Widerstreitende Positionen in neuen Büchern über die Entwicklung im Osten Deutschlands. Mit immer mehr Dramatik in der Sprache. Ob das zu neuen Erkenntnissen hilft? Klischees verstärkt oder abbaut? Oder zum Handeln veranlasst? Eine Bücherkritik des Philosophen und ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers Wolfgang Templin. Anlass ist das jüngste Buch des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk: "Freiheitsschock".
Fünfunddreißig Jahre sind seit den Befreiungsrevolutionen von 1989, dem Fall der Mauer und der Öffnung des Eisernen Vorhanges vergangen. Ihre Höhepunkte werden in diesem Herbst 2024 national und international mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen, Tagungen, Kongressen und Festivals begangen. In Deutschland könnte das eine gute Gelegenheit sein, nüchtern auf die Jahrzehnte der Trennung und des Zusammenwachsens zurückzublicken, um eine realistische Bilanz der Leistungen, des Versäumten und der Fehler zu ziehen. Mit allen Grau- und Zwischentönen, die wichtig wären um Herausforderungen und Aufgaben zu formulieren.
Was sich aber abspielt ist das Gegenteil. In den Debattenräumen zur Situation im Osten und zur deutschen Einheit gibt es ein wildes Hauen und Stechen. Schuldzuweisungen bestimmen die Tonlage. Der Historiker Ilko Sascha Kowalczuk, mittendrin im Getümmel, riskiert einen Befreiungsschlag und hat unter dem Titel „Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands“ nun ebenfalls ein wütendes, polemisches Buch über die Lage im Osten geschrieben, sucht aber nicht vordergründig im Westen die Schuld. Stattdessen hält er der Mehrzahl seiner ostdeutschen Landsleute den Spiegel vor. Darin erscheinen sie geformt durch Jahrzehnte organisierter Unfreiheit; die Muster von Autoritätsgläubigkeit und Fixierung auf den starken Staat, der für alles zuständig sein soll, nahmen sie in ihr neues Leben in der Freiheit angeblich mit. Ein „freiheitliches Leben“, so nennt Kowalczuk, das Dasein einer kleinen Minderheit von Außenseitern, Unangepaßten, Oppositionellen in der DDR, die sich all diesen Mustern entzogen, war für die große Mehrheit der Angepassten keine Option.
Die neue Freiheit in der Demokratie eröffnete Räume und Chancen, brachte aber auch gewaltige Umstellungen und Unsicherheiten und Zumutungen mit sich, die als Schock empfunden wurden - als „Freiheitsschock“. Für die Menschen im Osten mit ihrer Vorgeschichte.
Westdeutsche, die ihre ostdeutschen „Brüder und Schwestern“ mitleidsvoll aber zumeist ahnungslos als bloße Opfer eines Zwangssystems betrachteten, dem diese nach Selbstaussage tapfer widerstanden, kommen bei Kowalczuk ebenfalls nicht gut weg. Was treibt ihn in diesen Furor? Die jüngsten beunruhigenden Wahlergebnisse im Osten, die Erfolge rechter und linker Extremisten und Populisten, und die offenen politischen Spaltungstendenzen? Die kommen hinzu aber es geht Kowalczuk um weit mehr. Die Lage sei weitaus ernster als sie aussehe und von manchen gezeichnet werde. Er zitiert frustriert sogar den Kälbermarsch von Bertold Brecht aus dem Jahr 1943, in dem es heißt:
„Hinter der Trommel her / Trotten die Kälber / Das Fell für die Trommel / Liefern sie selber.“
Dabei ist Brecht ein Autor, den Kowalczuk nicht immer positiv sieht. Die deutlich erhöhte Schärfe der Auseinandersetzungen über den Charakter der DDR, den Vereinigungsprozess und den Umgang mit den Gräben der Trennung, habe tiefe Ursachen, reflektiert der in Ost-Berlin aufgewachsene Historiker. Kontroversen über all diese Probleme habe es immer gegeben und sie seien normal. Aber: „Wer heute über Ostdeutschland redet oder schreibt, befindet sich automatisch in einem kaum überschaubaren Gewirr von Feindseligkeiten, Hass, gegenseitigen Anschuldigungen und Unterstellungen“. Dies nicht nur, wenn es um Ostdeutschland gehe: „In Deutschland tobt eine Deutungsschlacht um Demokratie, Diktatur, Krieg und Frieden“.
Kowalczuk wird noch rigoroser, wenn er am Anfang seines Buches formuliert:
„Freiheit versus Unfreiheit, Demokratie versus Diktatur. Um nichts Geringeres geht es in den Kämpfen unserer Zeit“. Ostdeutschland sei für ihn längst zu einer Chiffre für diesen Kampf geworden. Wer die Dramatik im Osten allein mit der Akkumulation und Überlagerung von Krisen erklären wolle, von denen jede einzelne, wie die Klimakrise, Corona, das Migrationsgeschehen, soziale Verwerfungen oder Kriege, schon Überforderung produziere, greife zu kurz.
Entlastende Blicke
Zahlreiche Autoren der Debatte teilen diese dramatische Sicht und Dringlichkeit nicht, und suchen nach anderen Deutungsmustern. Unter dem Titel „Diesseits der Mauer“ erschien 2023 ein Buch der in Ostdeutschland geborenen Historikerin Katja Hoyer. Bereits die vorangegangene englische Fassung des Buches wurde vom Verlag als völlig neue Geschichte der DDR angepriesen und mit einer aufwändigen Werbekampagne promotet. Mit der nahezu zeitgleich auf den Markt gekommenen Polemik des Hallenser Literaturprofessors Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ beförderte es eine neue Welle von Nostalgie, potenzierte Westklischees und sprach die Mecker-Bedürfnisse eines großen Publikums an, nicht nur, aber besonders im Osten Deutschlands. Relativierungen? Fehlanzeige.
Solide Historiker und Fachleute zur DDR-Geschichte, welche die Bände besprachen, reagierten mehrheitlich kopfschüttelnd und ablehnend. Die Ankündigungen waren zum großen Teil Etikettenschwindel, viel Neues wurde nicht gesagt, aber emotionalisiert.
Versuche, die Geschichte der DDR, die von Anfang bis Ende eine totalitäre Diktatur war, als Schicksal eines Gesellschaftsexperimentes zu schreiben, dessen Träger an der Überlegenheit ihrer westlichen Gegenüber scheitern mussten, sind nicht neu. Ebenso wenig, wie der Versuch Dirk Oschmanns, die Bewohner der ehemaligen DDR nach 1989 kollektiv zu Opfern einer westlichen Überwältigungsstrategie, einer Kolonisierung zu machen, die andere Entwicklungswege verbaut habe.
Zur Bewertung der DDR-Geschichte ziehen sich durch die Jahrzehnte Versuche, den „antifaschistischen Neubeginn“ 1949 als Chance einer „Demokratie neuen Typs“ auszulegen, der erst in den Eiswinden des Kalten Krieges erstarrt sei. Bis in die sechziger Jahre blieben solche Interpretationen auf westlicher Seite einzelnen Historikern und linken Intellektuellen vorbehalten. Noch vor 1968 wurden sie modifiziert zur Grundlage der sogenannten Konvergenztheorie, die dem poststalinistischen Realkommunismus langfristige Überlebenschancen einräumte und dort Reformpotentiale sah. Solche Theorien und politische Versuche der Annäherung, Verständigung und Entspannung, verniedlichten den „Osten“ und die DDR als Modernisierungsgesellschaft auf anderer Grundlage.
Für den internationalen Maßstab nennt Kowalczuk als prominente Ikonen der „Neuen Linken“ und später der Globalisierungsgegner Michael Hardt und Tonio Negri mit ihrem Bestseller „Empire“. Sie dichteten der Sowjetunion und allen von ihr geprägten Ostblockländern unglaubliche Potentiale an und leugneten ihren Unterdrückungscharakter.
„Die Ideologie des Kalten Krieges nannte die Gesellschaft totalitär, doch war sie in Wahrheit eine von starken und vielfältigen Momenten der Kreativität und Freiheit durchzogene Gesellschaft, ebenso stark wie Rhythmen ökonomischer Entwicklung und kultureller Modernisierung“ (Freiheitsschock, S.205)
Markantes Beispiel für eine verharmlosende, speziell auf die DDR bezogene Sichtweise ist die britische Historikerin Mary Fulbrook, die gestützt auf die „Oral History Methode“, mehrfach Ausflüge in das Alltagsleben der DDR unternehmen konnte. Ihr Buch „Ein ganz normales Leben – Alltag in der DDR“ steht für eine große Reihe ähnlicher Versuche. Sie sollten zeigen, wie gelingendes, glückliches Leben unter den politischen Rahmenbedingungen funktionierte.
Katja Hoyer studierte in den neunziger Jahren Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität und setzte ihre akademische Karriere an den gleichen britischen Colleges fort, wie die wesentlich ältere Mary Fulbrook fort. Als junge Frau war sie mit dem Ende des Ostblocks und der DDR konfrontiert, mit der Systemniederlage des Ostens und den Illusionen der Konvergenztheorie. Jahrzehnte später schickte sie sich an, gestützt auf ihre eigene Familiengeschichte, die Schuld für die Verbrechen der Diktatur, den kollektiven Zwang und die organisierte Unfreiheit in der DDR auf eine kleine Gruppe von Überzeugungstätern an der Spitze zu legen.
Die wiederum, so die Lesart, standen unter dem Zwang der übermächtigen sowjetischen Besatzungsherrschaft. Opfer der SED-Herrschaft, kommen bei Hoyer vor, sind zumeist aber bedauernswerte Außenseiter. Die übergroße Mehrzahl der Beteiligten lehnte das auferlegte System ab und fügte sich in das Unvermeidliche. Nischen und Refugien für ein gelingendes, glückliches Alltagsleben in der späten DDR existierten genug. Eine Lesart, die nicht nur von ehemaligen aktiven Systemgegnern und zivilen Verweigerern heftig infrage gestellt aber von vielen Lesern oder Hörern Hoyers mit großer Zustimmung und Begeisterung aufgenommen wurde.
Dirk Oschmanns Blick auf die DDR-Zeit ist hier viel härter. Er sieht das DDR-System von Beginn an zum Untergang verurteilt, die Flucht und nicht das Aussitzen immer wieder als bessere Alternative. Die aus guten Gründen überlegene Bundesrepublik habe dann aber mit einer perfiden politischen Strategie zunächst falsche Hoffnungen geweckt, um mit ihrer Wirtschaftskraft, ihren politischen und zivilen Eliten die neuen Bundesländer zu schlucken, zu kolonisieren. Dass es die große Mehrzahl der Menschen in der DDR selbst war, die sich im Freudentaumel der gewonnenen Freiheit, an die Brust des stärkeren Gegners warf, vom anfänglich zögernden Helmut Kohl an die Hand genommen werden wollte, blendet Oschmann aus. Ebenso, dass die schnelle Wirtschafts- und Währungsunion, die übereilte Einführung der D-Mark vom ostdeutschen Wählerwillen erzwungen wurde, bleibt außen vor.
Einer entscheidenden Institution im Prozess der rasanten marktwirtschaftlichen Umgestaltung des DDR-Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, der Treuhandanstalt, wendet nicht nur Oschmann zentrale Aufmerksamkeit zu. Den sozialwissenschaftlichen Begriff der Transformation für die alle Bereiche der Gesellschaft umfassenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entscheidungen, Prozesse und Umbrüche zu verwenden, ist ohnehin schwierig, weil er oft die Komplexität der Abläufe verkürzt, technokratisch wirkt.
Der Treuhandanstalt wird ein ausschließlich negatives Gewicht verliehen, eine Verantwortung übertragen, die ihre Verantwortlichen so gar nicht stemmen konnten. Beim Prozess der Umwandlung der in weiten Teilen maroden Planwirtschaft der DDR in marktwirtschaftliche Strukturen, ging es um das Schicksal von rund vier Millionen Menschen, die in über 8.000 Betrieben tätig waren. Die Mehrzahl von ihnen waren in großen Industriekombinaten beschäftigt, die im Zuge von DDR-Wirtschaftsreformen aus einer Vielzahl enteigneter oder in ihren Eigentumsformen umgewandelter Betriebe entstanden waren. Diese Kombinate waren aber nicht nur Wirtschaftseinheiten und Arbeitsstätten für die in den Kombinaten Beschäftigten. Sie erfüllten aus zahlreichen systemrelevanten Gründen, soziale und kulturelle Aufgaben, für die Kombinatsmitarbeiter. Kinderbetreuung, der Feriendienst der Gewerkschaften, die Arbeit zahlreicher Kulturhäuser fand unter diesem Dach statt.
Mit der Auflösung, dem Zerbrechen und Zerlegen der Kombinate, fiel diese gesamte soziale und kulturelle Infrastruktur weg, fielen die dort Beschäftigen, die nicht direkt in der Produktion tätig waren, mit in die Arbeitslosigkeit. Teil eines existentiellen Schocks, der sich nur schwer in den Kategorien eines Transformationsschocks unterbringen lässt.
Für die Vielzahl von Tragödien, die das Wegbrechen gewohnter Sicherheiten und Bindungen bedeutete, jetzt den Westen kollektiv verantwortlich zu machen, ist dennoch falsch. Dort wurden zwar maßgebliche Entscheidungen politisch und wirtschaftlich getroffen, aber sie folgten keinem perfiden Masterplan der Kolonisierung, sondern waren von heftig aufeinanderfolgenden, oft genug widerstreitenden Dynamiken bestimmt, die eher dem Muster von Versuch und Irrtum folgten.
Und die Grundsatzentscheidung, die Wirtschaft in der DDR gegen den Baum zu fahren, hatte schon Jahre zuvor die SED verantwortet. Zu den neu hinzukommenden Dynamiken zählten sowohl die aufeinanderfolgenden Strategien für die Zielsetzung der Arbeit der Treuhand, das Einströmen bundesdeutscher Eliten und Glücksritter in die freigewordenen Verantwortungen und Tätigkeitsfelder im Osten.
Westdeutsche Akteure waren bei all dem federführend aber es gab auch genügend Beteiligte aus der ehemaligen DDR, die als ehemalige verantwortliche Kader und Stasibedienstete, die Gunst der Stunde erkannten, sich mit geeigneten westlichen Partnern zusammentaten, oft genug eigenes Kapital auf der Seite hatten und über notwendiges Erfahrungswissen verfügten.
Menschen aus dem Osten, die über kein Kapital verfügten und sich dennoch wirtschaftlich engagieren wollten, in vorhandenen Betrieben oder mit eigenen Unternehmungen, hatten oft keine Chancen, fielen durch das Raster der Kreditwürdigkeit. Ebenso Menschen, die sich den Zumutungen und Angeboten der Diktatur weitgehend entzogen hatten und jetzt bereit waren, Verantwortung in der DDR zu übernehmen. Hier war oft das Gespann von neuem Funktionsträger West und wieselflinkem Altkader-Ost schneller. Unangepasste Biographien, Ost oder West, störten da häufig.
All das zusammengenommen, ergibt jedoch nicht das Zerrbild vollendeter Kolonisierung, das Oschmann und ihm folgende Stimmen jetzt zeichnen. Gerade darum, wird dieses Bild jedoch von all denen so begeistert aufgenommen, die auf der Suche nach dem Schuldigen für die tatsächliche oder vermeintliche Misere im Osten sind. Hier treffen sich auch Hoyer und Oschmann in ihrer Publikumswirkung. In den Zustimmungswellen kommen prominente Intellektuelle mit ostdeutschen Biographien hinzu, eine der kräftigsten Stimmen ist die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Sie steht für eine über mehrere Generationen reichende Familiengeschichte von politischen und intellektuellen kommunistischen Kadern. Erpenbeck muss sich gar nicht explizit auf Hoyers Entlastungsschleifen beziehen, um mit dem Rückgriff auf die heilen, positiven Seiten im Leben der eigenen Familie und verwandter Familien, Erfolge zu feiern. Aus der Weigerung sich den dunklen Kapiteln der eigensten Familiengeschichte zu stellen, wird die Tugend des Anstands. Großväter und Großmütter, die sich im antifaschistischen Widerstand aufopferten, sollen nicht nach ihrer Rolle gefragt werden, die sie zeitgleich im Dienst des stalinistischen Geheimdienstes spielten. Die Elterngeneration nicht nach ihrer Arbeit im Dienst des DDR-Systems.
Solch eine Zurückhaltung wird dann für die Beurteilung des Gegenwärtigen fruchtbar gemacht. In einem aktuellen Interview für den Tagespiegel drückt das die Schriftstellerin so aus:
„Das tiefere Nachdenken über die Welt ist vielleicht unser Kapital im Osten“.
Erpenbecks Stimme passt in die aktuelle Situation und steht beispielhaft für viele. Je weiter die DDR zurückliegt, um so bessere Seiten kann man ihr abgewinnen. Man könnte das als über ganz andere Systeme gezogene und in anderen Zeiten vorkommende Nostalgie belächeln, wenn nicht aktuell rechte und linke Feinde der Demokratie mit verschiedenen Formen von Stolz auf die DDR oder entspannter Haltung dazu ihr politisches Geschäft betrieben.
Fast im Schatten von Hoyer und Oschmann, sie dennoch ergänzend, wirkt das Buch einer anerkannten Historikerin Christina Morina „Tausend Aufbrüche - Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren“. Sie ist alles andere als eine akademische Außenseiterin und erhielt als bisher einzige Ostdeutsche einen Lehrstuhl für neueste Geschichte in Bielefeld. In zahlreichen Gremien, Kommissionen und Vereinigungen präsent, die sich um das Schicksal der Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik kümmern und bringt sich dort engagiert ein.
In ihrem Zugang zur DDR - Geschichte wählt die Historikerin einen anderen Zugang als schlicht entlastende und aburteilende Stimmen. Ein von vielen als differenziert empfundenes Vorgehen, das ihr viel Zuspruch und Anerkennung einbrachte. Nur hat es eben diese Differenzierung in sich. Ohne den Diktaturcharakter der DDR in Frage zu stellen, konzentriert sich Morina auf deren letztes Jahrzehnt und stößt in diesen Jahren auf ein verstärktes Bedürfnis nach aktiver Mitsprache. Bereits der späte Ulbricht wollte nicht mehr als harter Diktator wahrgenommen werden, machte sich zum Staatsratsvorsitzenden und entwickelte in dieser Funktion einen Pseudoraum der Kommunikation, den Erich Honecker später ausbaute. Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden, Petitionen wurden immer beliebter.
Hier findet Morina bei ihren Quellenstudien, Nachforschungen und in Zeitzeugengesprächen, das aus ihrer Sicht für sie bisher weithin unbeachtete Potenzial ziviler Mitwirkungsbedürfnisse in der DDR. Sie blieben ein Anspruch der nicht eingelöst wurde, so dass die Historikerin in diesen Bemühungen als einen Demokratieanspruch erkennt. Der Geschichte der sich in der Bundesrepublik real entwickelnden Demokratie stellt sie also eine DDR gegenüber, die zumindest eine Demokratieanspruchsgeschichte hatte.
Besser wäre es gewesen, wenn Morina dann doch bei den klar bestimmbaren Kriterien von Demokratie und Diktatur geblieben wäre. Was aus den Hoffnungen derjenigen wurde, die in der späten DDR einen Weg zur Milderung oder gar Überwindung der Diktatur suchten, die ihre Hoffnung dann auf Gorbatschow, mit Glasnost und Perestroika setzten und erneut bitter enttäuscht wurden, ist eine andere Geschichte.
Die DDR war bis in ihre letzten Stunden eine funktionsfähige Diktatur, bereit ihre Machtmittel im Sinne der chinesischen Genossen einzusetzen, also auch mit Gewalt. Dass es nicht dazu kam, hat mehr mit ihrem eigenen Überlebenswillen zu tun, als mit höheren Motiven, außerdem wuchs der Widerwille auf Gewalt gegen Landsleute zu setzen bis in die Betriebskampfgruppen und Volkspolizei hinein. Demokratieformen des Übergangs, wie die Runden Tische, setzten aber erst nach dem Ende der Diktatur und dem Mauerdurchbruch ein.
Abstand auf Dauer
Im aktuellen Debattenkampf melden sich aktuell auch Ökonomen und Soziologen zu Wort, die mit jeder Menge Zahlen, Fakten und Vergleichen operieren. Hier sticht das Buch des Makrosoziologen Steffen Mau („Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“) hervor. In seinen Forschungsarbeiten und dem Lehrangebot an der Humboldt-Universität verbinden sich sozialwissenschaftliche Empirie und Theorie. Mau macht gleich im Titel seines Buches klar, wie er den künftigen Weg für den Osten sieht. Der tiefe Abstand, die Ost-West Kluft wird nicht nur auf lange Zeit, sondern auf Dauer existieren, aber das muss für den Osten kein Drama sein. Eine andere Gesellschaft wird entstehen.
1968 in Rostock geboren und in der späten DDR sozialisiert, bringt Mau eigene biografische Erfahrungen in seine soziologische Arbeit ein. Sein leitmotivischer Satz, der ihn über viele Debatten und Auftritte zu seinem Buch begleitet, lautet: „Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert ist schon auf dem Holzweg“. Das mag vielen einleuchten und die Möglichkeit leichteren Austauschs suggerieren. Unrealistisch ist aus meiner Sicht der Anspruch darin dennoch.
In der Debatte über das Ost-West Verhältnis in den Jahrzehnten des Kalten Krieges und der Zeit des Vereinigungsprozesses kann man die die faktische Schuld und Verantwortung von Beteiligten beider Seiten überhaupt nicht ausklammern. Schuld von Tätern der Diktatur bis hin zur Verbrechensschuld, Schuld durch Mitbeteiligung, durch Gewährenlassen, durch jahrzehntelange Verdrängung und Verweigerung der Auseinandersetzung. Dies zu tun, ohne moralische Überhöhungen und verkürzte, einseitige Schuldzuweisungen, wird und kann den Beteiligten nicht erspart bleiben. Irgendwann rühren sich die Leichen in den Kellern.
Die Erblasten von deutschem Obrigkeitsstaat, gescheiterter Weimarer Republik, Naziterror und kommunistischer Diktatur wirken mindestens im Osten mit voller Kraft fort. In der alten Bundesrepublik dauerte es Jahrzehnte, bis aus dem Obrigkeitsstaat, der auferlegten Demokratie eine liberale Demokratie wurde, die sich ihren eigenen Vergangenheitslasten stellte. Auch hier also kein Grund zum Hochmut. Mau nutzt zur Kennzeichnung der gegenwärtigen Situation, das aus dem Eheleben entlehnte Bild eines Beziehungsstatus der schlecht sei aber wiederum nicht so schlecht, dass man ihn aufgeben könne. Scheidung sei kein Thema. In einer Ehe kann das sehr wohl der Fall sein und ist nicht immer die schlechteste Option.
Hier hat Maus Bild zweifellos seine Grenzen, weil die gelungene und misslungene Wieder- und Neuvereinigung beider ungleicher deutscher Teilstaaten nicht aufzuheben ist. Die Ungleichheiten auf Dauer zu stellen und sie für normal zu erklären, geht aber ebenso wenig.
Der Makrosoziologe nimmt seine eigenen Befunde nicht ernst, die explosive Folgen in Aussicht stellen, wenn sich die tiefen Ost-Abstände und Klüfte nicht langfristig mindern und schließen. Gravierende Ungleichheiten in der Vermögensverteilung, in den Eigentumsrechten an Grund- und Boden, im sozialen Status und der Verteilung der Funktionseliten – für all das liefert Mau deutliche Zahlen und Statistiken. Sie stehen mit regionalen Unterschieden für alle Ostländer und lassen sich nicht mit dem Verweis auf regionale Unterschiede in den alten Bundesländern relativieren.
Eine Politik, die den Gefahren Rechnung trägt, auf ökonomischen und sozialen Ausgleich hinarbeitet, die Möglichkeiten gezielter Umverteilung und Förderung einsetzt, wird hier keine Wunder bewirken, kann aber dazu beitragen, die harte Auseinandersetzung in zivilen Schranken zu halten. Die vielbeschworenen „demokratischen Kräfte der Mitte“, haben im Osten viel schwächere Wurzeln. Ohne ihr Erstarken wird es nicht gehen.
Vom Wert der Freiheit
Mit ihrem Beharren auf dem zentralen Wert individueller und gesellschaftlicher Freiheit, bleiben Ilko-Sascha Kowalczuk und andere, die ähnlich argumentieren in der Minderheit. Man solle sich doch erst einmal um die vor der Haustür liegenden Probleme kümmern, schallt ihnen nicht nur aus dem Osten entgegen. Dort ist diese Reaktion aber besonders stark. Solidarität mit der Ukraine einzufordern und sich der Diktaturgeschichte der DDR zu stellen, statt deren Leistungen als Staat und damit die Lebensleistung von Normalbürgern anzuerkennen, wird zum Beispiel als Zumutung empfunden.
Damit wird Kowalczuk in zahlreichen Veranstaltungen und Debatten konfrontiert. Er stellt sich ihnen, bekennt eigene frühere Illusionen, benennt falsche Kompromisse, die er machte, Übertreibungen in der Hitze der Auseinandersetzung. In den verschiedenen Kapiteln seines Buches beschreibt er den eigenen Weg zur Freiheit, Auseinandersetzungen in der Familie, die schrittweise innere Lösung vom Glauben an die existierende DDR, die mögliche bessere DDR der Zukunft, den Weg zu den Außenseitern und Oppositionellen. Seinem Freund Gerd „Popoff“, der nicht nur für ihn als konsequenter Oppositioneller zur Leitfigur wurde, stellte er eine eigene, anrührende Widmung voran.
Der Beschreibung des Ostens, wie er ihn aktuell wahrnimmt, ist eine Beschreibung entscheidender Wegstationen der DDR vorangestellt, die er als Kind und Heranwachsender in ihren letzten Jahrzehnten kennenlernte. Hier bringt er dann Zahlen und Fakten, die nicht aus den Werkzeugkästen der Makro- und Mikrosoziologen stammen aber das Maß an Einbindung und Unterordnung illustrieren, dass die DDR letztendlich prägte. Rund 2,3 Millionen Mitglieder zählte die SED zum Schluss, dazu kamen knapp 500 000 Mitglieder in den vier Blockparteien (CDU, LDPD, DBD, NDPD). Die Mitgliedschaft nur auf Lippenbekenntnisse herunterzuspielen gibt keinen realen Zustand wider, denn die Anpassungsnormen wirkten durchaus.
Kowalczuk beschränkt sich bei seinem Streifzug durch die späte DDR nicht auf die explizit politische Ebene. Er gibt zahlreiche Beispiele für immer wieder erlebten offenen und verdeckten Rassismus, die bis in die eigene Umgebung hineinreichten, Antisemitismus, der sich als Kampf gegen den Kosmopolitismus tarnte, einen durchmilitarisierten Staat, der immer ein Meer propagandistischer Friedensfähnchen bereithielt, aber illegal Waffen in die Welt lieferte. Die DDR als Vortäuschung einer friedliebenden Welt. In den letzten aktuellen Kapiteln widmet sich Kowalczuk dem Schicksal der SED-PDS-Linkspartei und ihrem aktuellen Scheitern, dem neuen BSW-Wagenknecht Projekt, dass er als leninistische Kaderpartei einschätzt, die der AFD an Demokratiefeindschaft nicht nachsteht, der rechtsextremen AfD und der kritiklosen Haltung vieler Ostdeutscher zu Putins Russland.
Als er der Partei „Die Linke“ – damals noch mit Wagenknecht verbunden- in einer Anhörung im Bundestag im Oktober 2022 bescheinigte, in ihrer Haltung zu Russland antidemokratisch wie die AFD zu sein, reagierte der Bundestagsabgeordnete Jan Korte von der Linken wutentbrannt. Kowalczuk hatte nicht die Möglichkeit vor Ort zu reagieren und schrieb ihm anschließend. Ein Brief, der mit einer bemerkenswerten Feststellung des Historikers endet:
„Ich kann ihnen sagen, worüber ich mit ihnen öffentlich diskutieren würde: Warum die Partei „Die Linke aufgelöst gehört, damit endlich eine echte freiheitliche, demokratische, antifaschistische und antikommunistische linke Partei in Deutschland gebildet werden kann, die gesellschaftskritisch, staatskritisch, kapitalismuskritisch ist. Anders als Sie habe ich die SED als Staatspartei erlebt – das war schlimm genug…… Auch eine antirassistische, antikoloniale, antiimperiale Partei kann und muss eine demokratische, prowestliche, ökologische Freiheits- und Gerechtigkeitspartei sein. Und das ist die Partei „Die Linke“ nicht. Deshalb brauchen wir dringend eine linke Partei, die nichts mehr mit der SED/PDS und ihren antiwestlichen, antiamerikanischen, prorussischen, prochinesischen, prokubanischen Ausflüssen zu tun hat.“
Auf den Punkt gebracht bekennt Kowalczuk:
„Ich habe keine Angst. Aber ich befürchte mein Leben in der Freiheit könnte von zwei Abschnitten in Unfreiheit gerahmt werden […] Es ist so dramatisch, weil der Kampf um Freiheit nicht nur in Deutschland geführt wird, sondern in vielen Ecken dieser Welt. Leider ist das noch immer viel zu wenigen bewusst. Nicht einmal der verbrecherische Vernichtungsfeldzug der russländischen Föderation gegen die Freiheit, gegen die Ukraine konnte alle in Deutschland lebenden Menschen in eine breite Freiheitsfront zusammenschweißen – ganz im Gegenteil, gerade dieser Krieg hat den Riss, der durch die Gesellschaft geht, offener gelegt als sonst irgendwas.“
Es ist ein Riss, der durch die ganze deutsche Gesellschaft geht, der im Osten tiefer und unversöhnlicher ist, und der in der Frage nach dem Wert und dem Erhalt der Freiheit und der Solidarität füreinander, weit über Deutschland hinausreicht. Er wird sich, trotz aller gegenteiligen Hoffnungen nicht einfach überbrücken und aufheben lassen, so viel zeigt schon die Auswahl an Stimmen und Positionen, die hier zur Sprache kamen.
Dem in den kommenden Jubiläumswochen der Friedlichen Revolution mit weihevollen Feiertagsreden zu begegnen, die dem Mut und der Widerstandskraft „der Ostdeutschen" gewidmet sind, schlägt fehl. Auch die leichtfertige Behauptung, dass im Osten „alle gegen die Diktatur“ aufbegehrten, bleibt Augenwischerei und Schönrednerei. Zur Heuchelei wird sie, wenn im Osten ausgerechnet autoritätsgläubige Neuparteien behaupten, sie erst träten für die wahre Freiheit ein, als vermeintliche Erben der Friedlichen Revolution. Hier gilt es nach wie vor viel zurechtzurücken.
Ob emotionale Bücher dabei eher helfen, als streng versachlichte? Da bin ich mir nicht sicher. Auch Kowalczuk setzt als Historiker inzwischen auf einen bewusst wertenden, kommentierenden Ton, der aber mittlerweile unvermeidlich scheint, um hörbar Verträumte aufzuwecken, die sich mit Klischees a la Oschmann und Hoyer aus der Demokratieverteidigung in eine neue bequeme Sofaecke der Westfeindlichkeit zurückgezogen haben. Was Kowalczuk damit schafft, ist die alarmierende Erkenntnis:
Der Kampf um ein Leben in Freiheit, das Einstehen füreinander und die Freiheit des Nachbarn wird nicht nur in Ostdeutschland geführt. Aber hier wird er vielleicht entschieden.
Kowalczuks "Freiheitsschock" erlebt gegenwärtig einen außergewöhnlichen Run. Knapp vier Wochen nach Auslieferung wird bereits die fünfte Auflage des Bandes gedruckt, und die offizielle Buchvorstellung war erst am Abend des 12. September in Leipzigs Zeitgeschichtlichem Forum. Ein würdiger Ort für einen überfälligen und wichtigen Weckruf zur Zeit.
Zitierweise: Wolfgang Templin: „Westkolonisierung, Transformationshürden, „Freiheitsschock", in: Deutschland Archiv, 13.09.2024 Link: www.bpb.de/552032. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Wolfgang Templin ist Philosoph und Publizist. Von 2010 bis 2013 leitete er das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Warschau. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses und der Entwicklungen im östlichen Teil Europas, insbesondere in Polen und der Ukraine.