Nach 1000 Tagen bitterem Krieg
Ein Kommentar von Marianne Birthler
Marianne Birthler
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Wir leben als freie Bürgerinnen und Bürger in einem freien Land! Dieses Glück feiern wir in diesem Herbst besonders intensiv, 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution in der DDR. In Dankbarkeit, dass die westlichen Alliierten vor fast 75 Jahren den Deutschen den gewaltfreien Weg in die Freiheit zutrauten. Und in großer Dankbarkeit dafür, dass die Freiheitsrevolution im Oktober 1989 ohne Blutvergießen möglich wurde. Das verdanken wir den damaligen politischen Umständen und mehr noch den vielen couragierten Menschen, die, insbesondere hier in Leipzig, aber auch in anseren Orten der DDR, das Wagnis auf sich nahmen und der Kraftprobe mit dem SED-Regime nicht auswichen.
Rückerinnerung. Der 9. Oktober 1989 in Leipzig
Ich erinnere mich gut an den Abend des 9. Oktober. In Berlin lagen am 7. und 8. Oktober 1989 zwei Tage und Nächte der Gewalt hinter uns, viele waren auf brutale Weise festgenommen worden. Doch auch an diesem dritten Abend war die Berliner Gethsemanekirche überfüllt.
Wir wussten von den Gefahren für die Männer und Frauen, die sich am 9. Oktober in vier Kirchen der Leipziger Innenstadt versammelt hatten. Was würde geschehen, wenn sie aus dem Schutz dieser Kirchen heraustreten würden? Uns hatten Nachrichten davon erreicht, dass um das Zentrum der Stadt herum bewaffnete Kräfte auf ihren Einsatz warteten. Auch die schrecklichen Bilder vom Juni in Peking waren uns gegenwärtig. Würde es auch bei uns zu einer „chinesischen Lösung“ kommen?
Einer von uns war am Telefon des Gemeindebüros geblieben und wartete auf Nachrichten aus Leipzig. Dann klappte eine Tür, und Till Böttcher stand atemlos am Mikrofon und rief: Der Ring ist zu! Wir verstanden ihn sofort. Die Leipziger waren ungehindert auf den Ring gelangt, und es waren so viele, dass er voller Menschen war.
In der Gethsemane-Kirche brach Jubel aus, und wir fielen einander in die Arme. Werner Fischer lief geistesgegenwärtig zum Glockenstrang und begann zu läuten. Und siehe da – als wir unsere schwere Kirchentür öffneten, waren auch hier die Sicherheitskräfte und ihre Fahrzeuge, die die Gethsemanekirche seit Tagen umlagert hatten, verschwunden. Eigentlich war noch gar nichts sicher. Aber wir spürten: Es ist geschafft. Die SED hat kapituliert. Noch waren Dutzende unserer Freunde im Gefängnis, so wie in Leipzig Katrin Hattenhauer. Aber sie würden alle freikommen, so viel war sicher. Das Gefühl der Freiheit war überwältigend, niemand von denen, die in Leipzig oder Berlin dabei war, wird es vergessen.
Das fast vergessene Leid in Belarus
Um diese Hoffnung auf Freiheit ging es vor zwei Jahren auch in Minsk. Doch es kam anders. Sie erinnern sich gewiss an die Frauen, die in ihren weißen Kleidern selbstbewusst und friedlich gegen die Scheinwahlen in Belarus demonstrierten. Unter ihnen die blonde, hochgewachsene Musikerin Maryia Kalesnikawa, ein Ausbund an Energie und Fröhlichkeit. Sie ist Opfer des so genannten Inkommunicadoregimes – einer grausamen Isolationshaft, die jeden Kontakt zur Außenwelt verbietet. Ihre Familie hat seit 578 Tagen keinerlei Kontakt zu ihr. Es heißt, dass sie nur noch 45 kg wiegt und dass Briefe, die an sie gerichtet waren, vor ihren Augen zerrissen wurden.
Auch die Familie von Maxim Znak hat seit 585 Tagen nichts von ihm gehört. Er ist Anwalt, Dichter und Musiker. Sein Buch „Zekamerone“ mit Kurzgeschichten über das Leben in den belarusischen Lagern hat auch in Deutschland viele Leser erschüttert. Ales Bialiatski, Friedensnobelpreisträger und Gründer des Menschenrechtszentrums Viasna, ist zum wiederholten Mal in Haft. Ein Mithäftling berichtete, dass er stark abgemagert und ständigen Schikanen ausgesetzt sei. Immer wieder würde er unter lächerlichen Vorwänden tagelang in die Strafzelle gesperrt. Auch er hat schon lange keinen Kontakt zu seinen Angehörigen.
Palina Sharenda-Panasyuk wird auch die „Jeanne d‘Arc“ aus Brest genannt. Sie wurde berühmt für ihr letztes Wort vor Gericht, als sie dem Richter jegliche Legitimität absprach. Mehrfach wurde ihr Haft verlängert - jeweils wenige Tage bevor sie freikommen sollte. Sie ist sehr krank, leidet an chronischer Pankreatitis, aber es gibt keine angemessene medizinische Versorgung. Niemand weiß, wie lange ihr Körper noch „durchhält“, die Schmerzen müssen schrecklich sein.
Stepan Latypov ist Baumpfleger und Aktivist eines Wohnviertels in Minsk, das 2020 für seinen friedlichen Protest und fröhliche Hoffeste landesweit berühmt wurde. Er versuchte im Gerichtssaal vergebens, sich das Leben zu nehmen, man konnte an ihm die Spuren schwerer Misshandlungen sehen. Im letzten Winter ist er im Lager an Skorbut erkrankt. Nur fünf Schicksale. Von etwa 1400 politischen Gefangenen in den Lagern und Gefängnissen Lukaschenkas. Wir können nicht viel für sie tun. Aber wir können von ihnen erzählen und öffentlich ihre Namen nennen, gerade weil das Regime will, dass sie vergessen werden. Ich bin dankbar, dies heute vor so vielen Menschen tun zu können. Belarus befindet sich nicht im Krieg. Aber auch nicht im Frieden, denn das belarussische Volk ist schon seit Generationen seiner Freiheit beraubt. Das Regime geht mit gnadenloser Gewalt gegen die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien vor. Zivilgesellschaftliche Organisationen wurden größtenteils verboten. Tausende Menschen, die sich an friedlichen Protesten beteiligt hatten, wurden verhaftet und leiden unter menschenunwürdigen Haftbedingungen.
Putins endlos brutaler Krieg gegen die Ukraine
Im Nachbarland von Belarus, in der Ukraine, herrscht ein grausamer Krieg. Putin lässt Städte in Schutt und Asche legen, Kinder entführen, Gefangene foltern und ermorden, und denkt überhaupt nicht daran, das Zerstören und Morden zu beenden. Längst führt er auch gegen uns und andere demokratische Länder Krieg, noch nicht mit Panzern, Raketen und Drohen, aber mit Desinformationen, Anschlägen auf die Infrastruktur und gezielten Morden. Er will die Ukraine bezwingen, Gossensprache und Vergewaltigungsphantasien eingeschlossen: „Ob es Dir gefällt oder nicht, meine Schöne, du musst es erdulden“.
Und wir, die freien Bürgerinnen und Bürger eines freien Landes? Die noch dazu in einer der wohlhabendsten Regionen Europas leben? „Nicht unser Krieg“ sagen hierzulande viele. Und die Mehrheit (53 Prozent) der Ostdeutschen stimmt dem Satz zu: „Deutschland sollte sich bemühen, die Kontakte zu Russland wiederaufzubauen und zu stärken“. Vielleicht, um Putin gnädig zu stimmen? Ungefähr genauso viele fordern, dass die Ukraine keine Waffen mehr aus Deutschland bekommt.
Und das alles angeblich aus Liebe zum Frieden. Mich erinnert das daran, wie der Friedensbegriff in der DDR missbraucht wurde. Am Rande der so genannten Friedensdemo vom 3. Oktober in Berlin hielt eine Ukrainerin ein Transparent hoch: „Euer Frieden ist unser Todesurteil!“
Die Menschen in der Ukraine verteidigen ihre Freiheit, weil sie nicht so leben wollen wie ihre Nachbarn in Belarus oder, noch schlimmer, wie in den von Russland besetzten Gebieten, in denen viele Tote noch in Massengräbern liegen und in denen Männer zwangsrekrutiert werden, um gegen ihr eigenes Land zu kämpfen. Alles keine schönen Themen für einen Feiertag, ich gebe es zu. Aber der Weg in die Freiheit führt oft auch über die bittere Erkenntnis von Tatsachen. „In der Wahrheit leben“ nannte Vaclav Havel das. Augen aufmachen, nicht wegschauen, wahrhaftig sein. Die Dinge beim Namen nennen.
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Zur Wahrheit gehört, dass wir uns längst mitten in einem harten Kampf befinden: Nicht zwischen Ost und West, nicht zwischen links und rechts, nicht zwischen oben und unten. Der Kampf, in dem wir bestehen müssen, ist der zwischen autoritären und liberalen Systemen, zwischen offenen Gesellschaften und Diktaturen, zwischen Menschen, die die Freiheit lieben und denen, die sie zwar im Munde führen, in Wahrheit aber verachten und bekämpfen. Putin hat keine Angst vor der NATO, sondern vor der Freiheit – denn sie würde seine Macht beenden. Und die Feinde der Freiheit in unserem Land müssen Angst, Lügen und üble Stimmung verbreiten – sonst verlieren sie ihre Gefolgschaft.
Sorgen wir also dafür, dass Putin seinen Krieg gegen die Ukraine verliert, also endgültig einsehen muss, dass er seine Kriegsziele nicht erreicht. Manche Politiker fürchten genau das - denn Russland ist wirtschaftlich, politisch und moralisch kaputt. Doch schlimmer wäre Putins Sieg über die Ukraine – denn dann würde es nicht lange dauern, bis er das nächste Land überfällt.
Die bittere Wahrheit lautet: Bis Russland – vielleicht, eines Tages! - nicht mehr gefährlich ist, müssen die freien Länder Europas bereit und in der Lage sein, sich zu verteidigen. Sorgen wir zweitens dafür, dass die demokratischen Parteien in unserem Land sich nicht vor den Feinden der Freiheit wegducken oder sich bei ihnen anbiedern. Dass sie einander nicht als Feinde, sondern als Konkurrenten und mit Respekt begegnen - und vor allem gute Politik machen!
Sorgen wir drittens für uns selbst: Machen statt klagen. Fragen statt Besserwissen. Das Leben genießen statt es schlecht zu reden. Sich einmischen statt wegzusehen. Freiheit ausprobieren statt sie zu fürchten. Aus der Erfahrung so einiger Lebensjahrzehnte erlaube ich es mir zum Ende, eine Empfehlung auszusprechen, und zwar: Lassen Sie sich auf ein Leben als freie Bürgerin oder als freier Bürger ein – und ich sage voraus, dass es Sie glücklicher machen wird.
Diese Rede hielt Marianne Birthler am 9. Oktober 2024 in Leipzig. Wir danken ihr, dass wir den Text übernehmen dürfen. Zitierweise: Marianne Birthler, "Nach 1000 Tagen bitterem Krieg", in: Deutschland Archiv, 23.11.2024, www.bpb.de/556918. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Marianne Birthler war Nachfolgerin Joachim Gaucks als Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in der Zeit von 2000 bis 2011. Im Jahr 1990 hatte sie sich in der DDR-Volkskammer vehement für die Sicherung der Stasiakten eingesetzt. In ihrer Autobiografie "Halbes Land, ganzes Land, Halbes Leben" (Berlin, 2014) beschreibt sie detailliert, wie mühsam dieser Prozess war. Der vorliegende Text ist mit freundlicher Genehmigung des Hanser-Verlags ihrem Buch entnommen.