32 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen
Sechs Perspektiven auf das Ausmaß rechtsextremer Gewalt seit dem Mauerfall und deren Folgen.
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Was bedeuteten Mauerfall und Wiedervereinigung für Migrantinnen und Migranten im Einwanderungsland Deutschland? Anfangs für nicht wenige eine Angsterfahrung. Denn nach dem Mauerfall wurde an vielen Orten massiv Gewalt gegenüber Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland ausgeübt, und Neonazis proklamierten vor allem in ostdeutschen Regionen sogenannte national befreite Zonen. Einer der gewaltsamen Höhepunkte war das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen Ende August 1992, das später Geborenen allerdings immer weniger präsent ist. Deshalb nachfolgend ein vielperspektivisches Erinnerungsmosaik mit Stimmen aus Publizistik, Wissenschaft, aber auch aus einer vom Deutschlandarchiv 2023 preisgekrönten Rostocker Schülerzeitung:
1.) Was war damals geschehen? Zahlreiche von Neonazis ideologisierte Jugendliche belagerten Ende August 1992 über mehrere Tage die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter im sogenannten Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen und griffen es mit Molotowcocktails an. Die Polizei wirkte überfordert.
Zugewanderte verängstigte und verunsicherte dies stark, aber Anschläge und Morde durch Rechtsextremisten gab es nicht nur nach 1989 und nicht nur im Osten. Doch sie gab es dort in ungeahntem Ausmaß sogar schon vor dem Niedergang der DDR 1989, ohne dass davon viel an die Öffentlichkeit gelangt wäre. Hier die Spurensuche eines Augenzeugen, des ehemaligen Ostberliner Kriminalkommissars Dr. Bernd Wagner:
2.) Wie leicht rechtsextrem gesinnten Jugendlichen damals die Beeinflussung Gleichaltriger fiel, berichtet der ehemalige Ostberliner Neonaziführer Ingo Hasselbach im Gespräch mit zwei niederländischen Journalistinnen, Marijke van der Ploek und Manon de Heus. Der ehemalige DDR-Punk war im Gefängnis an einen Altnazi geraten, der ihn ins rechtsextreme Lager zog, dort könne er den Staat doch noch viel mehr provozieren. Hasselbach wurde zum Kopf eines Neonazitreffs im Osten Berlins und beteiligte sich 1992 aktiv an den Krawallen in Rostock-Lichtenhagen, zeigte aber später Reue, legte sich ein Pseudonym zu und verließ die Rechtsaußenszene. Er gründete gemeinsam mit Bernd Wagner (s.o.) die Aussteigerinitiative für Neonazis, Externer Link: EXIT-Deutschland, die nach eigenen Angaben inzwischen über 500 Neonazis zum Ausstieg verhalf.
Noch immer wird Hasselbach deshalb auch mehr als 30 Jahre danach von einigen einstigen Weggefährten bedroht, zuletzt musste er im Frühjahr 2022 die Teilnahme an der Geschichtsmesse der Stiftung Aufarbeitung in Suhl absagen, weil ihm die regionale Neonaziszene mit einem Anschlag drohte:
3.) Wie sich die Gewalt oder Gewaltandrohungen damals auf die Psyche von Menschen auswirkten, schildert eindrücklich die Filmwissenschaftlerin Angelika Nguyen, auch aus eigenen Erfahrungen. Anlass ihrer Betrachtung "Perspektiven, die ausgegrenzt und unterschlagen wurden", waren zunächst die Erlebnisse bei einer Filmproduktion 1991 mit ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern und Vertragsarbeiterinnen in der DDR, deren damals zunehmende Verängstigung immer spürbarer wurde angesichts des vielerorts zu beobachtenden Bagatellisierens sowie Ignorierens rechtsextremer Hassverbrechen - in Ost und West. "Es geht nicht darum, heute schlauer zu sein als gestern", schreibt sie in ihrem Beitrag aus dem 2021 veröffentlichten bpb-Band (Ost)Deutschlands Weg (SR 10676/I): "Es geht um die Einbeziehung bestimmter Perspektiven, von denen zu lernen wichtig ist. Es geht um jüdische, um migrantische, um queere Perspektiven und die der People of Colour, und, ja auch um ostdeutsche Perspektiven". Hier Angelika Nguyens Betrachtung:
4.) Die Publizistinnen Esther Dischereit und Heike Kleffner setzen diese Betrachtung in einem Essay aus der Sicht von Gewaltopfern fort und verfolgen die Spuren des Rechtsextremismus in Deutschland vom Mauerfall bis in die Gegenwart. Dabei beschreiben sie auch die zögerliche Untersuchung rassistischer und antisemitischer Netzwerke und ihrer Rolle bei Terroranschlägen, wie 2019 in Halle und Kassel oder 2020 in Hanau, die in der Regel schnell "Einzeltätern" zugeschrieben würden. Spätestens seit den Morden des nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) seien "viele Jahre vertan" worden, in denen "es darum hätte gehen müssen, genau und schärfstens hinzusehen" um effektivere Gegenstrategien abzuleiten:
5.) Während die fünf ersten Autoren und Autorinnen als ZeitzeugInnen und VertreterInnen der "Erlebnisgeneration" berichten, vertritt der nachfolgende Autor eine deutlich andere Sichtweise. Der Doktorand der Universität Rostock, Tilman Wickert, hält migrantische und publizistische Perspektiven auf den Einheitsprozess für überzogen, die die Jahre nach 1989 vor allem als eine politische Ausgrenzung und Marginalisierung von MigrantInnen beschreiben, mit dem die innere Einheit nur der Deutschen in Ost und West ermöglicht werden sollte. Faktisch habe es damals aber große Fortschritte im Ausländer- und Asylrecht gegeben, und die Neonaziszene habe mit ihrer Gewalt nicht den Einfluss gehabt, der ihr heute nachgesagt wird:
6.) Außergewöhnlich umfangreich ist zur Aufarbeitung des Rostocker Pogroms von 1992 dreißig Jahre später ein Schwerpunkt der Schülerzeitung „Innenhof" aus der 11. Klasse des Rostocker „Innerstädtischen Gymnasiums" geworden. Die bpb hat das Rechercheprojekt im Juni 2023 mit einem Sonderpreis beim bundesweiten Schülerzeitungswettbewerb der Länder honoriert. Die Redaktion hat sich am einstigen „Tatort“ in Rostock-Lichtenhagen auf eine facettenreiche Spurensuche begeben. Sie zeichnet zunächst sorgfältig nach, was damals geschah und warum sich die Polizei zunächst nicht blicken ließ.
Ausschnitt aus dem Leitartikel der prämierten "Innenhof"-Ausgabe über Rostock-Lichtenhagen.
Die „Innenhof"-Redaktion rekonstruiert, kommentiert und hinterfragt das Geschehen und die Konsequenzen daraus auf vielfältige Weise. Zusätzlich interviewt sie den seinerzeitigen Ausländerbeauftragten Rostocks, Wolfgang Richter, und den in Rostock ausgebildeten Maschinenbaumeister Nguyen Do Thinh, einen der Deutsch-Vietnamesen, die sich damals in Panik auf das Dach des Gebäudes flüchten mussten.
In einem weiteren Expert:innen-Interview an der Rostocker Uni und in ergänzenden Artikeln haken die Redakteur:innen nach und blicken in die Rostocker Gegenwart: Was hat sich seitdem verändert, wo ist Rassismus heute noch spürbar in der Stadt und was wird dagegen getan, zum Beispiel in Fußballvereinen?
Das Thema Rassismus wird im "Innenhof" auch in die Gegenwart geholt: Wo gibt es "Menschenfeindlichkeit" heute, was lässt sich dagegen tun?
QuellentextDrei Fragen an die "Innenhof"-Redaktion
Das Redaktionsteam der Schülerzeitung "Innenhof" aus dem Wahlpflichtkurs "Schülermagazin" des Innerstädtischen Gymnasiums der Hansestadt Rostock.
1) Wie kam es zu der Entscheidung, diesen Schwerpunkt zu setzen?
Wir wollten uns eigentlich für das Titelthema dieser Ausgabe dem Themenfeld Rassismus zuwenden. Dann kam schnell der Vorschlag, das dreißigjährige Gedenken zu Rostock Lichtenhagen ins Visier zu nehmen und das mit weiteren Rassismus-Beiträgen einzubetten. Als dann der Zeitzeuge Wolfgang Richter sofort bereit war, uns ein Interview zu geben und uns in der Schule zu besuchen, war klar, dass wir unsere Ausgabe dem Pogrom widmen werden. Bei ersten Umfragen vorab auf unserer Instagram-Seite wurde schnell deutlich, dass das sehr wichtig ist. Ein Drittel unserer Schüler:innen wussten nicht, was damals passiert ist und viele weitere hatten nur sehr vorurteilsbehaftete oder vage Kenntnisse.
Wir selber haben für uns festgestellt, dass es ganz anders ist, mit Zeitzeugen zu sprechen, statt nur Bücher und Artikel zu wälzen. Das Gespräch war sehr intensiv und wird uns lange im Gedächtnis bleiben. Außerdem ist uns noch bewusster geworden, wie wichtig es ist, für Toleranz und Weltoffenheit einzutreten. Es ist unglaublich, welchem Alltagsrassismus viele Menschen ausgesetzt sind.
Ausschnitt aus dem Textpaket im "Innenhof" über die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen 1992
3.) Wie war das Echo in Eurer Leser:innenschaft?
Wir sind mit vielen Schüler:innen ins Gespräch gekommen - ob am Tag der Veröffentlichung am Stand, später in Hofpausen oder im Klassenraum. Die Reaktionen waren ganz unterschiedlich - Betroffenheit, Interesse und Mitgefühl waren häufig spürbar.
Tatsächlich haben wir über unsere eigene Leserschaft hinaus Reaktionen erhalten. Von dem Lokalradio Lohro wurden wir zu einem Interview eingeladen, auch dem Dokumentationszentrum "Lichtenhagen im Gedächtnis" durften wir einen Besuch abstatten (und künftig wird auch unsere Ausgabe hier ausgelegt).
Zwei der zwölf Innenhof-Redakteurinnen aus dem Wahlpflichtkurs "Schülermagazin" des Innerstädtischen Gymnasiusm in Rostock
Auch auf der Seite des Rostocker Rathauses berichtete man über uns, das Rostocker Stadtarchiv wollte eine Ausgabe unseres Magazins für das Archiv haben, der Blog "Hanseator" nahm unseren Beitrag als Anlass, uns eine Spende zu überweisen und der St.Pauli-Fußballpodcast "MillernTon" sprach über uns.
Liebe Grüße an das Deutschlandarchiv vom Innenhof-Team und Nicole Giest
7.) Ergänzend einige Links zu lehrreichen Video-Zeitreisen in die Jahre 1992 und 1993, die, sofern noch online, in den Mediatheken mehrerer öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten angeboten werden. Hier eine Auswahl:
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