als Reaktion auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine und dessen wirtschaftliche beziehungsweise politische Folgewirkungen“. Zudem seien „Vernetzungs- und Vermischungstendenzen“ mit anderen rechtsextremen Akteuren erkennbar. Verbindendes Element seien dabei Verschwörungsideologien sowie Protestaktionen und gemeinsame Telegram-Gruppen.
Auch Johannes Kieß, der an der Universität Leipzig zu Extremismus forscht, beobachtet ein Zusammenwachsen verschiedener milieuübergreifender Strömungen, bestehend etwa aus alten Neonazis, Rechtsextremisten, Coronamaßnahmen-Gegnern oder Esoterikern. Zu diesen würden nun auch die vor den Corona-Demos eher verstreut lebenden kleineren Gruppen von Reichsbürgern stoßen. Aus seiner Sicht bestehe nun die Gefahr, dass diese Gruppen sich durch ihre Vernetzung „handlungsfähig“ fühlen. „Wir werden sicherlich in den nächsten ein, zwei Jahren noch weitere solche Gruppen sehen, weil eben diese Radikalisierung in diesen Gruppen so weit fortgeschritten ist und die Leute tatsächlich gewaltbereit sind und zur Tat schreiten wollen, also das Widerstandsnarrativ tatsächlich auch in die Tat umsetzen wollen“, fürchtet Johannes Kieß.
"Eine neue gewaltorientierte Mischszene"
Die von dem Reichsbürger Heinrich XIII. Prinz Reuß angeführte Verschwörergruppe der „Patriotischen Union“ ist denn auch keine reine Reichsbürger-Organisation. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht in dem Netzwerk des Prinzen vielmehr ein „Musterbeispiel für die Herausbildung einer neuen gewaltorientierten Mischszene“. Dabei nähmen Verschwörungsmythen eine Scharnierfunktion ein. „Vor allem die Propaganda von einem bevorstehenden ‚Tag X‘" könne in solch heimlich agierenden Gruppen „einen erheblichen Handlungsdruck erzeugen und letztlich Auslöser schwerer Gewalttaten sein.“
Tatsächlich folgten die Angehörigen der „Patriotischen Union“ laut Anklage „einem Konglomerat aus Verschwörungsmythen, bestehend aus Narrativen der sogenannten Reichsbürger- und Selbstverwalterszene sowie der [aus den Vereinigten Staaten stammenden, über Telegramm-Kanäle aber auch in Deutschland verbreiteten] QAnon-Ideologie“. Sie seien fest davon überzeugt, dass Deutschland von Akteuren eines „Deep State“ regiert werde. Befreiung davon würde allein die sogenannte Allianz versprechen, ein aus Sicht der Verschwörer technisch überlegener Geheimbund von Regierungen, Nachrichtendiensten und Militärs verschiedener Staaten einschließlich der Russischen Föderation sowie der Vereinigten Staaten von Amerika.
Dieser ominöse (tatsächlich aber nicht existierende) Geheimbund werde in Deutschland einschreiten, da waren sich die Verschwörer von der „Patriotischen Union“ sicher. Dann wäre auch ihre Stunde gekommen, um mit der „Allianz” Seite an Seite zu kämpfen. Der Plan sah laut Anklage vor, dass die „Allianz“ ein Zeichen für den Eintritt des sogenannten „Tag X“ geben werde, an dem dann auch die Heimatschutzkompanien des Prinzen losschlagen müssten. Während die „Allianz” einen ersten Angriff auf die obersten staatlichen Institutionen ausführen würde, sollte die Reuß-Truppe anschließend in Eigeninitiative die verbliebenen Institutionen und Amtsträger auf Landes-, Kreis- und kommunaler Ebene übernehmen. So lautete der Anklageschrift zufolge der Umsturzplan der Verschwörer, wie er auf dem kleinen Jagdschloss des Prinzen in Thüringen besprochen worden sein soll.
Ihnen auf die Spur gekommen war das hessische Landesamt für Verfassungsschutz, das den als Rädelsführer eingestuften Reuß wegen dessen Reichsbürgernähe schon länger im Visier hatte. Dabei fiel auf, dass der Prinz in weitverzweigten Chatgruppen mit Gleichgesinnten – darunter eine große Zahl ehemaliger Bundeswehrangehöriger – über die Vorbereitung konkreter militanter Aktionen und die Beschaffung von Waffen beriet.
Die Verschwörer wollten den Ermittlungen zufolge an jenem „Tag X“ bewaffnet den Bundestag stürmen und ausgewählte Abgeordnete festnehmen. Die Umstürzler in den Reichstag einschleusen sollte offenbar die frühere AfD-Abgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, die von 2017 bis 2021 im Bundestag saß und wohl noch über eine Zugangsberechtigung zum Haus verfügte. Die ehemalige Richterin aus Berlin hätte dann auch als Justizministerin einer neuen Regierung unter Führung von Prinz Reuß angehört, die am Ende des Putsches die Macht in Deutschland übernehmen sollte. Zu diesem Zweck waren bereits mehrere sogenannte Feindeslisten erstellt worden. Dabei sei den Mitgliedern der Organisation „bewusst (gewesen), dass die geplante Machtübernahme mit der Tötung von Menschen verbunden wäre“, so die Ankläger.
Drähte nach Russland
Die Vorbereitungen für den Umsturz sollen bereits sehr konkret gewesen sein, als die Sicherheitsbehörden einschritten. Laut Anklage habe innerhalb der Organisation ein zentrales Gremium agiert, der sogenannte Rat, eine Art Schattenkabinett, der sich aus verschiedenen Ressorts wie Militär, Inneres, Gesundheit, Äußeres und Justiz zusammensetzte. Dieser „Rat“ sollte nach dem Putsch als Übergangsregierung fungieren und – dem klassischen Reichsbürgernarrativ entsprechend – die neue staatliche Ordnung in Deutschland mit den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs verhandeln. Als zentralen Ansprechpartner dafür hatte die Geheimorganisation die Russische Föderation auserkoren.
Als Verhandlungsführer war dabei Prinz Reuß vorgesehen, der „ein geeigneter Kandidat für den Thron des Deutschen Reiches“ sei, „da er ‚Romanow-Blut‘ hat, also mit der russischen Zarenfamilie verwandt“ sei. So hat es jedenfalls einer der Mitbeschuldigten im Verfahren, der einschlägig bekannte Reichsbürger Matthes Haug, auf einem Vortragsabend im Dezember 2022 behauptet.
Tatsächlich gibt es auffällige Verbindungen von Prinz Reuß zu russischen Amtsträgern. So soll er 2020 im Generalkonsulat in Leipzig an der dortigen Feier zum russischen Nationalfeiertag teilgenommen haben. Vermittelt übrigens von seiner Lebensgefährtin, der 43-jährigen Russin Vitalia B., die in der Untersuchungshaft behauptet haben soll, ihr richtiger Name laute Maria Romanow.
Geplante "Heimatschutzkompanien"
Nach Erkenntnissen der Ermittler trafen sich die Ratsmitglieder seit Februar 2022 regelmäßig zu Sitzungen, um das weitere Vorgehen zu planen. Zuletzt habe die „Patriotische Union“ über Finanzmittel in Höhe von 500.000 Euro verfügt. Ort der Treffen der Anführer war meistens das Jagdschloss Waidmannsheil in Saaldorf. Aber auch in einem Wirtshaus im nahen Bad Lobenstein steckten die Verschwörer ihre Köpfe zusammen. Manchmal hätten der Prinz und eine Gruppe von zehn, fünfzehn anderen Personen bei Bier und Schnaps am Tisch vor seiner Theke gesessen, erinnert sich der Wirt des Gasthauses. Wer die anderen waren, wisse er nicht. Von einem Putsch will er nichts gehört haben, aber Andeutungen habe es gegeben, erzählte er einem Zeitungsreporter. „Seit 'nem Vierteljahr haben sie immer gesagt, wir sollen ruhig bleiben: Es ändert sich was, es wird alles wieder gut werden. Mir ist sogar einmal gesagt worden, dass der Reuß in der Lage ist, Deutschland zu führen.“
Angegliedert an den „Rat“ war der sogenannte militärische Arm der „Patriotischen Union“. Diesem Teil der Vereinigung oblag es, die geplante Machtübernahme mit Waffengewalt durchzusetzen. Dazu sollten laut Anklage vor allem aktive und ehemalige Bundeswehroffiziere – darunter Angehörige des vor einigen Jahren wegen rechter Umtriebe in Verruf geratenen Kommandos Spezialkräfte (KSK) – den Aufbau von knapp 300 sogenannten Heimatschutzkompanien mit jeweils 250 bis 300 Mann vorbereiten und Waffen beschaffen.
Die Kommandogewalt hatte hier ein Führungsstab, der sich unter anderem mit der Rekrutierung neuer Mitglieder, der Beschaffung von Waffen und anderen Ausrüstungsgegenständen, dem Aufbau einer abhörsicheren Kommunikations- und IT-Struktur sowie Plänen für die künftige Unterbringung und Verpflegung der Heimatschutzkompanien befassen sollte. Tatsächlich wurden bei Mitgliedern dieses Führungsstabes Konzepte und Organigramme für die geplanten paramilitärischen Einheiten sichergestellt. Bis zu ihrer Festnahme hatten die Männer zudem versucht, unter aktiven und ehemaligen Soldaten und Polizisten Mitstreiter für ihre Heimatschutzkompanien zu rekrutieren. In der „Kommandozentrale“ im Hause eines der Angeklagten fanden Ermittler Entwürfe für Dienstausweise und diverse Stempel, etwa „Deutsche Armee – Oberbefehlshaber“, aber auch mit Reichsflagge versehene Nummernschilder. Von größerer Brisanz aber waren die Waffen- und Ausrüstungsfunde: rund 380 Schusswaffen, beinahe 350 Hieb- und Stichwaffen sowie ballistische Helme, schusssichere Westen, Nachtsichtgeräte und Handfesseln.
Offene Fragen
Seit April nun müssen sich bereits neun Führungskräfte des sogenannten militärischen Arms der „Patriotischen Union“ vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim verantworten. In Frankfurt am Main steht jetzt die neunköpfige Führungsclique vor Gericht, darunter Prinz Reuß und die Ex-AfD-Politikerin Malsack-Winkemann. Mitangeklagt, wenn auch nur der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung beschuldigt, ist die russische Lebensgefährtin des Prinzen, Vitalia B. Im Juni folgt schließlich der dritte Prozess gegen acht weitere Mitverschwörer vor dem Münchner Oberlandesgericht. Gegen Dutzende weitere Verschwörer laufen noch Ermittlungsverfahren, die in weitere Anklagen münden könnten.
Die vorerst bis weit ins Jahr 2025 terminierten Prozesse dürften das wohl größte Staatsschutzverfahren in der bundesdeutschen Geschichte werden. Allein 425.000 Seiten Ermittlungsakten liegen den Gerichten an den drei Prozessorten vor. Und auch die Prozessführung dürfte die Gerichte vor besondere Herausforderungen stellen. So müssen die meisten Zeugen und Ermittler sowohl in Stuttgart als auch in Frankfurt und in München aussagen, ebenso wie jene Angeklagten, die vor der Polizei die Aussage nicht verweigert und sich zur Sache eingelassen haben – was wiederum die Verteidiger auf den Plan rufen dürfte, die natürlich wissen wollen, was ein Angeklagter dort gegen ihre Mandanten hier ausgesagt hat. Das dürfte dazu führen, dass ein Vertreter der Bundesanwaltschaft zwischen Stuttgart, Frankfurt und München pendeln und als Zeuge die neuesten Erkenntnisse den jeweils anderen Gerichten vortragen muss.
Längst noch nicht klar ist, wie konkret die Planungen der Verschwörer und wie weit die Vorbereitungen für die „Tag X“ schon gediehen waren. Das werden die drei Prozesse und die noch anhaltenden Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen mehr als 40 weitere Beschuldigte zutage fördern.
Beunruhigend aber ist schon jetzt die soziale Zusammensetzung der „Patriotischen Union“: Ein Prinz mit guten Beziehungen zu anderen Adligen, eine ehemalige Richterin und Bundestagsabgeordnete mit andauernden Verbindungen in AfD-Kreise, ehemalige und aktive Soldaten und Offiziere mit Ansprechpartnern in der Truppe, Polizisten, Ärzte… Das macht deutlich, dass es sich bei den selbsternannten Putschisten nicht um dumpfe Neonazis aus prekären sozialen Verhältnissen handelt, sondern um klassische Vertreter eines reaktionären und eher arrivierten Bürgertums. Jenes Milieus also, das inzwischen auch zum Mobilisierungspotenzial demokratiefeindlich eingestellter Rechtspopulisten gehört.
Zitierweise: Andreas Förster, "Deutsche Putschisten", in: Deutschland Archiv, 21.05.2024, Link: www.bpb.de/548661. Alle Beiträge auf www.deutschlandarchiv.de sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
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Jahrgang 1958, ist freier Journalist und Buchautor in Berlin. Er schreibt vor allem über DDR-Aufarbeitung, Terrorismus und politischen Extremismus, Geheimdienste, Zeitgeschichte und Organisierte Kriminalität, vornehmlich für die Berliner Zeitung.