Die weichgespülte Republik - wurden in der DDR weniger Kindheitstraumata ausgelöst als im Westen?
Christian Zippel
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Experten sind uneins: Gab es mehr traumatisierte Kinder in der DDR oder in der Bundesrepublik? In einer längeren Abhandlung setzt sich der Berliner Facharzt Christian Zippel kritisch mit Thesen auseinander, in der DDR hätten Kinder seltener Missbrauch und Vernachlässigung erlebt. Aus seiner Sicht ist das Gegenteil der Fall, vorliegende Studien seien mangelhaft, um die DDR schöner zu reden, als sie war.
Einleitung
Seit einiger Zeit ist einer Reihe Veröffentlichungen zu entnehmen, dass wissenschaftliche Untersuchungen nachgewiesen hätten, dass in der DDR auf Grund einer besseren Kinderbetreuung „weniger Kindheitstraumata als im Westen“ verursacht worden sind. Diese Schlussfolgerung wurde aus Ergebnissen einer Studie gezogen, über die unter dem Titel „Belastende Kindheitserfahrungen beim Aufwachsen in Ost- oder Westdeutschland oder im Ausland“ 2023 berichtet wurde. Im März 2024 wurde aus einer Untersuchung über „Frühkindliche Betreuung in der ehemaligen DDR und psychische Belastung im Erwachsenenalter“ gefolgert, dass die „externe“ Versorgung von Babys und Kleinkindern tagsüber in Kinderkrippen nur unwesentlich zu psychischen Spätschäden im Erwachsenenalter geführt habe.
Beide Studien stammen aus einem Forschungsprojekt der Universität Mainz „DDR-Vergangenheit und psychische Gesundheit: Risiko- und Schutzfaktoren“, das mit unter der Leitung von Prof. Dr. Elmar Brähler steht, seit 2013 emeritierter Professor für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. Die im Vergleich zum Westen Deutschlands besseren Bewertungen der Lebens- und Betreuungsbedingungen von Kindern in der DDR und möglichen psychischen Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter, wurden von Teilen der Presse kritiklos übernommen. So heißt es in einer Kolumne: „...die Ostdeutschen hatten in der Kindheit seltener emotionalen Missbrauch, körperlichen Missbrauch, Vernachlässigung erlebt“, wofür als Gründe „von Brähler und seinen Co-Autoren unter anderem die bessere Kinderbetreuung (mit einer Ausnahme, den Wochenkrippen), weniger strenge Erziehungsideale, das frühere Verbot der Prügelstrafe in Schulen“ angeführt werden, bekräftigt durch die knallige Schlagzeile „Kindheitstraumata: Im Osten seltener als im Westen“.
Unter dem reißerischen Titel „Kinderbetreuung in der DDR: Das Klischee vom Krippentrauma“ wurde freudig begrüßt, dass die Auswertung der Studie über die „Frühkindliche Betreuung in der ehemaligen DDR und psychische Belastung im Erwachsenenalter“ ergeben hätte, dass eine frühkindliche Betreuung in einer Kinderkrippe nicht zu psychischen Spätfolgen im Erwachsenenalter geführt habe. Unter der Überschrift „Was ist dran an der These vom Krippentrauma?“, Untertitel „Manchmal scheint Familie verklärt zu werden“, nutzt eine andere Kolumnistin die Gelegenheit, hochpolemisch mit einer Kritikerin einer frühkindlichen Kinderbetreuung, der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Agathe Israel, „abzurechnen“, so mit der Unterstellung: „ob es nicht sein könnte, dass eine Psychiaterin nach vielen Jahren im Beruf überall psychische Problemlagen und Traumata sieht. So wie Onkologen überall Krebserkrankungen wittern.“ Die Kolumnistin glaubt zudem, einem Interview mit Agathe Israel den „implizierten Vorwurf“ zu entnehmen, dass “Eltern, die kleine Kinder in die „Fremdbetreuung“ geben, sich egoistisch verhielten, weil ihnen Geldverdienen und ihr Lebensstandard wichtiger sei als die Entwicklung des Kindes.“ Aber davon war im betreffenden Interview mit dem Tagesspiegel am 19.04.2024 nicht die Rede.
Sicher ist zu unterscheiden, was wissenschaftliche Studien ergeben haben, und was Medien daraus machen. Aber es darf nicht hingenommen werden, dass Medien auf derartig plakative, unkritische und uneingeschränkt zustimmende Weise Studienergebnisse und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen als gültige Wahrheit „verkaufen“, ohne die zugrunde liegenden Publikationen gründlich geprüft zu haben. Hätten sich die beiden Autorinnen der infrage stehenden Kolumnen sich dieser Mühe unterzogen, wären ihnen sicher einige fragwürdige Aussagen und Unstimmigkeiten aufgefallen, was – vielleicht – eine differenzierte Beurteilung beider Arbeiten bewirkt hätte. Immerhin räumen beide Journalistinnen ein, dass ihre rundum bejahenden Bewertungen beider Untersuchungen und den daraus gezogenen Folgerungen auch auf direkte Kontakte mit Professor Elmar Brähler zurückzuführen sind.
Umso mehr ist es erforderlich, beide Veröffentlichungen kritisch zu prüfen. Es geht dabei keineswegs um den Versuch, ergründen zu wollen, ob im Osten oder Westen mehr oder weniger Kindheitstraumata ausgelöst worden sind – die stark unterschiedlichen politischen Systeme lassen derartige Feststellungen kaum zu.
I. Über die Suche nach „belastenden Kindheitserfahrungen in Ost und West“
Zur Publikation über „Belastende Kindheitserfahrungen beim Aufwachsen in Ost- oder Westdeutschland oder im Ausland“ drängen sich einige Nachfragen auf, die das Untersuchungsdesign und mehr noch die Interpretationen der Studienergebnisse betreffen. Der ACE-Fragebogen fragt vor allem nach Misshandlungen in der Familie.
1. Für die Untersuchung über „belastende Kindheitserfahrungen“ wurde der sogenannte ACE-Fragebogen (ACE) verwendet, der Adverse childhood experiences questionnaire. Der ACE wurde in den USA entwickelt, wo auch die ersten Studien auf ACE-Basis durchgeführt wurden, die deutsche Version des ACE lehnt sich daran an. Der ACE wird wissenschaftlich breit eingesetzt, wenn ermittelt werden soll, welche Ereignisse und Erlebnisse in der Kindheit und Jugendzeit bis zum 17. oder 18. Lebensjahr zu nachhaltigen psychischen Belastungen im Erwachsenenalter geführt haben können, die „bei einem Elternteil, zwischen den Eltern oder einer anderen im Haushalt lebenden Person“ aufgetreten oder von ihnen ausgegangen sind. Bei den „mit im Haushalt lebenden Personen“ kann es sich neben Großeltern und anderen Verwandten auch um Stiefväter oder Stiefmütter handeln. Folgende zehn Items werden durch ein dichotomes Antwortformat, das heißt mit „Ja“ oder „Nein“ erfasst, sehr vereinfacht ohne weitere Differenzierung:
Emotionale Misshandlung
Körperliche Misshandlung
Sexueller Missbrauch – nur diese Frage ist nicht auf den familiären Haushalt beschränkt
Emotionale Vernachlässigung
Körperliche Vernachlässigung
Trennung der Eltern
Häusliche Gewalt gegen die Mutter durch den Lebenspartner oder einer anderen im Haus Haushalt lebende Person
Substanzabusus eines Haushaltsmitglieds, womit Suchtprobleme durch Alkohol
und/oder Drogen gemeint sind
Psychische Erkrankung eines Haushaltsmitglieds
Gefängnisaufenthalt eines Haushaltsmitglieds.
Wenn auch der ACE vorrangig nach negativen Kindheitserfahrungen fragt, die im häuslichen Umfeld geschehen sind, so bildet die Frage nach sexuellem Missbrauch eine Ausnahme, weil derartige Übergriffe auch außerhalb des familiären Bereichs verübt werden können. Die diesbezügliche Frage lautet nach der ACE-Version der Havard University: „Hat ein Erwachsener oder eine Person, die mindestens fünf Jahre älter ist als Sie, Sie jemals… berührt oder gestreichelt oder hat sie Ihren Körper auf sexuelle Weise berührt? Oder es versucht? Oder tatsächlich Oral-, Anal- oder Vaginalverkehr mit Ihnen gehabt?“
Dass häusliche Gewalt ein wesentlicher Risikofaktor für Kindesmisshandlung darstellt, wird überzeugend in einer Publikation beschrieben, die über eine repräsentative Stichprobe der deutschen Bevölkerung (N = 2531) zum Erleben von häuslicher Gewalt auf Basis einer Befragung mit dem ACE durch Befragung mit dem ACE berichtet. Dort heißt es unter anderem: “Belastende Kindheitserlebnisse (adverse childhood experiences; ACE) wie Misshandlung, aber auch das Erleben von Gewalt in der Paarbeziehung der Eltern (häusliche Gewalt) in der Kindheit, können das Leben auf vielfältige Weise beeinträchtigen.“
In der Studie über „Belastende Kindheitserfahrungen beim Aufwachsen in Ost- oder Westdeutschland oder im Ausland“ wurde für die Befragung ebenfalls der ACE verwendet. An der Untersuchung im Jahr 2020 nahmen 3.711 Personen teil, die vor allem im Westen Deutschlands aufgewachsen sind, und 1.015 Personen, die ihre Kindheit vorwiegend in der DDR verbracht haben, jeweils fast hälftig Frauen und Männer. Weitaus weniger der befragten Personen wuchsen vorwiegend im Ausland auf. Die Studienteilnehmer waren durchschnittlich um die 50 Jahre alt, nur wenige wurden vor 1945 geboren.
2. Es spricht viel dafür, dass sich die AutorInnen der betreffenden Publikation eher dürftig über die Lebensbedingungen von Kindern in der DDR informiert haben, sodass wichtige Fakten zur Versorgung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der DDR unbeachtet blieben. Gerade die über viele Jahre umfangreiche Versorgung von Kleinkindern in der DDR durch „fremde“ Personen tagsüber in einer Kinderkrippe, kann als eine gewisse Besonderheit in Bezug auf eine „Fremdbetreuung“ gelten. Begrifflichkeiten wie „frühe Fremdbetreuung“ und "frühe außerfamiliäre Betreuung" beziehen sich darauf.
Eine „Fremdbetreuung“ von Kleinkindern ab 6. Lebenswoche bis 3. Lebensjahr in Kinderkrippen kann potenziell zu psychischen und sozialen Folgen im Erwachsenenalter führen. Darauf wird im Abschnitt II „Fremdbetreuung“ von Kleinkindern in Kinderkrippen – folgenlos?“ eingegangen, in dem der Fachartikel über „Frühkindliche Betreuung in der ehemaligen DDR und psychische Belastung im Erwachsenenalter“ und die zugrunde liegende Studie kritisch betrachtet wird.
Desgleichen finden im Bericht über „Belastende Kindheitserfahrungen…“ weder die in der DDR häufige Fremdbetreuung von Babys und Kleinkindern in Wochenkrippen noch die von Kindern im 3. bis 6. Lebensjahr in Kinderwochenheimen Erwähnung, ebenfalls nicht die verschiedenen Varianten der Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen vom 6. bis zum 18. Lebensjahr. Das ist nicht verwunderlich, denn wesentliche Forschungsarbeiten über spezifische Aspekte der Heimbetreuung von Kindern und Jugendlichen in der DDR sind nicht im Quellenverzeichnis enthalten, abgesehen von einer bemerkenswerten Publikation über sexuellen Missbrauch in der DDR.
„Fremdbetreuung“ – Bedeutung und Gründe
Um nachhaltige Traumata erfassen zu können, die in der Kindheit ausgelöst wurden, hätte unbedingt erfragt werden müssen, ob sie möglicherweise während einer „Fremdbetreuung“, auch als „externe“ oder „außerfamiliäre“ Betreuung verursacht wurden. Diesbezügliche Fragen hätten allen Studienteilnehmern gestellt werden müssen, denn auch in den alten Bundesländern gab es „externe“ Versorgungsstrukturen für Kinder und Jugendliche in Heimen, durch Tagesmütter oder Pflegefamilien, allerdings im erheblich geringerem Umfang als in der DDR. Die Reduzierung der Studie – mit Ausnahme des sexuellen Missbrauchs – allein auf Ereignisse, die im häuslichen Umfeld Kindheitstraumata ausgelöst haben, macht generalisierende Aussagen über die Häufigkeit von Kindheitstraumata in Ost und West fragwürdig. Darauf hätte in den Limitationen, den Bewertungsgrenzen der Studienergebnisse, zwingend hingewiesen werden müssen.
Es sei betont, dass keineswegs Kinder als „fremdbetreut“ gelten, die in der Arbeitswoche tagsüber eine Kindertagesstätte/KitaÜ3 – gern Kindergarten genannt – besuchen, die also früh, abends, über Nacht und an den Wochenenden bei ihren Eltern im gewohnten häuslichen Umfeld sind. Diese vorschulische Tagesbetreuung und -erziehung in Kitas ist wünschenswert, weil die Kinder in der Regel vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr gezielt auf den schulischen Alltag vorbereitet werden, sie lernen gemeinschaftlich zu leben, zu fühlen und zu handeln. Die Tagesbetreuung von Vorschulkindern in KitasÜ3 wird zunehmend auch in den westlichen Bundesländern Deutschlands als wichtig und richtig empfunden.
Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen außerhalb der Familie über längere Zeiten war in Ost und West seit jeher ein emotional ein stark umstrittenes Thema, verständlich, weil vermutet werden durfte, dass längere Zeiten einer außerfamiliären „Fremdbetreuung“ negative, nachhaltige Auswirkungen auf die Psyche und sogar Physis bei betroffenen Kindern und Jugendlichen haben können. Das konnten unterdessen Untersuchungen wissenschaftlich belegen.
Allgemein gelten Kinder als „fremdbetreut“, wenn sie über die Arbeitswoche, Wochen oder Jahre in sogenannten Wochen- oder Heimeinrichtungen aufwachsen, sie in größere Gruppen durch wechselndes Personal im Schichtdienst betreut und versorgt werden, sie bestenfalls an den Wochenenden und in Urlaubszeiten bei den Eltern oder anderen vertrauten Personen sind. Die Staatsmacht der DDR hatte schon bald nach ihrer Gründung begonnen, ein breites System an Kinder- und Wochenkrippen zu installieren. So gab es in der DDR bereits 1950 271 Einrichtungen mit 8.500 Plätzen, davon circa 30 Prozent für Wochenkinder, 50% für Heimkinder und nur 20% für Kinder in Tageseinrichtungen. Das wurde vor allem ideologisch begründet:
Heranwachsende sollten schon vom Kleinkindalter an zu einem bewussten, der Gesellschaft verpflichteten Verhalten im Sinne der sozialistischen Familienerziehung erzogen werden. So war es im Familiengesetzbuch der DDR 1965, Teil 3, §§ 2 und 3, Abs.1, § 42 im ähnlichen Wortlaut niedergelegt, wofür auch der Begriff vom „Kollektivierungsmodell“ stehen kann.
Im Bestreben, die Gleichberechtigung der Frauen zu fördern, und die Arbeitskraft der Frauen soweit möglich zur Verfügung zu haben, mussten Bedingungen vorgehalten werden, die es Frauen erleichtern, die Belastungen in Beruf und Familie vereinbaren zu können. Dazu gehörte, den Ausfall der weiblichen Arbeitskraft durch Schwangerschaft, Geburt und Kleinkindbetreuung so kurz wie möglich zu halten.
Andere Gründe erklären sich aus den Anforderungen, die der Alltag in der DDR stellte:
Es gab den ökonomischen Druck, der besonders auf jungen Frauen lastete, so bald wie möglich nach der Geburt eines Kindes, das heißt nach Ende des bezahlten Mutterschutzes, wieder ihre berufliche Arbeit aufzunehmen.
Lange Zeit war es üblich, relativ jung zu heiraten. Gerade junge Ehepaare mussten gemeinsam für den Lebensunterhalt zu sorgen, denn in der Regel reichte der Verdienst nur eines Partners dafür nicht aus.
Mit einer frühen Heirat wurde nicht nur angestrebt, sobald wie möglich einen eigenen Hausstand aufzubauen, als Ehepaar hatte man angesichts der allgemeinen Wohnungsnot auch eher die Chance, mit der Zuteilung einer eigenen Wohnung rechnen zu können.
Ein weiterer Grund war, dass bis in die 1970er Jahre Mütter oft gezwungen waren, bereits wenige Wochen nach der Geburt eines Kindes an ihren Arbeitsplatz zurück zu kehren, alleinstehende Mütter sowieso, weil schon nach wenigen Wochen der bezahlte Mutterschutz endete, unter Umständen ging sogar der gewohnte Arbeitsplatz verloren. Bis 1963 endete der bezahlte Mutterschutz bereits sechs Wochen nach einer Geburt, bis 1972 nach acht Wochen, bis 1976 nach zwölf Wochen. Ab 1976 wurde der bezahlte Mutterschutz auf fünf Monate ausgedehnt, nach der Geburt eines zweiten Kindes konnten die Mütter ein ganzes Jahr bezahlte Elternzeit nehmen, ab Mai 1986 bereits ab erstem Kind.
Im Vorgriff auf die Regelungen von 1986 wurde bereits ab 1976 relativ großzügig ein bezahltes Mutterjahr schon mit der ersten Geburt eines Kindes gewährt, besonders wenn nicht genügend Krippenlätze zur Verfügung standen, gerade in ländlichen Gebieten, oder wenn Betriebe, Institutionen und Verwaltungen damit aus pragmatischen Überlegungen – zum Beispiel auf Grund der Erfahrung, dass junge Müttern häufige Arbeitsausfallzeiten wegen Erkrankungen des Kleinkindes hatten – einverstanden waren, oder Mütter hartnäckig darauf bestanden, schon ab erstem Kind ein bezahltes Elternjahr zu nehmen. Besonders wenn die ökonomische Situation der Familie es erlaubte, haben sich viele Frauen dem Druck auf frühe Wiederaufnahme der Berufstätigkeit nach der Geburt eines Kindes entzogen. Diese Familien bildeten allerdings lange Zeit eine Minderheit.
Trotzdem lagen in den Familien die Lasten der Erziehung und Versorgung der Kinder weiterhin überwiegend bei den Müttern, was dem traditionellen Familienbild entsprach. Immerhin waren 1989 in der DDR gut 80 Prozent der Mütter berufstätig.
Erst umfangreiche familienpolitischen Maßnahmen ab 1972 mittels deutlicher Verlängerung der bezahlten beruflichen Freistellung nach Geburten und großzügigen Familiengründungskrediten, führten zu fühlbaren Entlastungen für Mütter und ihren Familien. Allerdings konnte der durch den „Pillenknick“ verursachte Geburtenrückgang weder ausgeglichen noch aufgeholt werden, wenn auch die Geburtenrate in der DDR in den ersten Jahren nach Einführung der familienpolitischen Bestimmungen stieg.
Institutionelle Formen der Fremderziehung in der DDR
3. Neben dem System von Kinderkrippen gab es in der DDR eine Vielfalt an „externen“, außerfamiliären Versorgungsstrukturen für Kinder und Jugendliche. Daran hätte in der Studie über „Belastende Kindheitserfahrungen…“ gedacht werden müssen, vor allem im Hinblick auf mögliche daraus resultierende Traumata, die durch eine Heimversorgung als solche wie auch durch kritische Zustände in den Heimeinrichtungen ausgelöst sein könnten.
„Fremdbetreut“ waren Kleinkinder, die bis zum 3. Lebensjahr in Wochenkrippen leben mussten. Sie waren nur an den Wochenenden, oft nicht an allen, und in den Urlaubszeiten bei ihren Eltern, normalerweise ihre wichtigsten Bezugspersonen. Heike Liebsch, die selbst längere Zeit in einer Wochenkrippe verbringen musste, hat über Wochenkrippen und Wochenheime intensiv geforscht, auch mittels tiefgehender Gespräche und Interviews mit ehemaligen Wochenkindern. Sie schätzt ein, dass während des Bestehens der DDR circa 200.000 Kleinkinder in Wochenkrippen betreut wurden, in manchen Zeiten bis 30 Prozent aller Krippenkinder. Das ließ sich unter anderem aus der Anzahl von Plätzen in Wochenkrippen herleiten, die 1966 bei 39.124 in 744 Wochenkrippen, davon 462 in kommunaler und 282 betrieblicher Trägerschaft, und 1980 noch bei 17.655 lagen. Diese Zahlen nennt sie auch im Interview mit der Berliner Zeitung. Die Wochenkrippen wie die Kinderkrippen unterstanden den zuständigen Abteilungen des Gesundheitswesens der Land- oder Stadtkreise.
Es gab für Eltern unterschiedliche Gründe, ihre Kleinkinder über die Arbeitswoche oder anhaltend längere Zeiten in Wochenkrippen versorgen zu lassen:
Elternpaare und alleinstehende Mütter, davon waren 1977 40 Prozent ledig, 25% geschieden, die in Schichtarbeit oder Berufen mit häufigen Bereitschaftsdiensten tätig waren,
nicht selten spielten lange Wegezeiten zu Kinderkrippen und/oder zu den Arbeitsstellen eine Rolle,
Studierende, besonders in Prüfungszeiten,
Eltern, die sich zugunsten von Beruf und Karriere zu Lasten ihres Nachwuchses stark engagierten,
Eltern, die sich – entsprechend ideologisiert – auf Kosten ihres Kindes bewusst zuerst dem „Aufbau des Sozialismus“ verpflichtet fühlten.
Es gab auch Gründe, die die Unterbringung von Kleinkindern in Wochenkrippen geboten erscheinen lassen, zum Beispiel wenn
Eltern oder alleinstehende Mütter mit der täglichen Betreuung ihres Nachwuchses überfordert waren oder sich überfordert fühlten,
Eltern wegen psychischer und/oder physischer Krankheiten real nicht in der Lage waren, den Versorgungs- und Betreuungspflichten ihrer Kinder ausreichend nachzukommen,
wenn Kleinkinder vor häuslichen Misshandlungen oder starker Vernachlässigung geschützt werden mussten, Kinder faktisch aus sozialer Indikation in Wochenkrippen oder Wochenheime eingewiesen wurden, oder
Eltern wegen exzessivem Alkoholkonsum die Versorgung ihrer Kinder nicht ausreichend wahrnahmen.
Es ist erwiesen, dass die Gefahren von Alkoholmissbrauch der Eltern auch für ihre Kinder evident sind, weil dadurch verursachte Kindheitstraumata die 10-fach höhere Gefahr bedingen, im späteren Leben selbst dem Alkohol zu verfallen. Alkoholholmissbrauch war keineswegs nur ein Problem der DDR, denn der Alkoholkonsum bewegte sich in Ost und West nach diesbezüglichen Recherchen in ähnlich hohen Bereichen: so schluckten Westdeutsche 11,8 Liter reinen Alkohol pro Kopf und Jahr, Ostdeutsche „nur“ 11 Liter.
Von den Teilnehmern der Studie der Uni Rostock über ehemalige Wochenkrippenkinder hat keiner als Grund für die Aufnahme in einer Wochengrippe Alkoholmissbrauch der Eltern genannt, sondern fast ausnahmslos berufliche und andere persönliche Gründe der Eltern. Aber die Studienteilnehmer haben häufiger von Traumatisierungen in ihren Familien berichtet als die Personen, die ehemals in einer Tageskrippe oder in der Familie betreut wurden.
Erst nach Einführung von Elternzeiten, auch als Mütterjahre bezeichnet, ging in der DDR die Zahl von Kleinkindern deutlich zurück, die in Kinderkrippen oder Wochenkrippen untergebracht wurden. Das begann besonders ab 1976, weil – wie oben beschrieben – seitdem Mütter ihr erstes Kind bis 20 Wochen nach der Geburt zu Hause betreuen konnten, ab zweitem Kind ein bezahltes Elternjahr genommen werden konnte, ab Mai 1986 bereits ab erstem Kind, was aber schon in den Jahren vorher recht großzügig gewährt wurde. 1989 wurden nur noch 1,6 Prozent aller Kleinkinder einer Wochenkrippe versorgt. Erst 1992 wurden die letzten Wochenkrippen geschlossen, weil einige Eltern auf der Erfüllung entsprechender vertraglicher Zusicherungen bestanden. Auf dieses überraschende Faktum weist Florian von Rosenberg hin.
In Wochenheimen wurden Kinder im Alter zwischen drei und sechs, vereinzelt auch sieben Jahren, „fremdbetreut“ untergebracht. Heike Liebsch beschreibt eindrucksvoll, wie sehr die „Wochenkinder“ unter der Trennung von den Eltern gelitten haben. Als „Wochenkinder“ bezeichnen sich Frauen und Männer, die in ihrer Kindheit in Wochenkrippen oder Wochenheimen leben mussten, ohne unmittelbaren Kontakt über die Arbeitswoche oder längere Zeiten zu ihren Eltern zu haben.
Für Kinder und Jugendliche vom 6. bis zum 18. Lebensjahr gab es nach Angaben der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur bis 1989 bis zu 662 Heimeinrichtungen, in denen rund 495.000 Kinder und Jugendliche zeitweise gelebt haben. Zu diesen Heimeinrichtungen gehörten 456 sogenannte Normalheime und 162 Spezialheime mit insgesamt 9.364 Plätzen. Sie unterstanden – wie die Wochenheime – fast ausnahmslos der Jugendhilfe und damit dem Ministerium für Volksbildung der DDR, das grundsätzlich die sozialistischen Umerziehung zum Ziel erklärte.
Zu den – meist zu wenig beachteten – Heimeinrichtungen der DDR gehörten die sogenannten Durchgangsheime. Es handelte sich dabei um Auffangunterkünfte für „aufgegriffene Minderjährige“, die von zu Hause oder einem Heim weggelaufen waren und darum vorübergehend untergebracht werden mussten. Anfangs betraf das sogar Kinder ab drittem Lebensjahr, später nur Minderjährige vom 6. bis 18. Lebensjahr. Es gab zehn Durchgangsheime, das letzte, auf der Berliner Halbinsel Alt-Stralau gelegen, wurde 1989 geschlossen. Die Aufnahmezahlen lagen pro Heim zwischen etwa 300 bis 2.400/Jahr, insgesamt bis 12.000/Jahr. Unterbringung und Tagesablauf für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ähnelten einem Gefängnisaufenthalt, es war eine „Erziehungsdiktatur“, wenn auch nur für wenige Tage.
Zu den Strukturen der Jugendhilfe der DDR gehörten ebenfalls die Spezialheime, die direkt – mit Ausnahme des „Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau“ – der Jugendhilfe der Bezirke unterstellt waren. In den Spezialheimen sollten schwererziehbare Jugendliche zwischen dem 6., nach 1980 vom 10. ¬bis 18. Lebensjahr im Sinne eines sozialistischen Gemeinschaftslebens umerzogen werden.
Im Bericht an die Bundesregierung über die „Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“ vom 26. März 2012 wird beschrieben, auf welch gewaltsame Weise versucht wurde, dieses Ziel umzusetzen: “Insbesondere in den Spezialheimen…war der Alltag von Freiheitsbeschränkung, Menschenrechtsverletzungen, Fremdbestimmung, entwürdigenden Strafen, Verweigerung von Bildungs- und Entwicklungschancen sowie erzwungener Arbeit geprägt.“
Das ging eindeutig aus Schilderungen von Personen hervor, die gezwungen waren, über lange Zeiten in diesen Heimen zu leben, auch, dass die Anwendung von Gewalt bewusst als Erziehungsmittel eingesetzt wurde. Von 1949 bis 1990 haben circa 135.000 Minderjährige längere Phasen ihres Lebens in Spezialheimen zubringen müssen.
Zu den Spezialheimen zählten bis zu 41 sogenannte Jugendwerkhöfe mit insgesamt 3.031 Plätzen, sie wurden in den letzten Jahren des Bestehens der DDR weitgehend geschlossen. In die Jugendwerkhöfe wurden ebenfalls Jugendliche eingewiesen, die im Sinne der DDR-Pädagogik als schwererziehbar galten, damit sie zu einem „vollwertigen Mitglied der sozialistischen Gesellschaft und bewussten Bürger der Deutschen Demokratischen Republik erzogen“ werden. Im Laufe der Jahre sind in Jugendwerkhöfen mindestens 25.000 Jugendliche beiderlei Geschlechts im Alter von 14 bis 20 Jahren „kaserniert“ worden, wo sie einem gleichsam militärähnlichen Drill bei haftähnlichen Bedingungen ausgesetzt waren. In Jugendwerkhöfen herrschten teilweise menschenunwürdige Zustände, denn die Insassen waren faktisch rechtlos, sie mussten oftmals Gewalt, Bosheiten und Misshandlungen ertragen. Viele ehemalige Insassen leiden noch heute an posttraumatischen Folgen.
Besonders berüchtigt war der „Geschlossene Jugendwerkhof Torgau“, in dem im Laufe der DDR-Zeiten etwa 6.000 Jugendliche zwangsweise untergebracht waren. Nur dieses Spezialheim unterstand direkt dem Ministerium für Volksbildung der DDR.
Die sogenannten Sonderheime waren vor allem für „verhaltensgestörte“ Kinder und Jugendliche gedacht, sie verfügten bis 1990 über etwa 3.500 Plätze. Besondere Beachtung verdient das „Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie“, zu dem vier Einrichtungen gehörten, alle in Brandenburg gelegen. Auch in diese Heime wurden von der Jugendhilfe schulpflichtige Minderjährige eingewiesen, die in anderen Heimen, in der Schule oder in ihren Familien durch Verhaltensstörungen aufgefallen waren. Nach psychodiagnostischen Untersuchungen, die zuerst im Aufnahmeheim Berlin-Oberspree durchgeführt wurden, wurden die Kinder in eines der vier Sonderheime verlegt, um bei ihnen Verhaltensänderungen durch pädagogische und therapeutische Maßnahmen herbeizuführen. Auch diese Heime waren zur „sozialistischen Kollektiverziehung“ verpflichtet: der Tagesablauf war festgelegt, ohne persönliche Freiräume, mit Gruppenzwang und strenger Disziplinierung. Forschungen ergaben, dass der Einsatz von Psychopharmaka zur Ruhigstellung der Heimkinder verbreitet war.
Konfessionell geführte Kinderheime gehörten nicht zum staatlichen Heimsystem, sie unterstanden nicht der Jugendhilfe der DDR, sie bildeten einen eigenständigen Komplex. Nach einer Recherche soll es in den 1950er Jahren in der DDR wahrscheinlich 184 kirchliche Kinder- und Jugendheime mit knapp 9.300 Plätzen gegeben haben. 1987 existierten noch 41 konfessionelle Kinderheime (19 evgl./Diakonie, 22 kath./Caritas), was einer Reduzierung um 75 Prozent entspricht. In den ersten Jahren ihrer Existenz wurden dort vor allem Waisenkinder untergebracht, aber bald handelte es sich überwiegend um Kinder mit kognitiven beziehungsweise psychischen Behinderungen. Die Beschulung erfolgte uneinheitlich in staatlichen und/oder kirchlichen Einrichtungen, zumal es kircheneigene Bildungseinrichtungen gab, die auch viele der Mitarbeiter kirchlicher Institutionen ausgebildet haben. Wie viele Heimkinder in kirchlichen Einrichtungen in DDR-Zeiten betreut wurden, konnte bislang nicht ermittelt werden.
In den Anfangsjahren ähnelten sich die Erziehungsmethoden sowie Fälle von Gewalt – nach heutigen Maßstäben – und sexuellem Missbrauch denen konfessioneller Heime des Westens, was aber bald in den Einrichtungen der Diakonie und Caritas in der DDR stark zurück ging, um nicht Vorwände zu liefern, die die Existenz dieser kirchlichen Kinderheime gefährden könnten.
Über psychische und physische Folgen von Fremdbetreuung
Dass länger gehende Fremdbetreuungen zu nachhaltigen Hospitalisierungsschäden führen können, die noch im Erwachsenenalter wirksam sind, wird heute nicht mehr in Frage gestellt. Im Artikel „Belastende Kindheitserfahrungen…“ werden mögliche Folgeschäden genannt: Krankheiten, Depressionen, Süchte, Angstzustände und Bindungsstörungen. Wenn auch nicht alle Personen, die in der Kindheit in Wochenkrippen, Wochenheimen oder anderen Heimeinrichtungen versorgt wurden, unter derartigen Folgeerscheinungen leiden, so belegen Studien, dass sie bei ehemaligen Wochen- und Heimkindern deutlich häufiger auftreten als bei denjenigen, denen eine „externe Betreuung“ in der Kindheit erspart geblieben ist. Entwicklungsstörungen und psychische Schäden wurden vor allem bei Personen beobachtet, die bereits in den ersten beiden Lebensjahren eine Wochenkrippe besuchen mussten. Dass die Unterbringung in einer Wochenkrippe gehäuft zu Entwicklungsstörungen führt, wurde bereits in frühen DDR-Zeiten festgestellt, da „die physisch-psychische Entwicklung der Kinder umso ungünstiger verläuft, desto größer ihre Isolation von Familie und gesellschaftlicher Umwelt ist, und die Entwicklungs- und Gesundheitsparameter der Kinder umso günstiger ausfallen, desto harmonischer ihre Betreuung in den Familien und Tageseinrichtungen verläuft“. Zu dieser Erkenntnis kam die wichtigste Protagonistin einer frühzeitigen Versorgung von Kleinkindern in Kinderkrippen, die Charité-Professorin Eva Schmidt-Kolmer, ohne dass ihre Erkenntnisse sozialpolitischen Konsequenzen bewirkt haben, Schmidt-Kolmer wurde vielmehr gemaßregelt.
Nicht selten wurden auch körperliche Hospitalisierungsschäden bei „früh betreuten“ Krippenkindern beobachtet, teilweise mit hervorgerufen durch den Druck auf die Mütter, hauptsächlich zwischen 1950 und 1974, (zu) früh abstillen zu müssen, sodass den Babys, die bereits wenige Wochen nach ihrer Geburt tagsüber in einer Kinderkrippe oder über die Woche oder Wochen in einer Wochenkrippe verbringen mussten, wichtige Stoffe fehlten, die in der Muttermilch enthalten sind, was nur begrenzt kompensiert werden konnte. Dass in der DDR zwischen 1952 und 1967 etwa 20.000 Säuglinge infolge schwerer Ernährungsschäden starben, kann auch mit der Notwendigkeit des vorzeitigen Abstillens erklärt werden.
In einer jüngeren Publikation der Universität Rostock wird eine Studie vorgestellt, die hauptsächlich mögliche Bindungsstörungen und psychopathologische Symptome bei ehemaligen Wochenkrippenkindern untersucht hat. Ein wesentliches Ergebnis war, dass einstige Wochenkinder „ein höheres Maß an selbstbeurteilten psychischen Erkrankungen und Bindungsunsicherheit …als die Vergleichsgruppe“ aufweisen. Zur Vergleichsgruppe gehörten Personen, die als Kleinkind in einer Tageskrippe oder allein von den Eltern betreut wurden. Daraus wurde folgerichtig die Empfehlung abgeleitet, bei Patientinnen und Patienten, die vor 1990 in der DDR geboren wurden, an die Möglichkeit einer Wochenkrippenbetreuung zu denken, das heißt in der Erhebung der Krankheitsanamnese sollte gegebenenfalls direkt danach gefragt werden! „Unsicheres Bindungserleben in den aktuellen Beziehungen“ könnten einer psychischen Störung oder Krankheit im Erwachsenenalter zugrunde liegen und somit wesentlich für die Behandlung sein!
Das korrespondiert mit den Erfahrungen von Heike Liebsch aus vielen Gesprächen, die sie mit ehemaligen Wochenkindern geführt hat, dass in der „Suche nach auslösenden Ursachen von Depressionen oder Bindungsstörungen“ auch die Unterbringung in Wochenkrippen in Frage kommt.
Es darf vermutet werden, dass manche Kindheitstraumata zu den überaus hohen Suizidraten der DDR beigetragen haben – mit durchschnittlich 31 Suiziden je 100.000 Einwohnern/Jahr lag die Suizidrate der DDR europaweit an der Spitze, sie war ein Drittel bis doppelt so hoch wie die der alten Bundesrepublik. Darüber konnte nach dem Ende der DDR intensiv geforscht werden, was wegen der in DDR-Zeiten exakt geführten, jedoch streng geheim gehaltenen Suizid-Statistiken gut möglich war. Aber es ist wohl nie gezielt untersucht worden, wie hoch der Anteil an ehemaligen Heimkindern war, die Suizid begangen haben, im Vergleich mit nicht in Heimen aufgewachsenen Suizidenten. In der Arbeit von Ch-A. Schulz et al. wird auf Studien aufmerksam gemacht, dass bei Personen, die in der Kindheit Gewalt, Missbrauch und andere ACEs erfahren haben, die Suizidgefahr um das 10-fache erhöht ist!
Die Autorin und Journalistin Anja Reich, die das Interview mit Heike Liebsch geführt hat, hat mit „Simone“ ein eindrucksvolles Buch geschrieben. Es schildert das Schicksal einer engen Freundin, die 1996 Suizid begangen hat. Dieser Suizid könnte durchaus eine Spätfolge eines Kindheitstraumas sein, denn die Eltern, beides Ärzte, haben ihre Tochter Simone bereits wenige Wochen nach ihrer Geburt in eine Wochenkrippe gegeben, in fremde Obhut.
Eigenartige und eigenwillige Bewertungen von Untersuchungsergebnissen
In der Arbeit über „Belastende Kindheitserfahrungen ...“ werden nur drei Quellen genannt, die auf die besonderen Bedingungen eingehen, in denen ein Großteil der Kinder in der DDR aufgewachsen sind, abgesehen von 12 Publikationen, an denen durchweg Elmar Brähler als Mitautor beteiligt ist. Die drei Arbeiten betreffen vor allem die Versorgung von Kleinkindern durch eine „frühkindliche institutionelle Tagesbetreuung“, das heißt durch Kinderkrippen.
Um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass in der DDR offensichtlich weniger „Belastende Kindheitserfahrungen beim Aufwachsen“ als im Westen Deutschlands ausgelöst wurden, wurde von dem Autorenteam der infrage stehenden Studie1 folgende problematische Behauptung aufgestellt:
„Haushaltsstörungen oder wirtschaftliche Ungleichheit und Prekarität gelten als soziale Risikofaktoren für Missbrauch im Kindes- und Jugendalter, von denen die ehemalige DDR weniger betroffen war.“Um diese Aussage zu bekräftigen, wurde unter anderem auf zwei Untersuchungen verwiesen, an denen ebenfalls Elmar Brähler als Mitautor beteiligt ist.
Beide Studien, in der als Untersuchungsmethode ebenfalls der ACE eingesetzt wurde, untersuchten die mögliche Bedeutung von Kindheitstraumata für das spätere Leben, wenn sie durch Gewalt und Drogenkonsum im häuslichen, familiären Umfeld verursacht wurden, es wurden aber keine Häufigkeiten in Ost und West ermittelt.
Anders sieht es mit einer Publikation aus, auf die von A-Ch. Schulz et al. folgendermaßen Bezug genommen wurde: „Beispielsweise gab es in der ehemaligen DDR ab 1965 staatlich gelenkte Maßnahmen und Strukturen wie außerhäuslichen Betreuungseinrichtungen und andere Gemeinschaftseinrichtungen. So fand das Aufwachsen der Kinder stärker in sozialen Netzwerken statt, was sich als Schutzfaktor gegen ACEs erwies.“ Dieser Satz ist eine recht willkürliche Auslegung der sehr differenziert formulierten Schlussfolgerungen, die die Dresdener Projektgruppe aus ihren Studienergebnissen über mögliche psychische Spätfolgen bei ehemaligen Krippenkindern gezogen hat. Es wäre vielmehr wichtig gewesen, den Hinweis auf „außerhäuslichen Betreuungseinrichtungen und andere Gemeinschaftseinrichtungen“ in der Studie über „Belastende Kindheitserfahrungen…“ zu berücksichtigen, durch eine Frage nach einer kindlichen Betreuung in einer Wochenkrippe oder Heimeinrichtung in DDR-Zeiten mittels entsprechender Ergänzung des ACE. Dann wären folgende Einschätzungen zumindest differenziert getroffen worden, oder sogar unterblieben: „Befragte, die den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend in Ostdeutschland verbracht haben, berichten von weniger emotionalem Missbrauch, körperlicher Misshandlung, Vernachlässigung und Substanzabhängigkeit,“ sowie: "Wenn man aus Ostdeutschland kommt, sinkt die Wahrscheinlichkeit, negative Kindheitserfahrungen gemacht zu haben“ (original: „Coming from East Germany decreases the likelihood of having experienced adverse childhood experiences“).
Allerdings scheinen sich die AutorInnen mit diesen Erklärungen nicht “wohlgefühlt“ zu haben, denn es wurde eine relativierende Bemerkung angefügt: “Die Bildungsfunktion des Staates führte in der ehemaligen DDR zu institutioneller Gewalt, insbesondere in Einrichtungen der Jugendhilfe. Dies lag zum einen an der Überforderung an die Erzieher, die Einhaltung der Normen im Elternhaus sicherzustellen, was oft mit Gewalt gelöst wurde,“ ohne näher darauf einzugehen.
Untersuchungsergebnisse, die aus einer erheblich eingegrenzten Befragungsbasis abgeleitet werden, verleiten zu undifferenzierten, oberflächlich anmutenden Interpretationen, trotz statistisch-methodisch korrekter Auswertung, besonders wenn sie nur mäßig evaluiert werden. Dieser Einwand bezieht sich vor allem auf das ignorante Übergehen der vielen außerfamiliären Versorgungssysteme von Kindern und Jugendlichen in der DDR, ebenso auf die mangelnde Berücksichtigung von Berichten über oft vorhandene fatale Betreuungs- und Unterbringungsbedingungen in den Heimeinrichtungen, durch räumliche Beengtheit, starre Tagesabläufe, Überbelegung, Zeitdruck durch Unterbesetzung, hohen Krankenstand und starker Fluktuation des Personals, zusammen mit der mangelnden bis fehlenden individuellen Zuwendung, der die Kinder und Jugendlichen in derartigen Heimanstalten zwangsläufig ausgesetzt waren. Dem meist gut ausgebildeten und motivierten Betreuungspersonal in den Kindereinrichtungen bis zum 6. Lebensjahr, es handelte sich fast ausschließlich um Frauen, ist für die bestehenden Defizite und Missstände kein Vorwurf zu machen, denn sie versuchten in der Regel, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen, um die anvertrauten Kinder so gut wie möglich zu betreuen.
Ähnlich wird es sich in westlichen Heimeinrichtungen zugetragen haben, aber die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die zumindest zeitweise „fremdbetreut“ wurden, lag in der DDR ungleich höher als in den alten Bundesländern. Die im Westen bestehenden sogenannten Säuglingsdauerheime wurden nach Bekanntwerden von beobachteten Entwicklungsstörungen der betroffenen Kleinkinder meistens 1967 geschlossen. Seitdem wurden Kinder, die nicht von Eltern aufgezogen und versorgt werden konnten, in Pflegefamilien versorgt oder zur Adoption freigegeben.
Selbst in der CSSR, damals ein sozialistisches Land, wurden etwa ab 1963 die Zahl der Wochenkrippenplätze zumindest erheblich reduziert, das heißt nach und nach fast alle Wochenkrippen geschlossen, während sie in der DDR weitergeführt wurden. Die These, dass sich das „Aufwachsen der Kinder in sozialen Netzwerken“ als „Schutzfaktor gegen ACEs erwiesen habe“, das heißt gegen Kindheitstraumata, bedient zwar eine kollektivistisch ausgerichtete Ideologie, lässt sich jedoch in ihrer Undifferenziertheit nicht aufrechterhalten. Vielleicht sehen die AutorInnen der Studie1 eher als Hypothese und weniger als eine feste Schlussfolgerung aus ihren Studienergebnissen, als mögliche Erfahrung des Besuchs des Kindergartens von fast allen Kinder in der DDR, oder den geringeren Kontaktzeiten, die den Kindern mit ihren vollberufstätigen Eltern zur Verfügung standen, und darum bewusster erlebt und wahrgenommen wurden.
In ihrem Bemühen, schwierig einzuordnende Untersuchungsergebnisse zu erklären, wurden teils Argumente angeführt, die nicht mit bestimmten Ergebnissen der Studie übereinstimmen. Dazu gehört der Hinweis auf den häufigen sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester im Westen Deutschlands, was wie folgt kommentiert wurde: „…da die katholische Kirche in der ehemaligen DDR über keine große Macht und gesellschaftliche Verflechtung verfügte, könnte dies eine Erklärung für die höheren Prävalenzraten in Westdeutschland sein“ . Offenbar sollte der Eindruck erweckt werden, dass es in der DDR zu weniger sexuellem Missbrauch als im Westen gekommen sei. Dem widerspricht aber das selbst gezogene Fazit über die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch in Ost und West, das vorsichtig formuliert ist: „diese Fälle“ – gemeint sind „sexuelle Grenzverletzungen“ – „betroffener Kinder waren jedoch gering. Sie dürften auch nicht häufiger vorgekommen sein als andere Formen institutioneller Gewalt in Westdeutschland, etwa in katholischen Internaten oder Wohlfahrtseinrichtungen zur Genesung oder Prävention von Kindern.“
Letztlich konnte nicht entschieden werden, ob sexueller Missbrauch im Osten oder im Westen häufiger verübt wurde. Das trifft sich auch mit dem Ergebnis einer Untersuchung, die kurz nach der Wende in einer Stichprobe mit 1.841 Schülern aus Würzburg und 310 Schülern aus Leipzig erhoben wurde. Zum gleichen Schluss kam auch eine Expertise, die von der seit 2015 tätigen Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs erstellt wurde, als Quelle von Schulz et al. auch angeführt. Dort heißt es: „Das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in der DDR scheint mit dem in der Bundesrepublik vergleichbar. Wie häufig er auf dem Land und in der Stadt, in intellektuellen und anderen Kreisen stattfand, lässt sich noch nicht sagen.“ Und: „…, dass der Missbrauch sich durch die gesamte Gesellschaft hindurch zieht, von den höchsten Spitzenfunktionären, Künstlern, Intellektuellen bis hin in die so genannte untere Ebene des Sub-Proletariats ist dieser sexuelle Missbrauch zu finden.“
Zitat
Tatsächlich wurde sexueller Missbrauch in der DDR erleichtert, verborgen und negiert, weil es nach der ideologisch bedingten Behauptung sexuellen Missbrauch in einer sozialistischen Gesellschaft nicht geben könne. Darum wurde sexuelle Gewalt in der DDR nicht erfasst und nur selten geahndet. Ein Bericht der erwähnten Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs beschreibt diese Erfahrung in Bezug auf Heimeinrichtungen eindringlich:
„Auch sexuelle Gewalt konnte in diesen von der Öffentlichkeit abgeschiedenen Einrichtungen ungehindert ausgeübt werden. Der ideologisch begründete Erziehungsauftrag der Heime legitimierte jede Willkür auf der Täterseite. Mädchen und Jungen waren den Täterinnen und Tätern schutzlos ausgeliefert. Offiziell gab es in der DDR keinen sexuellen Kindesmissbrauch. Es wurde weder privat noch öffentlich über sexuelle Gewalt gesprochen. Durch die politischen Hintergründe und die Machtverhältnisse wirkte das Schweigen lange nach. Noch immer sagen Betroffene, dass sie über die in der Familie oder in Einrichtungen erlittene sexualisierte Gewalt nicht sprechen können.“
Darum ist zu vermuten, dass Personen, die in der DDR aufgewachsen sind, mögliche sexuelle Missbrauchserfahrungen nicht angegeben haben, wenn sie danach gefragt würden. Dies könnte erklären, warum ehemalige Leistungssportler, Frauen und Männer, lange Zeit nicht über an ihnen begangenes sexuelles Unrecht sprechen wollten, nicht zuletzt wegen der Furcht, der „Nestbeschmutzung“ bezichtigt zu werden. Erst spät häuften sich Berichte, dass es sexualisierte Gewalt im DDR-Sport vielfach gegeben hat.
Nicht selten wurden sexuelle Übergriffe als „sexuelle Belästigung“ verharmlost, oder als „normal“ empfunden, etwa wenn minderjährigen Mädchen männliche Verwandte, Nachbarn oder „gute Bekannte“ an den Busen fassten oder in den Po kniffen, darüber aber aus Scham oder fehlendem Vertrauen zu den Eltern geschwiegen wurde. Auch darum ist fraglich, ob sie als erwachsene Frauen nach rund 40-50 Jahren über derartige Erfahrungen berichten würden.
Das kann ähnlich auf bestimmte Gewalterfahrungen im Haushalt (household dysbalances) zutreffen, zumal der ACE nicht die Schwere von gewaltsamen Misshandlungen erfasst, worauf MitautorInnen der betreffenden Studie in einer anderen Arbeit, die den Einfluss von häuslicher Gewalt auf Kindesmisshandlung beschreibt, ausdrücklich hinweisen.
Aus Gerichtsarchiven der neuen Bundesländer kam auf Nachfragen die Information, dass in DDR-Zeiten Gewalttaten und sexueller Missbrauch an Kindern nie systematisch erfasst wurden, obwohl die Familiengesetzgebung vorsah, dass innerfamiliäre Misshandlungen der Kinder gesetzlich gefasste Gründe für Kindesentziehung und Strafen für die Eltern waren. Rückschlüsse ließen sich bestenfalls aus einer mühsamen Sichtung von Gerichtsakten ziehen, wenn es etwa um den Entzug von Sorgerecht, um Zwangsadoptionen oder – vereinzelt – um Scheidungsgründe ging, ohne dass auf Häufigkeiten geschlossen werden könnte.
Als weiteres Beispiel für die Schwierigkeit, bestimmte Studienergebnisse über „Belastende Kindheitserfahrungen…“ zu begründen, ist der Hinweis, dass in der DDR die Prügelstrafe in Schulen schon 1949 verboten wurde, während im Westen sie noch bis 1973, in Bayern als letztem Bundesland sogar bis 1983, erlaubt gewesen sei. Mit dem ACE werden allerdings – im Amtsdeutsch – „körperliche Züchtigungen“ bzw. Prügelstrafen nicht festgehalten, falls sie in Schulen oder außerhalb der Familie geschehen sind, sondern nur, wenn Eltern oder zum Haushalt gehörende Erwachsene „Hand angelegt haben“. In den Familien im Westen wie im Osten gab es Prügel und andere Formen von Gewalt jedoch weiterhin, ohne wesentliche Unterschiede an Häufigkeit1, wie auch in Medien und in der Literatur beschrieben wird.
Eine Psychologin berichtete über ihre Erfahrungen aus DDR-Zeiten:
„..über Schläge, die die Kinder bekamen, wurde in meiner beruflichen Praxis schon gesprochen, eben weil es normal war und die Väter somit auch kein Schamgefühl hatten – nach dem Motto: ich bin auch geschlagen worden und es hat mir nicht geschadet.…Wobei die Väter, die zum Termin ihrer Kinder überhaupt dabei waren, schon eher eine Ausnahme waren, meistens kamen die Mütter allein. Wobei natürlich auch Mütter ihre Kinder geschlagen haben. Der sexuelle Missbrauch war in der DDR mit einem erheblich höheren Tabu belegt.“
Diese Schilderung korrespondiert mit Ergebnissen einer Studie, die nachgewiesen hat, dass es eine Spirale der Gewalt in Familien über Generationen hinweg gibt. Denn ein Großteil der Eltern, insbesondere die Väter, die in ihrer Kindheit selbst körperliche Gewalterfahrungen erlebt haben, behalten eine positive Einstellung zur Prügelstrafe bei, was an ihren Kindern ausgeübt wird. Da die Elterngenerationen der DDR und des Westens aus den gleichen Jahrgängen und tradierten Verhaltensweisen kamen, lassen sich die geringen Unterschiede von Gewaltausübung in den Familien in Ost und West einfach erklären. „Körperliche Züchtigung“ im privaten Bereich wurde erst 1998 eindeutig verboten. In der Neufassung des §1631 Abs. 2 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) wurde der Begriff "elterliche Gewalt" durch "elterliche Sorge" ersetzt, und es heißt seitdem: "Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig."
Im Abschnitt über die verschiedenen Arten der Heimerziehung in der DDR wurde bereits auf den systematischen und systemimmanenten Einsatz von Gewalt als erzieherische Maßnahme eingegangen, vor allem bezüglich der Spezialheime inklusive der Jugendwerkhöfe.
Die Studie über „Belastende Kindheitserfahrungen...“ hat folgenden Befund erhoben:
„Befragte, die den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend in Ostdeutschland verbracht haben, berichten von weniger emotionalem Missbrauch, körperlicher Misshandlung, Vernachlässigung und Substanzabhängigkeit. Eine psychische Erkrankung eines Haushaltsmitglieds wird am häufigsten von Personen angegeben, die überwiegend in Westdeutschland aufgewachsen sind.“
Als Gründe für die „besseren Kindheitsbedingungen“ in der DDR wurden angeführt, „unter anderem die bessere Kinderbetreuung (mit Ausnahme der Wochenkrippen), weniger strenge Erziehungsideale und das frühere Verbot der Prügelstrafe in Schulen“ wie schon in der Einleitung erwähnt.
Die bisherigen Darlegungen belegen jedoch, dass diese Befunde einschließlich einiger Begründungen in Zweifel zu ziehen sind, was wohl mit darauf zurückzuführen ist, dass die Studienergebnisse über „Belastende Kindheitserfahrungen...“ nur dürftig evaluiert wurden. Für diese Einschätzung sprechen auch Ergebnisse einer ähnlich ausgerichteten Studie der Universität Rostock von 2022, die, außer zum emotionalen Missbrauch, keine signifikanten Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Probanden in Bezug auf erlittene Traumata in der Kindheit gefunden hat. An dieser Untersuchung nahmen auf Basis statistischer Kriterien 507 Personen teil, von denen in der DDR nach eigenen Angaben 114 (22,5 Prozent), in der BRD 393 (77,5%) geboren wurden. Bei den Studienteilnehmern handelte es sich um 209 Frauen (41,2%) und 298 Männer (58,8%), das durchschnittliche Alter lag bei 60,5 Jahren (Bereich 50-74 Jahre). Als Instrument der Online-Befragung wurde der sogenannte Childhood Trauma Questionnaire (CTQ) eingesetzt. Er gilt international als der beste Fragebogen, um retrospektiv Misshandlungen in Kindheit und Jugend zu erfassen, weitaus differenzierter als es mit dem ACE möglich ist. Denn die 28 Items sind mit einer fünfstufigen Skala je nach Item, zum Beispiel von „überhaupt nicht“ (1) bis „sehr häufig“ (5), zu beantworten, sodass das Ausmaß sexuellen, körperlichen und emotionalen Missbrauchs sowie körperlicher und emotionaler Vernachlässigung dargestellt wird.
In der Evaluation ihrer Studienergebnisse kam die Rostocker Autorengruppe zu dem Schluss, dass Sozialisationsunterschiede und kulturelle Einflüsse zwischen den Studienteilnehmern die Wahrnehmung, Erinnerung und Einschätzung über emotional missbräuchliche Erfahrungen beeinflussen können, besonders was die „Erinnerungsrepräsentation“ der Probanden anbelangt. Das betraf vor allem Angaben von Probanden, die in der DDR aufgewachsen sind, sich signifikant an weniger emotionalen Missbrauch zu erinnern als die aus dem Westen stammenden Probanden. Zu ähnlichen Erkenntnissen kamen andere Bevölkerungsstudien, nach denen in der DDR sozialisierte Personen ihre Eltern als emotional wärmer und weniger kontrollierend als westdeutsche Studienteilnehmer erlebt und empfunden haben. Als Gründe wurden unter anderem die „geringere Interaktionszeit zwischen Eltern und Kindern im familiären Rahmen“ infolge der vollzeitigen Berufstätigkeit beider Eltern, die überwiegende Fremdbetreuung bereits ab Säuglingsalter wie auch die hohen „Anpassungsanforderungen“ in den meist staatlichen Betreuungseinrichtungen diskutiert.
Im Umstand, dass „die Items der CTQ-Subskala emotionaler Missbrauch vergleichsweise offen formuliert sind und somit größeren Interpretationsspielraum zulassen als die Items der anderen Skalen“, könnte eine weitere Erklärung liegen. Daraus wurde folgendes Fazit gezogen: „Zusammenfassend muss offen bleiben, ob emotionaler Missbrauch in der DDR tatsächlich seltener als in der BRD stattfand“, hinsichtlich „der anderen Formen von Kindesmisshandlungen ergaben sich keine relevanten Differenzen“ zwischen den Probanden aus Ost und West. Unter „Konsequenzen für Klinik und Praxis“ ist der beachtenswerte Hinweis zu finden: „Weil epidemiologische Untersuchungen zur Prävalenz von Kindesmisshandlungen methodisch herausfordernd sind, erfordern sie eine gleichermaßen sorgfältige wie ausgewogene Planung, Durchführung und Interpretation.“
Wäre dieser Hinweis in der Studie über „Belastende Kindheitserfahrungen…“ beachtet worden, wäre wohl die Aussage "wenn man aus Ostdeutschland kommt, sinkt die Wahrscheinlichkeit, negative Kindheitserfahrungen gemacht zu haben“ so nicht getroffen worden. Zudem sind die unter „Grenzen und Stärken“ genannten Limitationen, die Faktoren, die in der Interpretation der Studienergebnisse einzubeziehen sind, recht knapp geraten.
II. „Fremdbetreuung“ von Kleinkindern in Kinderkrippen – folgenlos?
Schon bald nach ihrer Gründung 1949 wurde in der DDR systematisch ein hohes Angebot an Kinderkrippen und Wochenkrippen zur Betreuung und Versorgung von Babys und Kleinkindern aufgebaut, um es Frauen zu ermöglichen, bereits wenige Wochen nach einer Geburt wieder einer beruflichen Tätigkeit nachgehen zu können. Dass viele Babys bis zum dritten Lebensjahr zu den fremdbetreuten Kindern zu zählen sind, kann durchaus als spezifische Besonderheit der DDR betrachtet werden. Nach der Versorgung tagsüber in der Arbeitswoche wurden zwar die Kleinkinder abends und nachts zu Hause betreut, meist verbunden mit „abendlichem Stress von überlasteten, müden Eltern“, die in der Regel neben den beruflichen Belastungen zusätzlich die Wege zur und von der Arbeitsstelle und den Kindereinrichtungen mit Kinderwagen zu bewältigen hatten, nicht selten bei gleichzeitiger Betreuung von weiteren Kindern.
Nach bisher vorliegenden Recherchen gab es 1955 schon 67.106 Krippenplätze, davon 9.217 in Säuglingsdauerheimen, wie anfangs Wochenkrippen bezeichnet wurden, 1970 waren es bereits 183.412.66 In einigen Jahrgängen haben bis zu 80 Prozent der Kleinkinder Kinderkrippen besucht, insgesamt sollen es von 1949 bis 1992 etwa 445.000 gewesen sein, eingeschlossen die Kleinkinder in Wochenkrippen. Damit war in der DDR über viele Jahre die „externe“, das heißt „Fremdbetreuung“ von Babys und Kleinkindern tagsüber in Kinderkrippen die dominierende Betreuungs- und Versorgungsform, bis in die frühen 1980er Jahre.
Bis heute ist umstritten, ob der frühkindliche Besuch einer Kinderkrippe von Kleinkindern ab der 6. Woche nach der Geburt bis zum 3. Lebensjahr auf die spätere psychische und soziale Entwicklung einen nachhaltig negativen Einfluss ausübt. Krippengegner sehen die Ursache für eventuell eintretende psychische Folgen in einer (zu) frühen Trennung des Kleinkindes von der Mutter.
Wie entscheidend der frühkindliche, ganztägige Kontakt mit den Eltern, vor allem der Mutter, sein kann, machen Worte vom „Verband Familienarbeit e.V.“ deutlich:
„Evolutionsbiologisch entwickelt sich im ersten Lebensjahr eine besondere Bindungsbeziehung zu der vorrangigen Fürsorgeperson. Das ist in aller Regel die Mutter. Nur sie ist durch Schwangerschaft, Geburt und Stillen hormonell und emotional auf den Säugling eingestellt. Auch ist der Säugling mit ihrer Stimme, ihrem Atem- und Herzrhythmus, mit ihrer Mimik, ihrem Zugriff und Blickverhalten so vertraut wie bei keinem anderen Menschen. Diese Bindungsbeziehung bildet die Grundlage von Urvertrauen, …als die stabile soziale Einstellung, die in den ersten Lebensmonaten geprägt wird. Nach ihm erwirbt jeder Mensch in der allerersten Lebenszeit die Grundeinstellung, dass er Situationen und Menschen vertrauen kann, oder aber er erwirbt sie nicht und kann sie dann im späteren Leben nicht mehr nachholen".
Diese Stellungnahme impliziert die Frage, ob die frühe Trennung tagsüber, besonders von der Mutter, bei Babys beziehungsweise Kleinkindern real zu psychischen Folgen bis in das Erwachsenenalter führen kann?
Die aus der DDR stammende Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Agathe Israel, die darüber intensiv geforscht hat, beantwortet diese Frage verständlich:
„Höchstwahrscheinlich müssen wir dies bejahen, wenn nicht ein verstehend-haltgebender Anderer, der sich auf die Individualität des Babys einlässt, die äußere Leerstelle von Mutter oder Vater einnimmt und empathisch, tröstend und engagiert den Dialog mit dem Kind aufnimmt.…, wenn die Trennung zu plötzlich und zu lange eintritt, nämlich täglich neun bis zehn Stunden, entsteht ein Riss, eine Wunde, …. aus der im Kind Bedrohungs- und Verfolgungsgefühle erwachsen können."
Zu diesem Schluss kam sie durch psychoanalytische, lebensgeschichtliche Gespräche mit Erwachsenen, die als Kleinkinder tagsüber in einer Kinderkrippe versorgt wurden. Weil diese Folgerungen nicht aus einer darauf ausgerichteten Studie mit einer Vergleichsgruppe resultieren, sondern aus einer relativ kleinen Stichprobe mit 20 Personen, sind sie nicht ohne Kritik geblieben.
Es ist allerdings grundsätzlich schwierig, mögliche psychischen und sozialen Folgen durch eine Krippenbetreuung mittels entsprechender Studien nachzugehen beziehungsweise einer akzeptablen Antwort nahe zu kommen. Einerseits haben Erwachsene keine direkte Erinnerung an den Besuch einer Kinderkrippe, andererseits besteht das Risiko, dass die Informationen, die ehemalige Krippenkinder von Eltern oder älteren Geschwistern erhalten haben, nur lückenhaft, ohne wesentliche Details gegeben wurden.
In einer Studie aus dem Jahr 2007 mit 383 ostdeutschen jungen Erwachsenen, davon 54,2 Prozent weiblich, mittleres Alter 34,2 Jahre, wurde der Einfluss eines Krippenbesuchs auf verschiedene psychische Indikatoren untersucht. Mittels standardisierter Fragebögen wurde unter anderem nach Angst, Depressivität, Körperbeschwerden, Bindungserfahrungen, Zukunftszuversicht, Bedrohungserleben und allgemeinen politischen Einstellungen gefragt. Die Ergebnisse ließen zwar ein insgesamt schlechteres psychisches Befinden bei Frauen erkennen, was sich jedoch nicht verallgemeinern ließ, was in der Gesamtbilanz folgendermaßen ausgedrückt wird:
„Die Daten belegen insgesamt nicht, dass der Besuch einer Kinderkrippe einen schädlichen Einfluss auf die Psyche im Erwachsenenalter hat. Sie zeigen allerdings auch nicht, dass sich ein Krippenbesuch auf die untersuchten Merkmale besonders förderlich auswirkt. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Diskussionen um den Ausbau der (frühkindlichen) (Ganztags-)Betreuung bedarf es daher differenzierter Untersuchungen, die etwa die Qualität der Kinderbetreuung stärker berücksichtigen.“
Diese bedachtsame Empfehlung lässt vermuten, dass von den 383 verbliebenen Teilnehmenden der Sächsischen Längsschnittstudie nur wenige eine Kinderkrippe zu DDR-Zeiten besucht haben, und wenn, dann erst viele Monate nach ihrer Geburt. Denn die 1972 einsetzenden familienpolitischen Fördermaßnahmen ermöglichten es Müttern, ihre Neugeborenen relativ lange nach der Geburt zu Hause zu betreuen.
Um der Klärung dieser Frage nahe zu kommen, hat die Projektgruppe der Universität Mainz 2022 um Elmar Brähler eine darauf ausgerichtete Studie durchgeführt , auf die bereits in der Einleitung hingewiesen wurde. Darüber wird in der Publikation „Frühkindliche Betreuung in der ehemaligen DDR und psychische Belastung im Erwachsenenalter“ berichtet. In diese Studie wurden 1.575 Personen, davon 871 (55,30 Prozent) weiblich, Durchschnittsalter von 56,9 Jahre, einbezogen, die alle zwischen 1949 und 1983 geboren wurden und in der DDR aufgewachsen sind. Etwa ein Drittel war nach eigenem Bekunden zwischen den 1. und 3. Lebensjahr tagsüber in einer Kinderkrippe betreut worden, ein weiteres Drittel hatte einen Kindergarten besucht, und ein Drittel der in der DDR sozialisierten Personen hat weder eine Kinderkrippe noch einen Kindergarten (!!) besucht. Durch die Studie sollte der Einfluss einer „frühkindlichen außerfamiliären Betreuung“ auf die psychische Gesundheit im Erwachsenenalter überprüft werden, bezogen auf Somatisierung, Ängste und Depressivität.
Aus den Studienergebnissen leitete das Autorenteam folgendes Resümee ab: „Ein Zusammenhang frühkindlicher Betreuung in Tageseinrichtungen der ehemaligen DDR mit psychischer Belastung im Erwachsenenalter konnte nicht gefunden werden.“ Diese Aussage wurde in einer Kolumne unter dem Titel „Das Klischee vom Krippentrauma“ freudig begrüßt, bekräftigt mit der eingefügten Schlagzeile “DDR-Krippenkinder: Die Psyche nahm keinen Schaden“.
Ein fragwürdiges Untersuchungsdesign, eine mäßige Evaluation
Der kategorisch formulierten Feststellung “DDR-Krippenkinder: Die Psyche nahm keinen Schaden“ muss allerdings widersprochen werden, wenn das Untersuchungsdesign und die relativ dürftige Evaluation der Studienergebnisse der Untersuchung über „Frühkindliche Betreuung in der ehemaligen DDR…“ genauer betrachtet werden:
1. Von den Studienteilnehmern haben gut ein Drittel, genau 586, angegeben, in der DDR weder eine Kinderkrippe noch einen Kindergarten besucht zu haben. Diese Zahlenangabe ist irritierend, denn in DDR-Zeiten gab es nur sehr wenige Kinder, die nie in einem Kindergarten waren. Die AutorInnen der Arbeit weisen selbst darauf hin, dass in der DDR mindestens 90 Prozent einen Kindergarten gesucht haben. Diese Zahl passt darum nicht zum ambitionierten Anspruch, dass eine „auf Ostdeutschland repräsentativ ausgelegte Befragung ausgewertet“ wurde. Wurden die Studienteilnehmern doch selektiert? Oder es geht auf die eindimensionale Fragestellung mit einem Item zurück, die lautet „ab dem 3. Lebensjahr bis zur Einschulung vorwiegend durch…?“, wofür folgendes Antwortspektrum vorgesehen ist: „Mutter“, „Vater“, „andere Angehörige“, „Tagespflege“, „Pflegefamilie“, „Kindergarten“, „Heim“, „Sonstige“. Mit dem Wort „vorwiegend“ wurde letztlich die Antwort dem subjektiven Empfinden der Probanden anheimgestellt. Allein dieser Umstand macht Ergebnisse dieser Studie und die erfolgte Bewertung fragwürdig!
2. Es wurde nicht versucht zu ermitteln, in welchem Alter die „externe“ Versorgung in einer Kinderkrippe jeweils begonnen hat, und wie lange sie dauerte. Das wäre von wesentlicher Bedeutung gewesen, weil sich die bestehenden Vorbehalte gegen eine frühkindliche Fremdversorgung in einer Kinderkrippe (KitaU3) überwiegend auf die ersten beiden Lebensjahre beziehen. Wohl deshalb ist der Rechtsanspruch auf eine Kita-Betreuung eines Kleinkindes auf diesen Zeitpunkt festgelegt worden. Es wäre zwar angesichts der fehlenden Erinnerung an die ersten Lebensjahre schwierig gewesen, zuverlässige Daten über diese Zeiten zu erhalten, es hätte aber zumindest versucht werden müssen, entsprechend nachzufragen. Auf keinen Fall ist es gerechtfertigt, die Versorgung in einer Kinderkrippe zeitlich völlig undifferenziert auf die ersten drei Lebensjahre zu beziehen.
Die Studie der Uni Rostock über psychische Folgen bei Wochenkrippenkindern im Erwachsenenalter belegt, dass sehr wohl die Chance bestanden hätte, sowohl den Beginn wie auch die Dauer der frühkindlichen Krippenbetreuung zu erfahren, ihnen zumindest nahe zu kommen. Es konnten folgende Angaben ermittelt werden: „In der Wochenkinder-Stichprobe waren 61,5 Prozent der Personen vor dem Alter von drei Monaten in die Krippe gekommen (in der Mehrzahl der Fälle im Alter von sechs oder acht Wochen), 16,6 % zwischen dem 4. und dem 12. Lebensmonat sowie 14,1 % ab einem Alter von einem Jahr. Die durchschnittliche Dauer der Wochenkrippenbetreuung betrug in der untersuchten Stichprobe 25,5 ± 10,6 Monate.“
Wie bedeutsam ein dichter frühkindlicher Kontakt der Eltern, besonders der Mutter, in den ersten beiden Lebensjahren mit ihrem Kind haben kann, ohne die tägliche Unterbrechung durch eine Krippenbetreuung, geht aus Forschungsergebnissen des Dresdeners Ifo-Instituts hervor. Danach konnten mit der Einführung von Elternzeiten in der DDR, zuletzt 1986, „signifikante und robuste positive Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit der heute erwachsenen Kinder“ erreicht werden.
Im Interview, das Agathe Israel mit dem Tagespiegel führte, betont sie, dass die Grundlagen des Fühlens, Denkens, Handelns und Reflektierens in den ersten drei Lebensjahren ausgebildet werden. Um diese Entwicklungsprozesse bei einem Kleinkind zu aktivieren, ist ein „zugewandter Erwachsener“ nötig, mit dem ein Kleinkind mindestens bis Ende des zweiten Lebensjahrs im festen, engen Kontakt sein sollte. Wenn eine Trennung des Babys von den Eltern, besonders der Mutter, „zu lange eintritt, nämlich täglich neun bis zehn Stunden“, können längerfristige Folgen eintreten. Darum sollte eine außerfamiliäre Betreuung von Kleinkindern frühestens mit 24 Monaten beginnen, möglichst nur für wenige Stunden am Tag. Als denkbare „Spätfolgen“ werden „mangelnde Impulskontrolle, Aggressivität, verminderte Konzentrationsfähigkeit und Anfälligkeit für Depressionen“ genannt. Im Buch „Krippenkinder in der DDR“, das sie mit Ingrid Kerz-Rühling, ebenfalls Psychoanalytikerin, herausgegeben hat, werden weitere mögliche Auswirkungen beschrieben:
Geringe Beziehung zur eigenen Gefühlswelt, mangelnde Empathiefähigkeit, verbunden mit entsprechend eingeschränkter Sozialkompetenz,
eine hohe, kritikarme Anpassungsbereitschaft, bei anderen dagegen eine distanzierte Protesthaltung,
häufig chronische körperliche, psychosomatische und psychische Erkrankungen, vom Kindergarten- und Schulalter bis ins Erwachsenenalter,
fortgeschriebene Stressbelastung, und
eingeschränkte Bewältigungsmöglichkeit in Konfliktsituationen.
Eine deutsche Längsschnittstudie, in der 249 Familien über zehn Jahre beobachtet wurden, wie sich bestimmte psychische Eigenheiten, Risikoverhalten und Schulleistungen entwickeln, ist ebenfalls zu Ergebnissen gekommen, die deutlich von denen der Studie über „Frühkindliche Betreuung in der ehemaligen DDR…“ abweichen. Das Durchschnittsalter der SchülerInnen lag bei 14,4 Jahren. Es zeigte sich, dass eine außerfamiliäre frühkindliche Betreuung (AFB) im Vergleich zur elterlichen Betreuung zu signifikant höheren Werten an psychischen Auffälligkeiten im Jugendalter geführt hat, umso stärker, je früher die frühkindliche Versorgung in einer Kinderkrippe, neudeutsch KitaU3, begonnen hatte, während sie sich auf schulische Leistungen nur gering ausgewirkt hat. Aus der Erkenntnis, dass „ein frühes Eintrittsalter in die institutionelle Betreuung… mit mehr psychischen Auffälligkeiten“ korreliert, geben die Verfasser der Studie folgende Empfehlung: „Bei der Entscheidung von Eltern für AFB sollten das Eintrittsalter, die Qualität der Betreuung und die eigene soziale Situation berücksichtigt werden.“
Es gibt international eine Reihe ähnlich ausgerichteter Untersuchungen. Sie wurden von der Stuttgarter Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Gisela Geist übersichtlich erfasst und aufgelistet. Auf zwei muss wegen ihrer hohen Bedeutung besonders eingegangen werden, denn auch sie kamen zu Ergebnissen und Bewertungen, die sich deutlich von denen der infrage stehenden Studie über die „Frühkindliche Betreuung in der ehemaligen DDR…“ unterscheiden. Sie sind vielleicht deshalb nicht in ihrer Ergebnisevaluation zu finden.
Die sogenannte Quebec-Studie wurde von der Regierung des kanadischen Bundesstaates Quebec initiiert. Sie bot von 1997 bis 2005 Familien eine tägliche Betreuung von Neugeborenen ab Geburt an, verbunden mit einer hochsubventionierten Qualitätssicherung der frühkindlichen außerfamiliären Versorgung mit fünf Dollar/Tag/Kleinkind. Die Ziele dieser Studie lassen sich aus den Ergebnissen der Studie ersehen. So stieg die Zahl der täglichen frühkindlichen Betreuung um das 3-fache. In Untersuchungen nach etwa 4,5 Jahren wurden im Vergleich zur Zeit vor Einführung der Studie und auch im Verhältnis zu Kindern anderer Bundesstaaten Kanadas eine Reihe von Auffälligkeiten bei diesen fremdbetreuten Kindern festgestellt. Auf der einen Seite zeigte sich eine Zunahme an Aggressivität, Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Angst (diese Zunahme war erheblich), auf der anderen Seite eine Verschlechterung sozialer Kompetenzen, motorischer Fähigkeiten und des Gesundheitszustandes.
Von Belang war die Erkenntnis, dass auch negative Effekte auf der Elternseite eintraten, wie
eine Verschlechterung durch eine strittige und unbeständige Erziehung,
schlechtere physische und psychische Gesundheit bei den Eltern, unter anderem durch Stresserscheinungen und Depressionen, sowie
problematische Eltern-Kind-Interaktionen, die zunehmend zu Beziehungsproblemen zwischen den Eltern führten.
Die Protagonisten der Quebec-Studie haben die Ergebnisse folgendermaßen bilanziert:
„Insgesamt ist unklar, ob dieses Programm das Beste für Kinder und ihre Eltern ist…die Mütter kämen zu mehr außerhäuslicher Arbeit, dieser Vorteil geht einher mit einer zumindest kurzfristigen Verschlechterung des Wohlbefindens für Kinder und ihrer Familien…es sind schwierige Entscheidungen, die die Familien treffen müssen.“
Die Quebec Studie wurde weitergeführt, wobei sich schon früher erhobene Ergebnisse bestätigten. So fiel bei den Jugendlichen im Alter von 12 bis 20 Jahren, die als Kleinkind fremdbetreut wurden, eine schlechtere Gesundheit, geringere Lebenszufriedenheit und höhere Kriminalitätsrate um 20 Prozent auf, was aber auch mit der „Umgebung“ (environment), das heißt mit dem sozialen Milieu, in dem die Kinder aufwuchsen, zu tun hatte.
Viel zitiert wird die Studie des amerikanischen Forschungsinstituts National Institute of Child Health and Human Development (NICHD), die NICHD Study of Early Child Care. Die Studie untersuchte von 1991 bis 2009 prospektiv 1.364 Kinder und Familien aus zehn verschiedenen Gebieten der USA, weitestgehend von Geburt an bis zum 12. Lebensjahr. Verkürzt lassen sich die Befunde der Studie allgemein so zusammenfassen:
Eine außerfamiliäre Betreuung hat weder positive noch negative Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern, vorausgesetzt dass die externe frühkindliche Versorgung einen hohen Standard mit maximal drei bis vier Kleinkindern pro Erzieherin aufweist.
Teilweise waren sogar kognitive sowie soziale Vorteile bei Krippenkindern zu beobachten, der Einfluss des familiären Umfelds wird allerdings als wirkungsvoller eingeschätzt als der einer Kinderkrippe.
Diese und ähnliche Aussagen wurden von der Politik und Medien gern verwendet, um eine „frühkindliche Förderung in Tageseinrichtungen“ zu propagieren. In diesem Sinne lässt sich auch ein Gutachten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 2003 interpretieren. Neben positiven Auswirkungen eines „Day care“ hat die NICHD-Studie jedoch auch Belege für nachteilige Effekte einer Krippenbetreuung ergeben. Das wird von Jay Belsky, der die Studie mitbegründet und begleitet hat, eingehend beschrieben. In „The Politicized Science of Day Care“ von 2003 beklagt er, dass frühes Schreiben und Rechnen als kognitive Vorteile oft einseitig hervorgehoben werden, die jedoch nur bei sehr hoher Betreuungsqualität in der Tagesbetreuung gefunden wurden.
Zudem verlor sich dieser Vorsprung im Laufe der Schulzeit. Belsky weist darauf hin, dass es bei Kleinkindern nicht um den möglichst frühen Erwerb von Lesen, Schreiben und Rechnen gehen sollte, sondern nach Erkenntnissen von Hirnforschung und Psychologie vor allem um die Entwicklung emotionaler Grunderfahrungen. Er bezweifelt auch, dass bestimmte Verhaltensauffälligkeiten wie aggressives Verhalten und Aufsässigkeit von Krippenkindern als Ausdruck von Durchsetzungskraft oder Selbständigkeit zu werten sind. Verhaltensstörungen, die in der NICHD-Studie im Vorschulalter signifikant häufiger bei ehemaligen Krippenkindern gefunden wurden, hat er in folgende Kategorien eingeteilt:
Ungehorsam/widerständig: dazwischenreden, Ungehorsam, aufsässig, stört andere, stört die Gruppe.
Aggressivität: Schlägereien, gemeines Verhalten, körperliche, Wutanfälle, zerstört eigene Sachen.
Alle Kategorien zeigten sich erhöht, je früher und je länger die Kinder früh-, fremd- und gruppenbetreut waren.
In der NICHD-Studie wurde auch der Einfluss einer frühkindlichen Fremdbetreuung auf die Eltern-Kind-Beziehung untersucht. Schon bei 15 Monate alten Kindern wurde festgestellt, dass eine bereits einsetzende unsichere Bindung zunahm, wenn die Mutter geringe Sensibilität für ihr Kind an den Tag legte und außerdem die Fremdbetreuung mehr als 10 Stunden/Woche betrug. Dabei zeigten sich Mütter, deren Kleinkinder in Tagesbetreuung waren, tendenziell weniger sensibel gegenüber ihren Kindern. Je mehr Zeit die Kleinen in den ersten drei Lebensjahren in institutioneller „Day Care“-Betreuung verbringen mussten, desto negativer wurden die Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Interaktionen.
Das wird im Gutachten zur NICHD-Studie aufmerksam beschrieben: „Eine außerfamiliale Betreuung des Kindes erwies sich in dieser Studie jedoch dann als nachteilig für die Mutter-Kind-Beziehung, wenn die Mutter wenig feinfühlig und kommunikativ im Umgang mit ihrem Kind war. Dieser Effekt wurde weiter verstärkt, wenn nicht nur die Mutter, sondern auch die außerfamiliale Betreuungsinstanz sich durch eine mangelnde Sensitivität gegenüber dem Kind auszeichnete. Außerfamiliale Betreuung konnte allerdings die negativen Effekte einer mangelnden Sensitivität der Mutter kompensieren, wenn sie von hoher Qualität war…“.
In einer Nachuntersuchung der NICHD-Studie 2010 bei 15-Jährigen ehemals frühkindlich fremdbetreuten Jugendlichen durch Deborah Lowe Vandell, ebenfalls Mitautorin der NICHD-Studie, wurde ein signifikant gesteigertes impulsives und risikoreiches Verhalten festgestellt, was sich an folgenden Punkten festmachen ließ:
Alkoholkonsum
Rauchen
Drogenmissbrauch
Waffengebrauch
Stehlen
Vandalismus.
Es soll keinen Zusammenhang zum sozialen Hintergrund der Familien vorgelegen haben. Bevor Kleinkinder in den ersten beiden Lebensjahren tagsüber der Betreuung durch eine Kinderkrippe überlassen werden, sollte nach den bestehenden Betreuungsbedingungen gefragt werden. Eine Übersicht über diesbezügliche Untersuchungen macht deutlich, dass es insgesamt in Deutschland um die Betreuungssituation in Kinderkrippen/KitaU3 bzw. Kindergarten/ KitaÜ3 dramatisch schlecht steht. So ergab die DKLK (Deutscher Kita-Leitungs-Kongress)-Studie 2019, an der sich immerhin 2.628 Kita-Leitungen öffentlicher, kirchlicher, gemeinnütziger, privater und sonstiger Träger beteiligt haben, dass 90 Prozent der Kitas einschließlich KitaU3 zumindest zeitweise mit erheblicher Personalunterdeckung arbeiten. Bei den unter 3-jährigen Krippenkindern war die reale Fachkraft-Kind-Relation in 96,5% schlechter als die wissenschaftlich geforderte Zielgröße von 1:3, nur 3,5% entsprachen dieser Empfehlung! Selbst ein Verhältnis von 1:5 wurde mit 44,5% nicht einmal von der Hälfte der Einrichtungen erreicht, ca. 20% der Einrichtungen konnten sogar nur eine Betreuungsrelation von 1:8 oder schlechter vorweisen. Laut Bertelsmann Stiftung werden fast Dreiviertel aller Kinder in der Kita unzureichend betreut. Das hat und hatte gravierende Konsequenzen zur Folge:
Das Gros der Fachkräfte arbeitet an der Belastungsgrenze, Gruppen mussten zusammengelegt oder geschlossen, die Öffnungszeiten der Kitas reduziert werden,
gut Zweidrittel der Kitas bezeichneten die Arbeitsbelastung als akut gesundheitsgefährdend,
häufige Ausfälle wegen Krankheit und hohe Fluktuation der ErzieherInnen,
durch Reduzierung der Ausbildungszeit, Verzicht auf Fort- und Weiterbildung und Anwerben von QuereinsteigerInnen sinkt das Qualifikationsniveaus.
An der DKLK-Studie 2023 wirkten 5.387 Kita-Leitungen mit, fast doppelt so viele wie 2019. Es wurde deutlich, dass sich „der Fachkräftemangel weiterhin verschärft hat.“ Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) ist 2025 voraussichtlich mit einer Personallücke von fast 330.000 ErzieherInnen zu rechnen. Dadurch ist unverändert die Frage zu stellen: „Wie soll eine überlastete, gestresste Erzieherin … individuell und möglichst mit Geduld und Liebe auf so viele Säuglinge und Kleinkinder angemessen eingehen können?“ Deshalb spricht die Studie zurecht „von bloßer Verwahrung der Kinder, von Mangelverwaltung und sogar von Gesundheits- und Sicherheitsrisiken“. Die Eltern erfahren von diesen Defiziten in der Regel wenig. Propagierte Vorteile einer Krippenbetreuung auf das Sozialverhalten von Kleinkindern sind darum nicht zu erwarten.
3. Unverständlich, dass in der Studie „Frühkindliche Betreuung in der ehemaligen DDR…“ zwar nach Depressivität, Angst- und Somatisierungsstörungen im Erwachsenenalter gesucht wurde, aber die Suche nach problematischen Bindungserfahrungen unterblieben ist. Fragen danach wurden mit dem kryptisch gehaltenen Satz „So ist die Qualität der außerfamiliären Betreuung sicherlich eine relevante Einflussgröße, wenn es darum geht, positive Bindungserfahrungen zu sammeln, die vor psychischer Belastung schützen können“ regelrecht „abgetan“. War damit gemeint, „positive Bindungserfahrungen“ in einer außerfamiliären Betreuung „sammeln“ zu können?
Die Ignoranz gegenüber denkbaren Bindungsstörungen wie mangelndes Bindungserleben oder negative Bindungserfahrungen als Spätfolge einer frühkindlichen Fremdversorgung ist auffällig, weil darüber schon vielfach berichtet wurde, wie in schon erwähnten Publikationen von Eva Schmidt-Kolmer, Agathe Israel, Jeniffer Ehry-Gissel und eingehend von Heike Liebsch. Für die Erkennung von Bindungsstörungen hätte sich das psychodiagnostische Instrumentarium mit standardisierten Fragebogen angeboten, das beispielsweise in Studien von Henrik Berth et al. und Eva Flemming et al. eingesetzt wurde. Dass möglichen psychischen Belastungen durch Bindungsprobleme in der Studie über die „Frühkindliche Betreuung…“ nicht nachgegangen sind, schwächt ebenfalls den Aussagewert der ermittelten Ergebnisse, eingeschlossen die unkritisch aufgestellte Behauptung „DDR-Krippenkinder: Die Psyche nahm keinen Schaden“, die in der Presse zu finden war.
Wie bedeutungsvoll die Bindungsbedürfnisse von Kindern sind, insbesondere von Babys und Kleinkindern, erklärt Agathe Israel im erwähnten Interview:
„… die Bindung und Verbindung mit einem verstehenden Erwachsenen (ist) die wichtigste, eigentlich die unentbehrliche Lern- und Entwicklungsform. Ob das die Mutter ist oder der Vater oder eine nahe Verwandte oder sonst jemand, ist egal. Es muss nur jemand sein, der das Kind gut kennt und aufmerksam begleitet. Es braucht einfach jemanden, der das Kind anspricht und versucht zu verstehen, was das Kind mitteilen will und was es gerade braucht, und zwar zu jeder Zeit am Tag...Es kann eine Erzieherin sein. Wichtig ist, dass es jemand ist, der dem Kind zugewandt ist. Das hat mit Liebe, Geduld und Zeit zu tun.“
Was ein unerfülltes Bindungsverlangen von Kleinkindern, zum Beispiel infolge eines Krippenalltags, bewirken kann, beschreibt anschaulich der Londoner Bindungsforscher Richard Bowlby:
„Bei Babys und Kleinkindern wird die Bindungssuche bei Abwesenheit einer primären oder sekundären Bindungsperson aktiviert, wenn sie sich in der Gegenwart eines Fremden und in einer ungewohnten Umgebung befinden. Im Alter zwischen etwa 6 und 30 Monaten versuchen Kleinkinder ihre Bindungssuche zu beenden, indem sie sich einer Bindungsperson nähern. Wenn sie dies nicht erreichen können, bleibt ihre Bindungssuche unbeendet, sie setzt sich fort. Dies ist die Erfahrung vieler Babys und Kleinkinder jeden Tag während nicht-elterlichen Kinderbetreuung. Kinderbetreuung ohne Zugang zu einer Bindungsperson ist eher in Gruppeneinrichtungen wie Kindertagesstätten der Fall als bei der Betreuung durch eine einzelne Betreuungsperson wie eine Tagesmutter, ein Kindermädchen oder eine Großmutter.“
4. Nur 27 Studienteilnehmer wurden nach eigenen Angaben in einer Wochenkrippe versorgt oder waren auf andere Weise längere Zeit von ihren Eltern getrennt. Wenn, in der DDR ca. 200.000 Kinder in Wochenkrippen versorgt wurden, in manchen Jahrgängen der fünfziger und sechziger Jahre bis zu 30% aller Krippenkinder, können sich in einer „repräsentativen“ Stichprobe von 1.575 Probanden, die zwischen 1949 und 1983 in der DDR geboren wurden, nicht nur 27 befunden haben, die in einer Wochenkrippe waren. Erst in den achtziger Jahren ging ihr Anteil an den Krippenplätzen bis auf 1,5 Prozent zurück, in Jahrgängen, die nicht in die Studie einbezogen wurden. Als Erklärung für die geringe Zahl von 27 Wochenkindern vermuten die AutorInnen, dass die Bildung von Gruppen auf Basis einzelner Items – Frage nach der Betreuung? – zu Verzerrungen geführt haben könnte. Diese Möglichkeit wurde in der Diskussion zwar kurz genannt, aber nicht weiter ausgeführt.
Als Limitationen, das heißt als mögliche Grenzen der Ergebnisbewertungen, wurden angeführt, dass „aufgrund der unzureichenden Datenlage… wichtige spezifische Unterbringungsaspekte (beispielsweise Qualität oder Erziehungsnormen) nicht berücksichtigt werden“, sowie das „Fehlen wichtiger Prädiktoren …womöglich ein Grund für die vergleichsweise weiten Konfidenzintervalle“ ist. Vereinfacht wird damit ausgedrückt, dass die Studienergebnisse einen breiten Spielraum für Auslegungen zulassen. Diese Erkenntnis hätte durchaus das gleiche Resümee gerechtfertigt, wie es die Rostocker Forschungsgruppe über psychische Folgen bei Wochenkindern formuliert hat: „Aufgrund des Studiendesigns lassen die Ergebnisse keine Rückschlüsse auf die Kausalität der gefundenen Zusammenhänge zu.“
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in vielen groß angelegten, ernsthaft evaluierten Studien Wissenschaftler zum Ergebnis gekommen sind, dass eine tägliche Krippen- respektive KitaU3-Betreuung für Kleinkinder ein Risiko für die kindliche Entwicklung darstellen kann, umso mehr, je früher sie einsetzt und je länger sie dauert. Dagegen war die häusliche Betreuung insgesamt mit weniger Risiken verbunden, obwohl es auch hier Risikofaktoren geben kann, wie physische oder psychische Krankheiten der Eltern, Erziehungsfehler, Gewalt, mangelnde Zuwendung, Vernachlässigung, fehlendes Einfühlungsvermögen, getrennte Familien und anderes mehr. Dann kann eine frühkindliche Betreuung in einer Kindekrippe/KitaU3 eine hilfreiche Alternative sein. Es sind darum Forderungen und Aufrufe zu verstehen, dass sowohl die Familienerziehung durch eine stärkere finanzielle, pädagogische und psychologische Unterstützung gefördert als auch die Qualität der Krippenbetreuung verbessert wird.
Ergänzend ist anzumerken, dass seit einiger Zeit neurobiologische Forschungsergebnisse vorliegen, die belegen, warum eine frühe außerfamiliäre Fremdbetreuung beim Kleinkind bedenkliche Auswirkungen auf seine Entwicklung haben kann. Daran können sogenannte Spiegelneurone, bestimmte neuronale Überträgerstoffe und das Stresshormon Cortisol beteiligt sein. Das ist Vorträgen von Rainer Böhm, leitender Arzt des Sozialpädiatrischen Zentrums in Bielefeld Bethel, und Burghard Behnke, Diplompädagoge, zu entnehmen.
Fazit
Die Studienergebnisse über „Belastende Kindheitserfahrungen beim Aufwachsen in Ost- oder Westdeutschland oder im Ausland“ und „Frühkindliche Betreuung in der ehemaligen DDR und psychische Belastung im Erwachsenenalter“ erlauben nur sehr begrenzt generalisierende Feststellungen, was darzustellen war.
Grundsätzlich lassen sich die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen, die in völlig unterschiedlichen politischen Systemen aufgewachsen sind, kaum miteinander vergleichen, schon gar nicht mittels manipuliert wirkender und mäßig evaluierter Untersuchungen, die bestenfalls Teilbereiche des Aufwachsens von Kindern und mögliche Auswirkungen im Erwachsenenalter erfassen. Als Beispiel sei die befremdlich anmutende These genannt, dass „die institutionelle Betreuung in sozialen Netzwerken der DDR“ sich als „Schutzfaktor“ gegen Kindheitstraumata „erwiesen“ hat.
Der Verfasser dieses Beitrags kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit den infrage stehenden Studien Ergebnisse erzielt werden sollten, um bestimmten Erwartungen der Auftraggeber oder beteiligter Autoren nachzukommen, und von Seiten derer, die geneigt sind, die DDR „schön zu reden“. Doch dazu besteht kein Anlass.
Zitierweise: Christian Zippel, „Die weichgespülte Republik - wurden in der DDR weniger Kindheitstraumata ausgelöst als im Westen?", in: Deutschland Archiv Online, 12.09.2024 Link: www.bpb.de/551915. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Prof. Dr. Christian Zippel studierte an der Humboldt-Universität Humanmedizin, wo er 1970 promovierte und anschließend im Klinikum Berlin-Buch beschäftigt war, ab 1982 als Chefarzt. Im Mai 1990 wurde er im Magistrat Schwierzina Stadtrat für Gesundheit wurde als CDU-Mitglied Abgeordneter für den Bezirk Pankow bei der ersten Gesamt-Berliner Wahl im Dezember 1990. Er arbeitet heute als Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie und Rehabilitation in Berlin.