Bei den Landtagswahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen hat die Rechtsaußenpartei AfD rund 30 Prozent der Wählerstimmen erhalten. Wahlanalysten sehen hier den vorläufigen Höhepunkt eines langfristigen Rechtsrucks, der in Ostdeutschland besonders drastisch ausfällt. Ein Überblick.
In Karlsdorf in Thüringen holte die rechtsextreme AfD bei der Landtagswahl am 1. September 72 Prozent. Ein Rekordergebnis. In ganz Thüringen wurden die Rechtsaußen stärkste, in Sachsen ganz knapp hinter der CDU zweitstärkste Kraft, in Brandenburg ebenfalls, dort knapp hinter der SPD. Für viele Menschen in Deutschland ist das schockierend. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat eine rechtsextreme Partei in Thüringen eine Landtagswahl gewonnen, in Brandenburg und Sachsen beinah.
Die Ergebnisse sind der vorläufige Höhepunkt eines bundesweiten Rechtsrucks, der in Ostdeutschland besonders drastisch ist. Schon bei der vergangenen Bundestagswahl zeichnete sich ab, dass in den ostdeutschen Bundesländern die AfD vielerorts eine Mehrheit der Wähler*innen hinter sich hat.
Doch schon vor der Wiedervereinigung gewannen extrem rechte Politiker auch im Westen immer wieder viele Wähler*innenstimmen. In den 1960er Jahren war die NPD bereits in sieben Landtagen präsent, die Republikaner zogen 1989 ins Berliner Abgeordnetenhaus und ins Europaparlament ein und saßen schließlich von 1992 bis 2001 im Landtag von Baden-Württemberg. Die DVU (Deutsche Volksunion) zog kurz nach der Wende sowohl in die Bremer Bürger*innenschaft als auch in den Landtag von Schleswig-Holstein ein. In Hamburg konnte hingegen die extrem rechte Schill-Partei im Jahr 2000 gleich die Regierung mitbilden – dank einer CDU, die unbedingt die Macht der SPD brechen wollte.
In Hamburg zeigte sich damals, wohin eine mangelnde Abgrenzung nach rechts führen konnte. Dass rechte Bewegungen verharmlost werden und ihren Forderungen politisch sogar entgegengekommen wird, zieht sich als bundesweiter Trend durch die Jahrzehnte. Während – beispielsweise – Klimaaktivist*innen schnell zu „Terroristen“ abgestempelt werden, diskutieren Politik und Medien oft über Jahre, ob rechte Parteien wirklich „rechtsextrem“ sind und ihre Wähler*innen nicht einfach nur „Wutbürger“ oder „Protestwähler“. Heute finden sich die westdeutschen Hochburgen der AfD in Hessen – wo die Partei bei der Landtagswahl 2023 mit über 18 Prozent eines ihrer besten Ergebnisse im Westen erzielte –, in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern. Und es gibt neue Hochburgen dort, wo rechte Wähler*innen früher rar waren: In Molbergen, Niedersachsen, und Augustdorf, Nordrhein-Westfalen, erhielten rechte Parteien 2021 rund 20 Prozent der Stimmen. 1998 gab es in diesen Orten jeweils noch weniger als 1 und 3 Prozent rechte Wähler*innen.
Im Osten zunächst unter 5 Prozent
In Ostdeutschland vermochten es rechte Parteien dagegen direkt nach der Wende noch nicht, Stimmen einzusammeln: Bei der Bundestagswahl 1994 gab es kaum Gemeinden, wo sie zusammen mehr als 5 Prozent der Stimmen erhielten. Doch das Potenzial gab es: Inzwischen wird die gewalttätige rechte Hegemonie in den Ost-Bundesländern in den 1990er Jahren als „Baseballschlägerjahre“ zusammengefasst. Einzelne besonders gewaltsame Ereignisse, wie die Pogrome von Rostock und Hoyerswerda, wurden überregional wahrgenommen – für viele Menschen war aber auch der Alltag von rechter Gewalt durchsetzt.
Dass rechte Stimmen im Osten inzwischen soweit normalisiert sind, dass die AfD die stärkste Kraft im Parteiensystem ist, führt der Soziologe Steffen Mau in seinem Buch „Ungleich vereint“ auf eine „Verfestigung grundlegender kultureller und sozialen Formen“ zurück, die der AfD nützen. In der Wiedervereinigung seien die Ostdeutschen in die „Rolle des Sich-Einfügens, Unterordnens und Lernens“ verwiesen worden und wurden auch ökonomisch ausgegrenzt: Massenhafte Arbeitslosigkeit und berufliche Deklassierungen hätten nachhaltige Verletzungen ausgelöst.
1998 gab es dann in Ostdeutschland bereits flächendeckend mehr als 5 Prozent für rechte Parteien. In diesen Jahren zog die DVU in die Landtage von Brandenburg und Sachsen-Anhalt ein und Anfang der 2000er Jahre schaffte auch die NPD in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern den Sprung in den Landtag.
Ende der 2000er Jahre flaute der Zuspruch für rechte Parteien kurzzeitig wieder ab. In Sachsen, wo die NPD 2006 zum zweiten Mal in den Landtag einzog, grenzten die demokratischen Parteien die Rechtsextremist*innen dezidiert aus. Interne Konflikte führten dazu, dass die NPD-Fraktion deutlich schrumpfte.
In Mecklenburg-Vorpommern belasteten die Parteiverbotsverfahren die NPD, die hier ebenfalls nach zwei Legislaturperioden rausgewählt wurde. Und so bildet die Bundestagswahl 2009 vielerorts ein Zwischentief für rechtsextreme Parteien.
„Sarrazin war ein Rammbock“
Doch ein Jahr später gab es einen entscheidenden Wendepunkt für die Szene: Thilo Sarrazin veröffentlichte sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, das schon mehrere Jahre vor Gründung der AfD die neurechte Wende im rechtsextremen Milieu vorbereitete. Während die Neonazis der NPD noch relativ offen von Nationalsozialismus geschwärmt hatten, verankerte Sarrazin biologistische Positionen und eugenische Traditionen ohne direkten NS-Bezug breit in der deutschen Öffentlichkeit.
Dass er SPD-Mitglied war, verlieh seinen rechtsextremen Thesen ein neutrales Image. „Sarrazin war ein Rammbock“, sagte der rechtsextreme Verleger Götz Kubitschek in einem 2015 erschienenen Gesprächsband. Er sei „auf eine vorher nicht zu ahnende Weise durchgestoßen. Das war eine Resonanzbodenerweiterung für uns, Begriffe wurden ventiliert, die wir seit Jahren zuspitzen, aber nicht im Mindesten so durchstrecken können, wie Sarrazin das konnte.“
Als sich dann 2013 kurz vor der Bundestagswahl die „Alternative für Deutschland“ gründete, wählten fast überall in Deutschland mehr als 5 Prozent der Menschen rechte Parteien und die AfD verpasste nur knapp den Einzug in den Bundestag. Ihr Erfolg zeigt, dass rechtsextreme Wähler*innen sehr wohl verstanden, wer sich hier anbietet. Von Anfang an war die Partei von Rechtsextremist*innen durchsetzt.
Björn Höcke trat beispielsweise bereits in den ersten Monaten bei. Ein Jahr später schaffte die AfD den Einzug in die Landtage von Thüringen, Sachsen und Brandenburg – in Sachsen und Thüringen wird sie mittlerweile vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft.
In den Folgejahren wächst auch im Westen die Verunsicherung durch die kurz aufeinander folgenden Krisen: von der Krise der Flüchtlingspolitik 2015 über die Pandemie hin zum gestiegenen Handlungsdruck in der Klimakrise. 2017 steigt die Zustimmung für die AfD bei der Bundestagswahl auf über 12 Prozent. 2021 sinkt sie wieder leicht auf 10 Prozent. Doch der Rechtsruck ist geblieben und im Osten ist er so stark, dass im rechten Wahlergebnis 2021 die Grenzen der ehemaligen DDR wieder deutlich erkennbar sind.
Fast überall in Deutschland ist inzwischen die Zustimmung für rechte Parteien weit höher als in den 1990er Jahren. In Ost und West formiert sich eine Abwehr gegen eine vielfältige Gesellschaft und gegen die durch den Klimawandel notwendig werdende ökologische Transformation, getrieben von der Angst, den eigenen Lebensstandard nicht mehr halten zu können. In Thüringen und Sachsen ist aus der Abwehrhaltung inzwischen ein Machtanspruch geworden.
Zitierweise: Lalon Sander und Andreas Speit: "Der lange Weg nach rechts", www.bpb.de/552403, Deutschlandarchiv vom 20.9.2024, erstveröffentlicht in der taz vom 7.9.2024. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Eine ausführlichere Wahlanalyse folgt Ende September im Deutschlandarchiv (hk).
Lalon Sander ist Datenjournalist. Sein Schwerpunkt liegt in der Aufbereitung von Datensätzen zum Klimawandel und zu Entwicklungen bei Wahlen in Deutschland. Er arbeitet u.a. für die taz.
Andreas Speit ist Journalist, Publizist und Rechtsextremismusexperte. Für seine Veröffentlichungen wurde er 2007 Lokaljournalist des Jahres und erhielt den Preis des Medium Magazin, 2008 Mitpreisträger des "Grimme Online Award 2008" für das Zeit-Online-Portal "Störungsmelder" und 2012 Journalisten-Sonderpreis "TON ANGEBEN. Rechtsextremismus im Spiegel der Medien" des Deutschen Journalistenverbandes und des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt. Letzte Bücher: herausgegeben: Das Netzwerk der Identitären - Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten (2018), Die Entkultivierung des Bürgertum (2019), mit Andrea Röpke: Völkische Landnahme -Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos (2019) mit Jena-Philipp Baeck herausgegeben: Rechte EgoShooter - Von der virtuellen Hetzte zum Livestream-Attentat (2020), Verqueres Denken - Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus (2021).
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