Wenn im 35. Jahr nach der Friedlichen Revolution die großen Medien über die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler berichten, die mit ihrem Engagement den Menschen in der DDR 1989/90 den Weg zu Freiheit und Demokratie bereiteten, ist das nicht gerade überraschend. Doch dieses Jahr ist etwas anders. Der Anlass ist kein „Kalenderblatt“, keine Würdigung ihres damaligen Einsatzes. Es ist ein offener Brief, in dem sie Anfang August 2024 die etablierten Parteien vor der Kooperation mit einer Person und einer Partei warnten, durch die sie die Demokratie in Deutschland gefährdet sehen. Die große Resonanz auf ihr Schreiben „Sahra Wagenknecht lügt“ hatten die Unterzeichnenden anscheinend nicht erwartet, verfügen doch alle zusammen nur über einen Bruchteil von Wagenknechts Talkshowpräsenz. Im Brief, den der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk über seine reichweitenstarken Social-Media-Kanäle verbreitete, warfen sie Wagenknecht vor, sie verbreite Unwahrheiten und Putin’sche Propagandanarrative über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Die scharfe Reaktion Sahra Wagenknechts und ihrer Genossen verschaffte dem Brief weitere Beachtung. Sie selbst sah sich und ihre gleichnamige Partei kurz vor den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen als Opfer einer Kampagne. Aber nicht nur das: Es könne „wohl kaum im Sinne der DDR-Bürgerrechtsbewegung“ sein, die Ukraine weiterhin mit Waffen zu unterstützen, sei diese doch vor 1989 mit den Slogans „Schwerter zu Pflugscharen“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“ für Frieden und Diplomatie eingetreten, teilte Wagenknecht aus. Die „Diffamierung“ der Suche nach einer diplomatischen Lösung als russische Propaganda sei eine „Beleidigung für Millionen Ostdeutsche“, und überhaupt sollten sich die ehemaligen Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen lieber fragen, warum sich so viele Menschen in Ostdeutschland „an die Enge der DDR-Zeit erinnert fühlen“.
Man könnte das als Frechheit abtun – oder als Menetekel. Immerhin war Wagenknecht noch 1989 in die SED eingetreten und hatte als prominentes Mitglied der Kommunistischen Plattform der SED-Nachfolgepartei PDS den Stalinismus verteidigt. Gerade ihre Bekümmerung über „die Enge zu DDR-Zeiten“ ist von solcher Art Zynismus, die man sonst nur von Kremlsprechern kennt. Im Jahr 1996 hatte Wagenknecht noch ganz anders geklungen. In einem Interview hatte sie die Verhältnisse in der DDR für „allemal weit menschlicher“ befunden als jene in der heutigen Bundesrepublik. Darum wäre sie bereit, ihr letztes Hemd oder zumindest all ihre Blusen für die Wiedererrichtung dieser DDR zu geben. Auch wenn sie manche ihrer Ansichten inzwischen geändert haben mag: Für Belehrungen der Akteure der Friedlichen Revolution qualifizieren sie diese Aussagen nicht gerade. Der springende Punkt ist jedoch ein anderer: Wagenknechts Reaktion auf den Brief war kein spontaner Wutausbruch. Die westdeutsche BSW-Politikerin Sevim Dağdelen argumentierte kurz darauf in der Berliner Zeitung ebenso. Sie legte sogar noch nach und erklärte die DDR-Bürgerrechtler zu „Kriegstreibern“.
Wer vertritt das Erbe der Friedlichen Revolution?
Die Akteure der Friedlichen Revolution als Verräter an ihren eigenen Idealen hinzustellen, dient aber nur vordergründig dem Ziel, deren Kritik abzuwehren. Hinter den Angriffen steckt offensichtlich eine bereits seit Längerem verfolgte Strategie. Sie zielt darauf ab, das BSW als wahre Erben der Friedlichen Revolution darzustellen. Das scheint auf den ersten Blick absurd, verbindet man das BSW doch eher mit einer politischen Bewirtschaftung ostdeutscher Identitätspolitik samt positiven Bezügen zur DDR.
Auf den zweiten Blick ist ein solcher historischer Eklektizismus aber kein Widerspruch. Es ist ein Beispiel dafür, wie das BSW augenscheinlich vom großen Bruder in Moskau lernt. Schließlich stört sich auch Kriegsverbrecher und Hobbyhistoriker Wladimir Putin in seiner Geschichtspolitik nicht an Widersprüchen. Zur Legitimation seiner Herrschaft bedient er sich mal in der sowjetischen, mal in der Geschichte des imperialen Russlands und verwebt völlig Gegensätzliches zu einem Narrativ. Analog hat auch das BSW keine Schmerzen, sich als Nachfolger der DDR-Bürgerrechtsbewegung zu inszenieren und zugleich deren Akteure zu diffamieren. Auch hegt es keine Vorbehalte dagegen, ehemalige hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter in seine Reihen aufzunehmen. Es wirkt, als stutze sich das BSW die Geschichte offenkundig so zurecht, wie es sie gerade braucht.
In ihrer Reaktion auf den Brief hält Wagenknecht den Absendern aus der DDR-Friedens- und Bürgerrechtsbewegung zunächst vor, sie hätten ihre damaligen Ziele vergessen. Schließlich forderten sie anstelle von Diplomatie und Abrüstung nun Sanktionen für Russland und Waffen für die Ukraine. Anschließend insinuiert sie, das BSW und sie selbst seien mit ihrer „Friedenspolitik“ an deren Stelle gerückt. Steht nicht ihre Forderung nach dem Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine und einer Beilegung des Krieges auf dem Wege der Diplomatie in der Tradition von Slogans wie „Frieden schaffen ohne Waffen“?
Um diese historische Linie zu ziehen, bedarf es freilich einer kompletten Dekontextualisierung und inhaltlichen Entkernung dieser Slogans und der DDR-Friedens- und Bürgerrechtsbewegung. Als die etwa 13.000 Teilnehmer bei Wagenknechts und Alice Schwarzers „Aufstand für den Frieden“ im Februar 2023 „Frieden schaffen ohne Waffen“ skandierten, meinten sie damit etwas völlig anderes als Robert Havemann und Rainer Eppelmann, die ihren „Berliner Appell“ 1982 mit ebenjenen Worten überschrieben. Der überzeugte Kommunist und ebenso überzeugte Gegner des DDR-Regimes Havemann und der Pfarrer und spätere Abrüstungsminister der letzten DDR-Regierung Eppelmann forderten Diplomatie und Abrüstung, um die Konfrontation zweier Machtblöcke zu überwinden, bevor diese eskaliert.
Bei Wagenknecht und Co. dient die Forderung nach Frieden und Diplomatie, so mein Eindruck, eher als Deckmantel für die Forderung, Deutschland möge die Hilfeleistung gegenüber der angegriffenen Ukraine unter- und dem Aggressor Russland das Feld überlassen. Die meisten Forderungen des Appells von 1982 richteten sich zudem an den selbsternannten „Friedensstaat DDR.“ Dazu gehörten die Abschaffung des Schulfachs Wehrkunde und die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes für Wehrpflichtige.
Besetzte Symbole
Der Vereinnahmung der Friedlichen Revolution durch das BSW zeigt sich zudem in der betonten Nähe zu zahlreichen, nach Februar 2022 entstandenen regionalen und lokalen „Friedensgruppen.“ Auch sie versuchen offenbar gezielt, sich in der Tradition der meist im kirchlichen Umfeld aktiven Friedensgruppen innerhalb der DDR-Opposition zu verorten. Auf ihren Homepages und Transparenten ist häufig die Grafik „Schwerter zu Pflugscharen“ zu sehen. Als Aufnäher tausendfach verteilt, war diese Grafik das zentrale Erkennungszeichen der DDR-Friedensbewegung: Die Abbildung einer Skulptur, betitelt mit einem Bibelzitat, gefertigt von einem sowjetischen Bildhauer und von der Sowjetunion den Vereinten Nationen geschenkt, machte den DDR-Behörden die Kriminalisierung nicht leicht.
Gezielt veranstaltete eine BSW-nahe Gruppe, die „Initiative Friedenswende 2023“, im April dieses Jahres ein Friedengebet in der Leipziger Nikolaikirche – Form und Ort lassen keinen Zweifel an der Vereinnahmung der Friedlichen Revolution zu. Diese ging jedoch nicht allein von der dubiosen Initiative aus, die ein Jahr lang die rechtsradikalen „Freien Sachsen“ auf ihren Montagsdemos mitmarschieren ließ, bevor sie sich zu einer Distanzierung durchrang. Der Leipziger BSW-Kreisverband lud auf seinen Social-Media-Kanälen „herzlich“ zum Friedensgebet ein und verwies dabei auf eine Rede des ehemaligen Generals Erich Vad, der bereits bei Wagenknechts und Schwarzers „Aufstand für den Frieden“ gesprochen hatte.
Nun ist das BSW keineswegs der einzige Akteur im politischen Raum, der versucht, Symbole der Friedlichen Revolution zu besetzen und sich so als ihr Erbe zu präsentieren. Die Interner Link: Montagsdemonstration ist das am häufigsten überschriebene Symbol der Revolution: Die Proteste der WASG gegen Hartz IV, Pegidas montägliche „Abendspaziergänge“, die Proteste der Coronaleugner und die seit 2022 stattfindenden „Friedensdemos“ versuchen so, eine Linie von ihrem Anliegen zum Herbst 1989 zu ziehen. Den Slogan „Wir sind das Volk“ kaperten sowohl Pegida als auch die AfD, die damit in den Landtagswahlkämpfen 2019 warb. Auch das rief Protest unter ehemaligen Bürgerechtlern und Bürgerrechtlerinnen hervor.
Entsprechend sehen die Soziologen Greta Hartmann und Alexander Leistner das „Erbe“ von 1989 bereits seit Längerem als umkämpft an. Schon vor fünf Jahren konstatierten sie einen geschichtspolitischen Kampf um die Hegemonie bei der Deutung der Friedliche Revolution. Ziel der AfD sei es, deren Bedeutung auf den Widerstand der Regierten gegen die Regierenden zu verengen. Als selbsterklärte Erben würden sie nun das „deutsche Volk“ gegen die „neuen Eliten“ in Stellung bringen. Dass der Begriff Volk 1989 keineswegs im Sinne einer ethnisch homogenen Gemeinschaft verstanden wurde, stört die AfD dabei wenig. Genauso wenig stört es das BSW, dass die Friedensinitiativen vor 1989, etwa die Initiative Frieden und Menschenrechte, nicht für eine Friedhofsruhe à la Wagenknecht eintraten, die Aggressoren freie Hand lässt. Ihnen ging es um einen gerechten Frieden in einem offenen Land mit freien Menschen.
Leider macht es die bundesrepublikanische Gesellschaft autoritären politischen Kräften von AfD und BSW leicht, in solchen Deutungskämpfen zu punkten. In den Lehrplänen vieler Bundesländer eher am Rande platziert, medial nur im Fünfjahresrhythmus präsent und irgendwie als ostdeutsche Angelegenheit betrachtet, liegt das Thema auf der Straße. Es fehlt am Wissen darum, was der Einsatz für Freiheit und Demokratie in der DDR-Diktatur bedeutete, dass Einschränkung der Meinungsfreiheit etwas anderes ist als Ahndung von Aufrufen zur Gewalt – und wie viel Oppositionelle vor und während der Friedlichen Revolution riskierten.
Meist völlig ausgeblendet wird die Tatsache, dass die Friedliche Revolution nicht mit dem Mauerfall endete. Sie kam nun erst richtig in Fahrt. Die Proteste haben vor allem einen Prozess der demokratischen Selbstermächtigung der Menschen in der DDR in Gang gesetzt, in dessen Zuge die SED in den Dialog und schließlich an den Runden Tisch gezwungen wurde. Dort rangen ihr die Vertreter der Opposition unter Moderation von Kirchenvertretern die Macht ab und leiteten die Demokratisierung des Landes ein, die zu den ersten und letzten freien Wahlen in der DDR führte. Für all dies fehlt ein angemessener Platz in der kollektiven Erinnerung Deutschlands.
Es braucht ein Forum für Opposition und Widerstand
Einen Vorschlag, wie dieser geschaffen werden kann, hat die Robert-Havemann-Gesellschaft unterbreitet: Die Schaffung eines Forums Opposition und Widerstand. Es könnte mit Bildungsarbeit, Ausstellungen, Archiv und Forschungskolleg diesen Teil der Geschichte angemessen aufbereiten und die Friedliche Revolution als Teil der deutschen Demokratiegeschichte und der europäischen Freiheitsrevolution von 1989 erzählen. Es könnte den Fokus der DDR-Forschung auf den Repressionsapparat um die Perspektive jener ergänzen, die so lange gegen die Mauer drückten, bis sie schließlich fiel.
Schließlich könnte das Forum mit einem Blick auf das letzte Jahr der DDR nicht nur die Probleme, sondern auch die Erfolge des demokratischen Selbstfindungsprozesses aufzeigen. All dies prägte das heutige Deutschland stärker, als vielen bewusst ist. Sicher, ein solches Forum wird die Vereinnahmungsversuche durch Demokratiefeinde und die geschichtspolitischen Deutungskämpfe nicht beenden. Aber es kann ein Ankerpunkt für Auseinandersetzungen über Ziele und Wirkung des Aufbegehrens in der DDR sein, statt diese Parteistrategen von AfD und BSW zu überlassen.
Dieses Forum Opposition und Widerstand ist keine vage Idee. Seine inhaltliche und praktische Konzeption hat die Robert-Havemann-Gesellschaft in einer umfangreichen Machbarkeitsstudie präsentiert, an der unter anderem Wissenschaftler des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung mitgewirkt haben. Auch die bauliche Machbarkeit auf dem entstehenden Campus für Demokratie in Berlin-Lichtenberg wurde geprüft. Es gibt sogar einen befürwortenden Bundestagsbeschluss aus dem Juni 2023. Was aber fehlt, ist der Startschuss in Form der Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel. Die Einrichtung dieses „Forums Opposition und Widerstand“ wäre ein Signal, das Erbe der Friedlichen Revolution nicht jenen zu überlassen, die es gegen unsere Demokratie wenden wollen.
Zitierweise: Stephan Stach, Wem gehört die Friedliche Revolution? In: Deutschland Archiv Online vom 20.9.2024, Link: www.bpb.de/552399. Eine kürzere Textfassung erschien am 3.9.2024 in der FAZ. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Ergänzend:
Stefan Wolle, Interner Link: Der lautlose Aufstand. Über den Verlauf der Friedlichen Revolution. Deutschlandarchiv vom 5.9.2024.
Sigbert Schefke, Interner Link: Schlüsselmoment der Geschichte: Der 9. Oktober 1989. Deutschlandarchiv vom 9.10.2023.
Interner Link: Die Wege zum 9. November 1989, Ein Mosaik. Deutschland Archiv vom 1.7.2024.
Réné Perraudin und Holger Kulick, Interner Link: Vom Einläuten der Revolution 1989, eine Videodokumentation im Deutschlandarchiv.
Elske Rosenfeld, Interner Link: Welche Zukunft liegt in Halle? Über das Zukunftszentrum Deutsche Einheit. Deutschlandarchiv vom 13.9.2023