Thüringen als Muster-Gau?
Rechtsextremismus-Traditionen im Thüringer Raum
Martin Debes
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Schon bei der Europawahl am 9. Juni 2024 hatte im Osten Deutschlands die AfD als stärkste Partei abgeschnitten, in Thüringen beispielsweise mit 30,7 Prozent. Bei den Landtagswahlen am 1. September 2024 steigerte sie dieses Ergebnis noch um zwei weitere Prozent auf 32,8. Einen solchen Boom für eine Rechtsaußenpartei erlebte während der Weimarer Republik bereits das Lager der NSDAP in Thüringen, daran erinnert der Jenaer Journalist Martin Debes in einem neuen Buch. Hitler sah Thüringen als Mustergau. Eifern dem heute Rechtsextreme nach?
Weimar – Gründung und Untergang einer Republik
[...] Nach der deutschen Kapitulation im Ersten Weltkrieg schwappt im November 1918 die Revolution aus dem Norden nach Thüringen. Die Herzöge und Fürsten danken ab, ihre in Jahrhunderten entstandenen Residenzen vergehen. Aus Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen- Meiningen, Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg- Sondershausen sowie den Fürstentümern Reuß älterer und jüngerer Linie entstehen republikanische Freistaaten. Die meisten streben einen Zusammenschluss zum Land namens Thüringen an, aber eben nicht alle: So entscheiden sich die Bürger Sachsen-Coburgs per Volksabstimmung zum Anschluss an Bayern. Deutlich schmerzhafter aber ist: Preußen gibt seine thüringischen Gebiete einschließlich der einzigen Großstadt Erfurt nicht her. Fast nebenbei wird das sich bildende Thüringen neuerlich zum nationalen Hochsitz. Da die Lage in Berlin zu unruhig ist, tagt ab Februar 1919 die Nationalversammlung der ersten deutschen Republik im militärisch abgeriegelten Weimar. Debattiert wird im Neubau des Theaters, vor dem auf steinernem Podest Goethe und Schiller stehen. Die Reichsregierung residiert im Schloss, in dem noch Monate zuvor der Großherzog regierte.
Die Stadt ist nicht zufällig ausgewählt. Der »Geist von Weimar«, sagt der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert, soll die Abgeordneten inspirieren: Aus Weimar ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Tempelort der Klassik geworden, mit Goethehaus und Schillerhaus, mit den Schlössern Belvedere, Tiefurt oder Ettersburg, mit Parkanlagen und Orangerie, mit Wittumspalais und Anna-Amalia-Bibliothek.
Aber es regt sich auch Neues. Aus der von Henry van de Velde geleiteten Hochschule für Bildende Kunst und den Resten der Kunstgewerbeschule gründet sich das »Staatliche Bauhaus«. Direktor wird Walter Gropius. Sein Ziel ist es, Kunst und Handwerk zusammenzuführen, um neue Architektur- und Designformen zu entwickeln. Es lehren, unter anderem, Lyonel Feininger, Gerhard Marcks, Oskar Schlemmer, Paul Klee und Wassily Kandinsky.
Die erste demokratische Verfassung Deutschlands, die nach viermonatigen Beratungen von der Nationalversammlung in Weimar verabschiedet wird, verankert die Freiheit der Person, die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Und sie garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis und die Freizügigkeit. Die Nationalversammlung wählt Ebert zum Reichspräsidenten. Er unterzeichnet die Verfassung während seiner Sommerfrische auf Schloss Schwarzburg nahe Saalfeld. Gut 100 Jahre, nachdem Urburschen ihre Fahne durch Jena trugen, heißt es darin: »Die Reichsfarben sind Schwarz-Rot-Gold.«
Während sich eine deutsche Republik in Thüringen konstituiert, existieren in Thüringen selbst immer noch die nunmehr freistaatlich- republikanischen Kleinstaaten, die vorerst per Staatsvertrag eine Gemeinschaft mit einem Staatsrat und einem Volksrat bilden. Im Mai 1920 tritt schließlich das für den Zusammenschluss nötige Reichsgesetz in Kraft: das Land Thüringen ist nun aus sieben Kleinstaaten gegründet, allerdings nur als eine Art Light-Variante. Erfurt, die Gebiete um Suhl, Schleusingen und Schmalkalden und das Eichsfeld bleiben preußisch. Coburg hat sich unterdes Bayern angeschlossen. Doch auch dieses Kleinthüringen stellt die größte deutsche Territorialreform seit einem halben Jahrhundert dar. Die sozialdemokratischen und liberalen Landesgründer sprechen von einem »demokratischen Einheitsstaat«, der »im Herzen des Reiches« erstmals »zur Tat« gereift sei. Der Jenaer Historiker Jürgen John deutet das neu konstituierte Thüringen in seinem 2009 erschienenen gleichnamigen Aufsatz als »Land im Aufbruch«, als Gründungsort der deutschen Republik, des Bauhauses und eines selbstbewussten Staates. Und er warnt davor, »Weimar« als zum Scheitern verurteilte Totgeburt zu betrachten, als permanentes Krisengebilde, als »Republik auf Zeit«, wie der marxistische Historiker Wolfgang Ruge schrieb, und damit als bloße Ouvertüre der NS-Diktatur: Wer »Weimar« allein als Symbol »deutscher Misere« und Irrwege sehe, folge einer einseitigen und damit falschen Negativsicht.
Das Scheitern der Demokraten
Sowieso sind die thüringischen Ereignisse in den Kontext der gesamtdeutschen Umbrüche einzuordnen. Die Kämpfe während des rechtsradikalen Kapp-Lüttwitz-Putsches im März 1920 wirken in der Provinz von Eisenach bis Altenburg ebenso nach wie wenig später die rechtsextremistischen Morde an Matthias Erzberger und Walter Rathenau, die Besetzung des Ruhrgebietes, der Streit um die Reparationen, die Hyperinflation oder der Putschversuch Hitlers.
In der unruhigen Weimarer Republik scheint Thüringen viele Entwicklungen vorwegzunehmen. Im Juni 1920 gewinnt die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) die Landtagswahl, gefolgt vom rechtskonservativen Thüringer Landbund, der SPD und der Deutschen Volkspartei (DVP). Die Regierungsbildung misslingt. Im Landtag lässt sich keine Mehrheit bilden, vier Kabinettsvorschläge fallen nacheinander durch. Erst im November kommt es zu einer Minderheitsregierung von SPD und Deutscher Demokratischer Partei (DDP) unter Tolerierung der USPD. Nur weil sich die KPD-Abgeordneten, die teilweise übergetretene USDP-Mitglieder sind, bei der Wahl des Kabinetts unter dem leitenden Staatsminister Arnold Paulssen (DDP) enthalten, reichen am Ende die Stimmen.
Die fragile Regierung hält nicht einmal ein Jahr. Es folgt eine SPD-Minderheitsregierung unter Tolerierung der Kommunisten, bis schließlich 1923 die SPD mit der KPD, wie im benachbarten Sachsen, eine gemeinsame Regierung der »Einheitsfront« bildet. Damit entsteht die von der Rechten verbreitete Legende vom »roten Thüringen« – die 90 Jahre später mit der Wahl des Linke-Ministerpräsidenten Ramelow gezielt reanimiert wird.
Parallel zu den Vorgängen in Mitteldeutschland sieht sich die Reichsregierung mit einem kommunistischen Aufstand unter Ernst Thälmann in Hamburg und dem dräuenden rechtsextremistischen Putsch unter Adolf Hitler in München konfrontiert. Ebert erlässt – wie in Sachsen – den sogenannten Reichszwang für Thüringen. Anfang November besetzen Reichswehreinheiten die beiden Länder, wenig später fliehen die kommunistischen Minister. Die Weimarer Rumpfregierung lässt sich unter die Kuratel Berlins stellen, um eine förmliche Reichsexekution wie in Dresden zu vermeiden.
"Links abwählen"
DVP, DDP und Reichslandbund reagieren auf die politische Krise mit einer Allianz: dem Thüringer Ordnungsbund. Die Parole lautet: »Links abwählen«. Das Bündnis gewinnt bei den Landtagswahlen im Februar 1924 – wahlberechtigt sind knapp eine Million Menschen – 35 der 72 Sitze. Damit fehlen nur zwei Stimmen zur absoluten Mehrheit. Nach einigem Hin und Her schließt der Ordnungsbund einen Pakt mit der Vereinigten völkischen Liste, einer Tarnorganisation der nach dem gescheiterten Putschversuch verbotenen NSDAP.
Der Vorsitzende der Nazi-Organisation heißt Artur Dinter. Der bekennende Antisemit hatte 1920 das vielverkaufte Buch »Die Sünde wider das Blut« veröffentlicht. Sein Preis für die Tolerierung des konservativen Ordnungsbunds lautet: Die Landesregierung dürfe »nur aus deutschblütigen, nichtmarxistischen Männern« bestehen.
Und nicht nur diese Forderung wird erfüllt. Auch der jüdische Staatsbankpräsident muss nebst mehreren Staatsanwälten und Beamten gehen. Das Bauhaus, das erst im Jahr zuvor das Musterhaus »Am Horn« eröffnet und eine große Ausstellung organisiert hat, wird schrittweise aus Weimar ins Exil nach Dessau vertrieben. Und das Redeverbot für Hitler, der noch in Festungshaft in Landsberg sitzt, hebt die Landesregierung auch schon mal prophylaktisch auf.
Thüringen wird zum Machtlabor der Nazis
Als das erste Land im Reich, das Nationalsozialisten an der Macht beteiligt, wird Thüringen zu einem ihrer Horte. Im August 1924, die NSDAP ist noch verboten, findet eine Tagung der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands statt. Dort droht Dinter den Mitgliedern der Reichsregierung mit dem Galgen. Nach den rechtsterroristischen Morden an Erzberger und Rathenau sowie dem Attentat auf den Reichsministerpräsidenten Philipp Scheidemann ist diese Aussage erst recht ein Aufruf zur Gewalt.
Im Juli 1926 findet in Weimar der erste Reichsparteitag der NSDAP nach der Aufhebung ihres Verbots statt. Mehr als 7.000 Mitglieder reisen an. Hitler, dem fast überall in Deutschland öffentliche Reden untersagt sind, hält mehrere Ansprachen. Die Partei tagt im Theater, das seit der Verabschiedung der Reichsverfassung Deutsches Nationaltheater heißt. Dinter, inzwischen Leiter des NSDAP-Gaus Thüringen, beschwört zum »Generalappell« von SA und SS »den Beginn einer neuen Zeit«. Er ruft: »An der Stelle, wo Ebert saß, sitzt und steht heute Adolf Hitler!«
In seinem Tagebuch verdoppelt Joseph Goebbels die Teilnehmerzahlen: »Unter endlosem Jubel der dichtgestauten Menschenmassen. Der Zug kommt. Mit an der Spitze. Die ganze Führerschaft, Hitler als erster, marschiert vorne. Durch ganz Weimar. Auf dem Marktplatz, fünfzehntausend SA marschieren an uns vorbei. Das Dritte Reich zieht auf.«
"Zum Putsch sind wir geboren"
In Weimar führt die NSDAP ihren gewalttätigen Extremismus vor. Passanten, die kein Hakenkreuz tragen, werden von SA-Leuten verprügelt, während sie Lieder mit Zeilen wie »Wir scheißen auf die Freiheit der Judenrepublik« oder »Zum Putsch, zum Putsch sind wir geboren« grölen. »Die Straßen wimmelten von Hakenkreuzlern in grauen Joppen und grauen Stürmern mit Hakenkreuz und Stahlhelm-Abzeichen«, schreibt der Schriftsteller Harry Graf Kessler.
Es handele sich um »eine öffentliche Verschwörung zum Zwecke eines Staatsstreichs«. Auf dem Parteitag übergibt Hitler dem Reichsführer SS die »Blutfahne des 9. 11. 1923«. Die neuen Standarten- und Fahnenträger stellen sich auf die Bühne und schwören: »Dir, unserem Führer Adolf Hitler, bis zum letzten Tropfen Blut bei meiner Fahne auszuharren.« Auch die Hitler-Jugend gründet sich in Weimar. Doch vorerst bleibt der NSDAP der ganz große Erfolg verwehrt.
Die Folgen der Niederlage im Ersten Weltkrieg scheinen halbwegs überwunden. Die Hyperinflation hat ihr Ende gefunden, das Ruhrgebiet ist nicht mehr besetzt, auch die Reparationszahlungen sinken. Die soziale und wirtschaftliche Lage entspannt sich, die junge Demokratie wirkt erstmals fast stabil.
Doch 1929 beginnt die Weltwirtschaftskrise, und die Unsicherheit ist wieder da. Als im Dezember der Thüringer Landtag gewählt wird, erhält die Hitler-Partei unter ihrem neuen Gauleiter Fritz Sauckel 11,3 Prozent. Als Juniorpartner des Thüringer Landbundes gelangt sie in eine Regierung. »Mit Rebellen verhandelt man nicht, man bekämpft sie!«, ruft der SPD-Abgeordnete Hermann Brill im Landtag – doch vergebens.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Hitler auf Fundamentalopposition gesetzt. Jetzt reist er eigens zu den Koalitionsverhandlungen nach Weimar. Er setzt durch, dass der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Frick, der nach dem Münchner Putsch wegen Hochverrats verurteilt wurde, zum Innen- und Volksbildungsminister ernannte wird. »Versöhnung gibt es für uns nicht! Es gibt nur eins – Rettung unseres Volkes – und wenn es sein muss durch die Erledigung unserer Gegner!«, zitiert der Völkische Beobachter die Ansage Hitlers.
„Auf ehrliche Zusammenarbeit gehofft“
Doch die Bürgerlichen wollen die Drohung offenkundig nicht wahrhaben. Der vormalige thüringische Innen- und Justizminister Karl Riedel, der Frick weichen musste, schreibt später in seinen Memoiren, dass er trotz des ärgerlichen Totalitätsanspruchs der NSDAP »auf ehrliche Zusammenarbeit« gehofft habe. Ihm sei es darum gegangen, die Partei Hitlers »zur verantwortlichen Mitarbeit« zu gewinnen und ihr »Gelegenheit zur positiven Arbeit« zu geben. Sauckel ist stolz auf Thüringen. Der gelernte Schlosser aus Franken hat sich nach seinem gescheiterten Technikerstudium in Ilmenau vom Ortsgruppenleiter über die Gaugeschäftsführung nach oben gearbeitet. Nun will er dafür sorgen, dass das rote Thüringen ein brauner »Trutzgau« wird: Dafür habe sich der Nationalsozialismus die »erste staatliche Position buchstäblich erkämpft«.
"Rassenkunde" an der Uni Jena
Thüringen wird zum Machtlabor der Nazis. Frick beginnt mit der Gleichschaltung, Ende März 1930 wird ein Ermächtigungsgesetz erlassen. Bald sind viele Kommunisten und Sozialdemokraten aus Ämtern oder dem Schuldienst entfernt. Linke Zeitungen werden verboten. In den Schulen sind die »Deutschen Schulgebete« Pflicht. An der Universität Jena wird das Fach »Rassenkunde« eingeführt. Für die Antrittsvorlesung von Hans F. K. Günther unter dem Titel »Die Ursachen des Rassenverfalls des deutschen Volkes seit der Völkerwanderungszeit« reisen eigens Hitler und Hermann Göring an.
Die kulturelle Hegemonie wird brutal okkupiert. Neuer Direktor der Weimarer Kunstlehranstalten ist Paul Schultze-Naumburg, der für eine rassegebundene »Deutsche Kunst« steht. Er lässt »undeutsche« oder »entartete« Kunst von Kokoschka, Feininger, Nolde, Lehmbruck, Klee oder Barlach aus dem Schlossmuseum und anderen Ausstellungen verbannen. Das Ziel Fricks: Die »Verseuchung des deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur, wo nötig mit polizeilichen Mitteln abzuwehren«, um einzig »… deutsche Kunst, deutsche Kultur und deutsches Volkstum zu erhalten, zu fördern und zu stärken«.
Sozialdemokraten und Kommunisten leisten Widerstand. Sie liefern sich mit den Nazis Saalschlachten. Die Gewalt fordert Menschenleben. Nach knapp 15 Monaten NS-Furor wird es auch den Bürgerlichen zu viel. Im April 1931 bekommt ein Misstrauensantrag der SPD gegen Frick die Mehrheit im Landtag und der Landbund kündigt die Koalition mit der NSDAP auf.
Hitler ist empört. Er reist nach Weimar und spricht gleich auf mehreren Protestkundgebungen. Fortan ist er noch häufiger im Land unterwegs, auf dem Gauparteitag in Gera, bei Versammlungen in Altenburg und Apolda oder bei der Einweihung eines SA-Heims in Paulinzella. Thüringen bleibt sein Mustergau – und Weimar eine Art Zweitwohnsitz.
Hitlers Mustergau
Seit seinem ersten Besuch im März 1925 ist Hitler regelmäßig in Weimar. Das Hotel Elephant am Markt wird zu seinem Hauptquartier. Dank der Freundschaft mit dem Besitzer führt er hier ungestört Strategiegespräche, die er in Anlehnung an Herzogin Anna Amalia »Tafelrunden« nennt. Doch während die Fürstinmutter Dichter, Komponisten und Philosophen versammelte, treffen sich im Elephant künftige Massenmörder.
Hitler fühlt sich gut aufgenommen in Weimar; die Wahlergebnisse seiner Partei sind hier überdurchschnittlich. Zwischenzeitlich überlegt er sogar, die Parteizentrale von München nach Thüringen zu verlegen. Er vergleicht die Stadt mit dem österreichischen Linz, wo er seine Jugend verbrachte. »Ich liebe nun einmal Weimar«, sagt er. Dass Friedrich Nietzsche seine drei letzten, geistig umnachteten Lebensjahre in Weimar verbrachte, ist für Hitler eine besondere Fügung. Die Schwester des Philosophen, Elisabeth Förster, ist die Witwe des Antisemiten Bernhard Förster und betreut im völkischen Sinne das Nietzsche-Archiv.
Auch sonst versuchen die Nationalsozialisten, das nationale Kulturerbe zu vereinnahmen. Zum 100. Todestag Goethes im März 1932 weist Gauleiter Sauckel an, »dass das Parteiabzeichen regelmäßig getragen wird, damit die zu der Goethewoche ankommenden Juden und Judengenossen den richtigen Geschmack von Weimar bekommen«. Thomas Mann, der auf der offiziellen Veranstaltung des Landes die Festrede hält, zeigt sich danach »eigenartig berührt«. Weimar sei »eine Zentrale des Hitlerismus«, schreibt er:
»Überall konnte man das Bild von Hitler und so weiter in nationalsozialistischen Zeitungen ausgestellt sehen. Der Typus des jungen Menschen, der unbestimmt entschlossen durch die Straßen schritt und sich mit dem römischen Gruß begrüßte, beherrschte die Stadt.«
Zitat
Im Juli 1932 gewinnt die NSDAP die Thüringer Landtagswahl mit 42,5 Prozent. Sie liegt damit gut fünf Prozentpunkte über dem Ergebnis, das die Partei bei den gleichzeitig stattfindenden Reichstagswahlen erzielt. Die Folge ist eine der ersten von der NSDAP geführten Landesregierungen.
Vorsitzender des Staatsministeriums – und damit Regierungschef – wird Gauleiter Sauckel. Er führt fort, was der erste NS-Innenminister Frick begann und weist an, den Verwaltungsapparat endgültig von allen Sozialdemokraten, Kommunisten sowie Juden zu säubern. Gleichzeitig ruft er zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. Thüringen steht an der Spitze der Bewegung. Das Land ist, um die Worte eines späteren AfD-Landesvorsitzenden zu paraphrasieren, eine braune Hochburg. Weimar ist der Vorbote dessen, was bald darauf in Berlin geschieht.
Am 30. Januar 1933 ernennt Präsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Die Nationalsozialisten ergreifen dankbar die ihnen freiwillig überlassene Macht. Wilhelm Frick steigt zum Reichsminister des Innern auf. Die von den Nazis begonnene »nationale Revolution« zerstört das von ihnen gehasste »Weimarer System«. Und wieder marschieren die Thüringer Parteigenossen voran. Die Oppositionsparteien werden schneller verboten, die Enteignungen jüdischer Industrieller beginnen früher. Im März 1933 entsteht am Flugplatz Nohra das erste Konzentrationslager.
Sauckel wird Reichsstatthalter des »Gau Thüringen«. Seine Herrschaft umfasst damit auch die preußischen Landesteile einschließlich der größten Stadt Erfurt. Hauptstadt bleibt aber Weimar, wo Sauckel als Regierungsgebäude das monumentale Gau-Forum errichten lässt. Das Hotel Elephant wird abgerissen und mit reichlich Marmor neu gebaut. Neben der »Führersuite« mit Zimmernummer 100 besitzt der neue Elephant einen »Führerbalkon« zur Marktseite. Darunter steht die städtische Jugend und singt: »Lieber Führer sei so nett, tritt zu uns ans Fensterbrett«.
In dieser Zeit entsteht das Janusgesicht Weimars. Während man in der Stadt die »Wochen des deutschen Buchs« und die »Großdeutschen Dichtertage« feiert, wird auf dem Ettersberg das Konzentrationslager Buchenwald errichtet. Das Schloss Ettersburg, in dem sich Dichter und Denker mit dem Herzog zum Tee trafen, liegt ganz nah. Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth schreibt wenig später: »Als man in Buchenwald, will sagen: in Ettersberg, den Wald zu roden begann, um dort für die Bewohner des Konzentrationslagers eine Küche südlich, eine Wäscherei nördlich einzurichten, ließ man allein die Eiche stehn; die Eiche Goethes, die Eiche der Frau von Stein. Die Symbolik ist niemals so billig gewesen wie heutzutage.«
Thüringen steht an der Spitze der Bewegung. Schon bevor am 9. November 1938 die Synagogen brennen, melden Städte wie Vacha in der Rhön, dass sie »judenfrei« sind. Zum Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 wird Sauckel Reichsverteidigungskommissar des Wehrkreises IX und später Generalbeauftragter für den Arbeitseinsatz. Damit organisiert er die Ausbeutung und Ermordung Hunderttausender Zwangsarbeiter. Parallel dazu sorgt er dafür, dass das Euthanasieprogramm besonders strikt durchgezogen wird. Mindestens 630 Menschen sterben in Thüringer Kliniken und Heilanstalten.
Großbetriebe wie Carl Zeiss Jena werden auf Kriegsproduktion umgestellt und beschäftigen Zwangsarbeiter. Die Erfurter Maschinen- und Rüstungsfabrik »Topf & Söhne« produziert die Öfen für die Krematorien im KZ Buchenwald. Ab 1943 werden die Anlagen auch ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau geliefert. Mitarbeiter des Unternehmens überwachen die Inbetriebnahme der Öfen nahe den Gaskammern.
Im zerklüfteten Jonastal bei Arnstadt treiben ab dem Herbst 1944 Zehntausende Häftlinge aus dem KZ-Außenlager Ohrdruf zwei Dutzend Stollen in den Berg. Das System soll der letzte Führerbunker Hitlers nach einem Fall Berlins werden. Im Außenlager Mittelbau- Dora bei Nordhausen, wo unterirdisch die Flugwaffen V1 und V2 produziert werden, sterben etwa 20.000 Menschen.
Ab 1940 wird Thüringen von britischen und US-amerikanischen Bombenangriffen heimgesucht, die 1945 eskalieren. Am 18. März trifft es große Teile der Jenaer Innenstadt einschließlich der Zeiss-Werke. Nordhausen wird am 3. und 4. April fast vollständig zerstört: 8.800 Menschen sterben bei den mit Abstand schwersten Angriffen in Thüringen. Zwei Tage später verwüsten alliierte Bomben große Teile der Innenstadt von Gera.
Die Opfer gehören zur Bilanz der NS-Herrschaft und des von Deutschland begonnenen Weltkriegs. Allein in Buchenwald und seinen 22 Außenlagern sind in dieser Zeit bis zu 56.000 Menschen gestorben. Von den etwa 4.500 Juden, die 1933 in Thüringen lebten, befinden sich 1945 noch 400 im Land.
Gauleiter Sauckel, der als Generalbeauftragter fünf Millionen Zwangsarbeiter nach Deutschland deportieren ließ, wird von den Anklägern im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als »der größte und grausamste Sklavenhalter seit den ägyptischen Pharaonen« bezeichnet. Er stirbt am 16. Oktober 1946 am Galgen. Am selben Tag wird Wilhelm Frick gehängt.
Drei DDR-Bezirke
Im April 1945 fällt Thüringen nahezu kampflos an die aus Westen vorrückende US-Armee. Teile der Weimarer Bevölkerung werden von Soldaten auf den Ettersberg geführt. Sie müssen im Konzentrationslager das Krematorium und die Genickschussanlagen besichtigen. Einige brechen beim Anblick der Leichenberge zusammen. Die Besatzer setzen den einstigen Landtags- und Reichstagsabgeordneten Hermann Brill als Regierungspräsidenten ein. Der Sozialdemokrat hatte nach mehreren Jahren im Zuchthaus seit 1943 im Konzentrationslager auf dem Ettersberg gelitten und dort das »Buchenwald- Manifest« mitverfasst. Es soll das Programm sein für eine neue »Volksrepublik«. Wie nach dem Ersten Weltkrieg soll Weimar nun auch nach dem Zweiten Weltkrieg zum Gründungsort eines neuen, deutschen und dezidiert antifaschistischen Staates werden.
In die Verwaltung, die er aufzubauen beginnt, beruft er vor allem Buchenwald- Häftlinge. Gleichzeitig treibt er die Entnazifizierung rigoros voran. Doch da Thüringen zur sowjetischen Zone gehören soll, zieht sich Anfang Juli die US-Armee nach Bayern und Hessen zurück, während von Osten die Rote Armee einmarschiert. Mit dem Vertrag von Jalta ist im Februar 1945 entschieden worden, dass Thüringen zur sowjetischen Besatzungszone gehört. Da Preußen von den Alliierten aufgelöst wird, umfasst das Landesgebiet erstmals offiziell Erfurt und das Eichsfeld.
Mit den Amerikanern ziehen zehntausende Menschen gen Westen. Vor allem Unternehmer, Selbstständige, Ärzte, Ingenieure oder Juristen gehen, ob nun freiwillig oder nicht. Große Teile der Rüstungsindustrie und der feinmechanisch-optischen Betriebe werden zwangs evakuiert. Die Parole lautet: »We take the brain.«
Kontinuierliche Abwanderung
Bei Zeiss in Jena verschwindet der größte Teil des Führungspersonals samt Maschinen und Patenten nach Württemberg, wo in Oberkochen ein neues Zeiss- Werk gegründet wird. Siemens & Halske in Gera transportiert 3.000 Firmenangehörige und 500 Tonnen an Material per Laster und Eisenbahn nach Bayern. Es ist der Beginn des ostdeutschen Exodus. Bis zum Bau der Mauer 1961 fliehen etwa drei Millionen Menschen, bis 1989 gehen noch einmal knapp 800.000 Menschen, per Ausreise, per Flucht oder per Freikauf.
Mit den Grenzöffnungen in Ungarn im Sommer 1989 wächst die Abwanderung erneut extrem an. Und flaut erst ab 1991 langsam ab. Die demografischen, sozialen und ökonomischen Folgen der Abwanderung prägen Thüringen bis heute. Nach ihrem Einmarsch im Sommer 1945 ernennen die sowjetischen Truppen den in der NS-Zeit mit Berufsverbot belegten Juristen Rudolf Paul zum Landespräsidenten. Das einstige Mitglied der DDP tritt mit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD in die SED ein. Die neue Einheitspartei gewinnt auch die Landtagswahl im Oktober 1946 mit 49,3 Prozent. Es folgen die liberale LDP und die CDU. Das Parlament wählt Paul zum Ministerpräsidenten, der sich allerdings zunehmend an den Besatzern reibt. Im September 1947 gibt er auf und flüchtet in den Westen – was ein einmaliger Vorgang in der Geschichte Deutschlands bleibt.
Damit ist die kurze quasidemokratische Episode vorbei. Mithilfe von Marionetten-Institutionen wie dem Deutschen Volkskongress setzen die Besatzer die Führung der SED durch. Nachdem sich im Mai 1949 im Westen die Bundesrepublik Deutschland gegründet hat, wird am 7. Oktober aus der sowjetischen Zone die Deutsche Demokratische Republik. Die Teilung ist staatlich vollzogen. Und Thüringen ist auf der unglücklicheren Seite der Geschichte gelandet.
Seit 1950 wird nach Einheitslisten gewählt. Wahlen verkommen so zu bloßen Akklamationsvorgängen. 1952 unterteilt die DDR-Regierung das Land Thüringen in die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl. Sie sind nur Verwaltungseinheiten im neuen, zentralistisch organisierten System. Die Regierung administriert über die 14 Bezirks- und mehr als 200 Kreisräte. Die eigentlichen Entscheidungen fallen jedoch ausschließlich in den Gremien der Staatspartei SED: vom Politbüro und Zentralkomitee über die Bezirksleitungen bis zu den Kreisleitungen. Wie die Volkskammer in Ostberlin dienen die Bezirks- und Kreistage als pseudodemokratische Fassade. Dasselbe gilt für die sogenannten Blockparteien Christlich Demokratische Union (CDU), Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD), Liberaldemokratische Partei Deutschland (LDPD) und die Bauernpartei. Sie stehen wie die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der Gewerkschaftsbund, der Kulturbund, die Volkssolidarität und sämtliche sonstigen Massenorganisationen in der »Nationalen Front« unter SED-Führung.
Die CDU soll die Christen ins laizistische DDR-System integrieren. Die Partei gilt, wie die Konrad-Adenauer-Stiftung 1990 feststellen wird, als »stalinistische Kaderpartei« und in organisatorischer und programmatischer Sicht als eine »Kopie der SED«. Als Scheinparlament dient die Volkskammer, deren Mandate nach der Einheitsliste der »Nationalen Front« aufgeteilt sind.
Die damalige Domestizierung wird bis heute im politischen Kampf instrumentalisiert. Die AfD redet von der CDU als »Blockpartei« und bezeichnet die Linke als SED. Und wenn sich bei kommunalen Stichwahlen wie in Sonneberg die Parteien gegen den rechten Kandidaten verbünden, diffamiert sie diese Solidarisierung als »Nationale Front«.
Was der AfD im Osten hilft: Die einstigen Blockparteien wie CDU und FDP haben ihre Vergangenheit nie ernsthaft aufgearbeitet. Sie waren Teil der »Nationalen Front«, als in den DDR-Bezirken Betriebe enteignet und Abertausende Bauernhöfe zwangskollektiviert wurden. Und sie standen in Mitverantwortung, als Polizei und Staatssicherheit an der Grenze zur BRD – die mit 700 Kilometern in Thüringen besonders lang ist – »unzuverlässige« Menschen gegen ihren Willen umsiedelten. Der Name der Vertreibungsaktion: »Ungeziefer«.
Im Frühsommer 1953 eruptiert die Unzufriedenheit. Am 17. Juni breiten sich Unruhen von Berlin auf die südlichen Bezirke aus. Von größeren Städten wie Jena und Gera greift der Protest auf das Umland über, vereinzelt gibt es Streiks. Doch die Besatzer schlagen den Aufstand nieder. In Jena, wo die SED-Kreisleitung von Demonstranten besetzt wird, greifen die Sowjets besonders brutal durch. Einer der dort Festgenommenen, der 26-jährige Schlosser Albrecht Diener, wird als abschreckendes Beispiel hingerichtet.
Die Abwanderung beschleunigt sich. Allein der Bezirk Erfurt verliert zwischen 1950 und 1960 um die 120.000 Menschen – und das sind nur die offiziellen Zahlen der DDR-Statistik. Als Reaktion lässt die SED-Führung unter Walter Ulbricht am 13. August 1961 in Berlin die Mauer errichten. Gleichzeitig verschärft die DDR überall ihre Grenzsysteme, verbreitert die Sperrzonen, errichtet neue Wachtürme, vertreibt nochmals Tausende Menschen. Einige Ortschaften und Ortsteile in unmittelbarer Grenznähe werden geschleift, durch das thüringische Dorf Mödlareuth verläuft sogar eine eigene Maueranlage. Bis 1989 kommen an der Grenze Thüringens zur Bundesrepublik 106 Menschen bei Fluchtversuchen oder Unfällen ums Leben; 14 Soldaten der Grenztruppen sterben.
Der lange Grenzverlauf ist auch ein Grund dafür, dass die Thüringer Bezirke besonders straff geführt werden. Das Ministerium für Staatssicherheit ist über seine drei Bezirksverwaltungen und 32 Kreisdienststellen flächendeckend vertreten. Im Bezirk Gera etwa gibt es 1989 rund 7.000 hauptamtliche und 19.000 Inoffizielle Mitarbeiter. Allein an der Universität Jena sind 341 IM aktiv. Die evangelische Landeskirche geht als »Kirche im Sozialismus« den opportunistischen »Thüringer Weg«. Und sie ist von der Staatssicherheit besonders stark infiltriert. Mindestens ein Bischof und mehrere Oberkirchenräte sind als Inoffizielle Mitarbeiter registriert.
Aufmarschgebiet im Kalten Krieg
Ansonsten bleiben die Thüringer Bezirke Besatzungsgebiet. Die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) umfasst bis zu 370.000 Soldaten. In Thüringen hat die 8. Gardearmee gut 50.000 Soldaten stationiert. In Nohra sitzt eine Hubschrauberstaffel, in Jena eine Panzerdivision und in Ohrdruf eine Garde-Mot-Schützendivision. Zu den größeren der 143 Standorte gehören noch Weimar, Gotha, Gera, Eisenach, Bad Langensalza, Apolda, Schlotheim, Saalfeld, Rudolstadt, Meiningen, Günzerode, Arnstadt oder Altenburg.
Auch Atomsprengköpfe sind seit den 1960er Jahre stationiert. Sowjetsoldaten und regelmäßige Militärkonvois sind Teil des Alltags. Die als Russenkasernen bezeichneten Wohnblöcke stehen am Rande vieler größerer Städte. Hinzu kommen die weiträumig abgesperrten Truppenübungsplätze. Offiziell ist die Sowjetarmee nur da, um einen möglichen NATO-Angriff abzuwehren. Inoffiziell soll sie die Herrschaft Moskaus absichern und demokratische Bestrebungen unterdrücken. Wie 1953 in der DDR geschieht dies 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.
Laut SED-Propaganda ist die Sowjetunion natürlich keine Besatzungsmacht. Sie ist Befreier, Beschützer und Bruderstaat. Die zentrale Parole lautet: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen. Und das ist ernst gemeint. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft für deutschsowjetische Freundschaft ist stark erwünscht, das Schulfach Russisch Pflicht. Die DDR verlegt die russischen Klassiker Tolstoi, Dostojewski oder Gogol, aber auch Sowjetschriftsteller wie Nikolai Ostrowski oder Tschingis Aitmatow. Klassenfahrten, Patenschaften, Städtepartnerschaften, Auslandsstipendien, Arbeitseinsätze und Brieffreundschaften sorgen für emotionale Bindungen.
In diesen Jahrzehnten bildet sich das bis heute nachwirkende Verhältnis der Ostdeutschen zur Sowjetunion, das die ebenso zwiespältige Sicht auf die USA spiegelt. Einerseits dringt die amerikanische Popkultur über Kleidung, Musik und Fernsehserien trotz aller staatlichen Repression in die Gesellschaft ein. Andererseits verfängt die nicht völlig falsche, aber bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Erzählung vom angloamerikanischen Imperialismus, der allein die Welt dominieren will.
Seit den 1960er Jahren ist die DDR-Gesellschaft auch wirtschaftlich durchsowjetisiert. Die Landwirtschaft und deren Betreiber sind in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zwangskollektiviert. Die Volkseigenen Betriebe (VEB) werden in riesigen Kombinaten zusammengefasst. Zu den größten Kombinaten in Thüringen gehören Carl Zeiss Jena, Mikroelektronik Erfurt, Kali Sondershausen und Robotron Sömmerda. In Ilmenau entsteht das Werk für Technisches Glas, in den Suhler Simson-Werken laufen Mopeds der Typen »Schwalbe« oder »S50« vom Band. In Eisenach werden in 40 Jahren 1,6 Millionen Wartburg 311 und 353 produziert. Der Absatzmarkt liegt hauptsächlich in der DDR und in Osteuropa. In den Staaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) findet der Außenhandel zu 99 Prozent per Realtausch statt; konvertierbare Währungen sind irrelevant.
In das NSW, das Nichtsozialistische Währungsgebiet, verkauft die DDR ihre Produkte zu Dumpingpreisen. Textilien, Obst, Gemüse, Elektrogeräte jeder Art, aber auch alte Pflastersteine aus den Altstädten werden verhökert, um an Devisen zu kommen. Das Versandhaus Quelle verkauft etwa die von Robotron in Sömmerda produzierten Nadeldrucker unter der Marke Privileg. Der berühmte Weihnachtsschmuck aus dem Waldstädtchen Lauscha geht fast vollständig in den Export.
In diesen Jahren entsteht bei den Menschen eine in Teilen irreale Vorstellung vom Westen, die noch viele Jahre nach der Wiedervereinigung nachwirken wird. Auf der einen Seite glauben viele Menschen an das vom Westfernsehen propagierte Konsumparadies sowie die Verheißung grenzenloser Freiheit und großer wirtschaftlicher Möglichkeiten. Auf der anderen Seite verfängt partiell die SED-gesteuerte 58 Agitation mit ihrem Zerrbild einer postfaschistischen, vom aggressiven US-Imperialismus gesteuerten BRD, in der Ausbeutung, Massenarbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit dominieren. Eine realistische, nüchterne und differenzierte Sicht auf die westdeutsche Demokratie konnte so kaum entstehen.
Gleichzeitig wächst ein diffuses Gefühl von Zweitklassigkeit. Abend für Abend können die Menschen in der DDR im Westfernsehen eine Art Premiumleben verfolgen. Die beworbenen Produkte erhalten sie, wenn sie Verwandtschaft im Westen haben, zuweilen in Weihnachtspaketen oder sie kaufen die Schokolade oder Jeans mit den geschenkten und in Forum-Schecks umgetauschten D-Mark im Intershop. Parallel dazu sehen sie, wie Westdeutsche mit der zwangsumgetauschten DDR-Mark die Buchhandlungen und Plattengeschäfte leerkaufen.
Und sie erleben auf Reisen in Osteuropa, dass die Bundesbürger in den guten Hotels absteigen, während sie als DDR-Bürger auf dem Campingplatz ihre mitgebrachten Konserven aufwärmen. Die SED fördert ein trotziges Selbstbewusstsein. Auch wenn die offiziellen ökonomischen Daten, mit der sich die DDR an die Spitze des Ostblocks und auf Augenhöhe mit vielen westlichen Staaten rechnet, nicht stimmen und allgegenwärtiger Mangel herrscht, ist vor allem bei entsprechender politischer Anpassung ein kommodes Leben möglich.
Unter dem neuen SED-Generalsekretär Erich Honecker wird massiv in Wirtschaft, Wohnungsbau und Sozialleistungen investiert. Insbesondere die Bezirksstädte wachsen. Die Einwohnerzahl von Erfurt steigt um 50.000 auf 220.000 und in Gera von 90.000 auf 135.000. In Suhl verdoppelt sie sich sogar auf 56.000. An der Peripherie der Städte entstehen riesige Neubausiedlungen aus Plattenbaumodulen, während Altstadtviertel, die den Krieg überstanden, zumeist dem Verfall preisgegeben oder abgerissen werden.
Nebenher wird Thüringen zum Zentrum des Spitzensports. Jena liefert die WM- und Olympia-Medaillengewinner in der Leichtathletik, Erfurt im Eisschnelllauf – und Oberhof im Thüringer Wald in 59 mehreren Wintersportarten. Dass im VEB Jenapharm Dopingmittel produziert werden, die systematisch selbst an Minderjährige verabreicht werden, ist ein von der Staatssicherheit sorgsam bewachtes Geheimnis.
"Diktatursozialisiert"? Oder eine "Demokratieanspruchsgeschichte"?
Die Opposition bleibt in all den Jahren schwach in Thüringen. Nur selten kommt es nach 1953 zur offenen Konfrontation mit der Staatsgewalt, so etwa 1968 in Gotha nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, 1970 beim Besuch des SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt in Erfurt oder 1976 in Jena nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns.
In den Jahren von Indoktrination und Isolation entsteht eine Art kollektives ostdeutsches Selbstbewusstsein. Es changiert zwischen Autoritätsgläubigkeit und Widerstand, Stolz und Selbstzweifeln, Weltoffenheit und Xenophobie. Diese frappierende Widersprüchlichkeit ist in soziologischen Studien herausgearbeitet, doch die öffentliche Debatte dominieren bis heute Pauschalurteile. Oft genug stammen sie von Menschen, die selbst in der DDR groß wurden. Für die einen sind viele Ostdeutsche »diktatursozialisiert« (Marco Wanderwitz) oder »chronisch seelenkrank« (Wolf Biermann), geprägt von »Hass auf die westlichen Werte und die Anmaßungen der Freiheit, selbst für sein Leben verantwortlich zu sein« (Ilko-Sascha Kowalczuk).
Die anderen stilisieren die einstigen DDR-Bürger zu Opfern einer neokolonialen Wiedervereinigung, die unter »kollektiver Diffamierung, Verhöhnung und eiskalter Ausbootung« (Dirk Oschmann) leiden oder einer westlichen Geschichtsschreibung, welche den ostdeutschen Staat als »graues Land voller hoffnungsloser Existenzen« fehlzeichnet (Katja Hoyer).
Die Geschichtsprofessorin Christina Morina, die sich in Jena habilitierte, versucht einen Mittelweg zu gehen. Sie verweist darauf, dass auch die Diktatur DDR eine Demokratiegeschichte besitzt, allerdings als »Demokratieanspruchsgeschichte«, die 1989 ihren Höhepunkt findet:
»Der strategische, symbolische, propagandistische – oder schlicht: simulative - Bezug auf die Demokratie im SED-Staat spielte in der Geschichte dieses Landes (wie des Staatssozialismus insgesamt) eine zentrale Rolle. Generationen von Ostdeutschen haben sich daran in ganz unterschiedlicher Weise abgearbeitet, haben ihn akzeptiert und geglaubt, eingefordert und gelebt, kritisiert und verachtet.« [...]
Thüringen-Buch Martin Debes
Der Beitrag von Martin Debes ist dem Band entnommen: "Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert", erschienen im Verlag Chr. Links, Berlin 2024.
Der Beitrag von Martin Debes ist dem Band entnommen: "Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert", erschienen im Verlag Chr. Links, Berlin 2024.
Zitierweise: Martin Debes, "Thüringen als Muster-Gau? Rechtsextremismus-Traditionen im Thüringer Raum", in: Deutschland Archiv, 10.06.2024, aktuaisiert am 2.9.2024. Link: www.bpb.de/549045. Der Text ist dem im Chr. Links Verlag erschienenen Buch entnommen: Martin Debes, Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert, Berlin 2024. Alle Beiträge auf www.deutschlandarchiv.de sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Martin Debes ist Publizist und Journalist, er studierte Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Philosophie in jena und den USA, und besuchte die Münchener Journalistenschule. Er arbeitete zunächst für die Thüringer Allgemeine und Frankfurter Rundschau und inzwischen für den stern. Im August 2021 erschien sein Buch "Demokratie unter Schock" über die Hintergründe der kurzzeitigen Wahl von Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD. Anfang 2024 erschien bei Aufbau in Berlin sein Buch "Deutschland der Extreme", dem sein hier veröffentlichter Text entstammt.
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