Friedrich Schorlemmer: "Welches Deutschland wollen wir?"
Friedrich Schorlemmer (†)
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Er war Mutmensch und Mitmensch, nie Machtmensch. Er war Ermutiger für die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung der DDR, Bückenbauer zwischen Ost- und Westintellektuellen nach dem Mauerdurchbruch und ein äußerst kluger gesellschaftlicher Denkanstoßgeber – von Wittenberg aus in bester lutherischer Tradition. Am 8. September 2024 ist Pfarrer Friedrich Schorlemmer im Alter von 80 Jahren verstorben. Wir erinnern an den Theologen und Bürgerrechtler mit einem Text, den er 2016 selber verfasste, über den Wert des Grundgesetzes, über Geflüchtete, Vorurteile, die AfD, Donald Trump, und unsere nachlassende Demokratiekultur. Ein Denkanstoß zeitlos bis heute und darüber hinaus.
"Ein Deutschland, das sich seiner großen Leistungen im Ensemble der Völker bewusst wird und bewusst bleibt, das seine unverwechselbare Identität sucht und bewahrt, ohne andere abzuwerten. Ein Land, das in Erinnerung behält, welchen schrecklichen Zivilisationsbruch es mit Judenvernichtung und Weltkrieg, mit rassistisch-nationalistischer Selbstüberhebung und Verachtung insbesondere alles „Slawischen“ auf eine von hinten her gesehen unbegreifliche Weise hinter sich hat.
Ein Land, das mit Hilfe der Sieger in einem längeren Prozess nach 1945 von seinem Wahn befreit wurde, seine Lektion - mühsam genug! - gelernt hat und sich selbst in den Verfassungsgrundsätzen von Artikel 1 bis 20 des Grundgesetzes die elementaren Menschenrechte gebunden hat. An nichts Geringeres als an die allgemeinen Menschenrechte! Immer neu zu erringen und praktisch zu bewähren. So heißt es im Artikel 1, Absatz 2:
"Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt".
Zitat
Deutschland ist also Teil einer Weltgemeinschaft, die sich als eine Wertegemeinschaft versteht. Die zwölf Schreckensjahre der Naziherrschaft waren eben nicht mit dem Stichwort "zwölf Unglücksjahre" einer ansonsten grandiosen deutschen Geschichte abzutun, sondern das war ein Höllenschlund, den eine so großartige Kulturnation mit ungeheurer Wucht aufgerissen hatte.
Aber deswegen können und brauchen wir Deutschen unsere deutsche Identität nicht aufgeben, können und müssen anschließen an das große philosophische, kulturelle, wissenschaftliche, technische, menschliche Erbe Deutschlands - ohne jede Selbstüberhebung. Und mit einer Offenheit, wie sie uns Lessing insbesondere mit "Nathan dem Weisen" vorgehalten und selber vorgemacht hat, aufzeigend wie zerstörerisch und wie unwahr Vorurteile sind.
Die Flüchtlingsströme seit etwa einem Jahr aus kriegsgebeutelten Gegenden wie Syrien, dem Irak und Afghanistan, sind eine riesige Herausforderung für uns Deutsche wie für ganz Europa. Es steht viel auf dem Spiel - nicht zuletzt die europäische Idee der Zusammengehörigkeit aller, des Friedens und der Sicherheit für alle und der Solidarität nicht nur untereinander. Wir können das schaffen, wenn wir uns auch zugleich ohne Angst und mit klarem Blick für das wie schnell oder wie langsam Mögliche klarmachen, welch eine riesige Integrationsleistung die Zugewanderten wie auch die Einheimischen zu erbringen haben.
Dass es dabei auch Befürchtungen, ja begründete wie eingeredete Ängste gibt, dass Ressentiments sich verstärken können und Vorurteile gedeihen, lässt sich nicht von einem Standpunkt "höherer Moral" wegreden. Zugleich aber muss möglichst jedem Bürger der Bundesrepublik Deutschland klar werden, was auf dem Spiel steht und welch ein großartiger Glücksfall es war, dass wir obrigkeitshörigen, anderen gegenüber überheblich und bedrohlich aufgetretenen Deutschen, so ein wichtiger und guter Partner in Europa und in der Welt geworden sind, so dass gar Deutschland als eines der beliebtesten Länder der Welt gilt.
Das Dilemma mit der AfD
Nun ist eine rechtspopulistische Partei aus dem Stand auf zweistellige Ergebnisse gekommen. Das muss beunruhigen, aber nicht in Panik versetzen. Ganz falsch wäre es, diesem Trend nachzulaufen oder zurückzuweichen. Vielmehr sind die in demokratischen Wahlen gewählten Repräsentanten der AfD in den demokratischen Disput zu stellen: Was wollt ihr und was wollt ihr dafür tun? Welche Folgen hätte das?
Ganz fatal wäre es, all die Bürger aufzugeben, die sich als besorgte Bürger verstehen. Es gilt zuzuhören, zurückzufragen, Position zu beziehen, wieder erkennbare Grundsätze in praktische Politik zu übersetzen. Und nicht abgehoben sein. Im Parlament ist in einer repräsentativen Demokratie der Volkswille versammelt, der aufgrund unserer Verfassungsgrundsätze Ausdruck findet und im Streit miteinander um die beste Lösung kompromissfähig ringt. Jedenfalls ist es wenig förderlich wegen der Erfolge der rechtspopulistischen AfD in Angststarre zu verfallen.
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Ein eher national orientierter und tendenziell xenophober Furor treibt in Europa in vielen Ländern sein (Un)-Wesen. Wo würden wir uns in Deutschland und in welchem Europa wiederfinden, würden verfassungsändernde Mehrheiten unsere freiheitliche und weltoffene Staatsverfassung verändern. Wer Grenzen nach außen schließt, ist bald selber eingeschlossen. Wer nationale Lösungen sucht, übersieht, dass dies in einer globalisierten Welt nicht mehr möglich ist. Eine geschlossene Gesellschaft mit geschlossenen Grenzen würde auch zu einer Atmosphäre des Ab- und Eingeschlossenseins führen und einzelne Länder wieder gegeneinander in Stellung bringen. Wichtig bleibt uns einzugestehen, dass wir weder alle, die aus der ganzen Welt zu uns kommen wollen, aufnehmen können und dass wir unsere besondere Prägung als Deutsche mit gutem Recht nicht aufgeben wollen.
Wo ein Land sich politisch auflädt, von innen her spaltet und wo die Systemfrage aus genereller Enttäuschung gestellt wird, da verfangen alte, als untauglich erwiesene Konzepte: Regressives, das angebliche Sicherheiten verspricht; Nationales, das stets vorrangig Förderung des Eigenen verspricht; das Abschottende, das inneren Frieden verspricht. Da werden Stimmungen aufgegriffen, erzeugt und verstärkt, bis sie sich in Stimmen verwandeln, bis Parolen in trügerische politische Konzepte gegossen werden. Suggestive Propagandisten werden nach oben gespült, weil das Autoritäre durchaus eine Gefolgschaft mit Lustmomenten hervorruft.
Ethisch begründete Konzepte haben es immer schwer wenn materielle oder nationalistische Interessen dominieren. So gern der Mensch ein freies Wesen sein will, so sehr sehnt er sich auch nach Führung. Und wird so gern Untertan. Der Dostojewski'sche Großinquisitor mit einem Machtrealismus bekommt ebenso Recht wie der Machiavelli'sche „Fürst“ Zustimmung erfährt, zumal wenn er mit äußeren oder inneren Feinden konsequent abrechnet.
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Politische Bildung, die sich in keinem Lebensalter erübrigt, muss klar machen, wohin nationalistisches, diktatorisches, ideologisch-religiöses oder "eingemauertes Denken" führt. Erschütternde Bilder im Blick behalten: vom Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Bilder der Frauen und Männer, die den Führer mit hoch aufgereckten Armen begeistert begrüßt haben. Bilder von denen, die Stalin nicht nur gefolgt sind, sondern überzeugt die vernichtende Drecksarbeit in den Gulags gemacht haben. Bilder von Mugabe, der sich gewandelt hat vom Befreier zum Diktator in Simbabwe. Ganz zu schweigen vom durchgeknallten Donald Trump.
Kein Land ist absolut gefeit vor dem Abdriften in nationalistische Sackgassen. Insofern ist die Mahnung "Wehret den Anfängen" ganz und gar keine kitschig- abgedroschene Politparole. Die repräsentative Demokratie kann ihre Akzeptanz verlieren, wo Politiker so abgehoben agieren, dass sie das Ohr oder gar die Zustimmung der Bürger nicht mehr finden, sich aber - illusionär - schnelle, endlich „richtige“ so unreflektierte wie autoritäre Lösungen versprechen. Parlamentarischer Streit wird maulend als Streitigkeit abgetan.
"Frust ist eine Ressentimentpflegestation"
Stimmungen aber sind noch keine diskutierbaren Meinungen, sollten indes auf ihre Hintergründe hin analysiert und auf ihren rationalen Kern zurückgeführt werden. Frust ist noch lange kein politisches Programm, sondern eine Ressentimentpflegestation. Schließlich: Wer da auf den Straßen vor vorhandenen oder geplanten Asylbewerberheimen brüllt "Wir sind das Volk", missbraucht eine emanzipatorische Formel, die Widerständige unüberhörbar gegenüber einer lediglich durch ihre Ideologie legitimierten Staatsmacht, die sich Diktatur des Proletariats genannt hatte, gebraucht hatten.
Ich frage alle, die der AfD zuneigen oder diese gut zu verstehen meinen, ob sie den politischen Grundsätzen folgen können, die gewissermaßen als Ergebnis eines friedlichen Aufbruchs in die Demokratie formuliert wurden – nämlich die "Präambel der Verfassung des Runden Tisches", verfasst von Christa Wolf:
Zitat
"Ausgehend von den humanistischen Traditionen, zu welchen die besten Frauen und Männer aller Schichten unseres Volkes beigetragen haben, eingedenk der Verantwortung aller Deutschen für ihre Geschichte und deren Folgen, gewillt, als friedliche, gleichberechtigte Partner in der Gemeinschaft der Völker zu leben, am Einigungsprozeß Europas beteiligt, in dessen Verlauf auch das deutsche Volk seine staatliche Einheit schaffen wird, überzeugt, dass die Möglichkeit zu selbstbestimmtem verantwortlichen Handeln höchste Freiheit ist, gründend auf der revolutionären Erneuerung, entschlossen, ein demokratisches und solidarisches Gemeinwesen zu entwickeln, das Würde und Freiheit des einzelnen sichert, gleiches Recht für alle gewährleistet, die Gleichstellung der Geschlechter verbürgt und unsere natürliche Umwelt schützt, geben sich die Bürgerinnen und Bürger… diese Verfassung."
Über diese Sätze würde ich gern mit allen reden, die der AfD nahe sind und sie fragen, was sie gegen eine solche Präambel haben, was sie warum gegen Artikel 1 dieses Dokument der friedlichen Revolution 1989 mit schließlicher Abwahl des SED-Systems haben könnte. Da heißt es:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar... Jeder schuldet jedem Anerkennung als gleicher. Niemand darf wegen seiner Rasse, Abstammung, Nationalität, Sprache, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seiner sozialen Stellung, seines Alters, seiner Behinderung, seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung benachteiligt werden."
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Ich schlage also vor, positiv offensiv zu werden. Nicht gegen jemanden anzutreten, sondern darzulegen, was man selber will und was die anderen dagegen einzuwenden hätten. Dann würden wir entweder zu neuen Erkenntnissen kommen - oder aber entlarven beziehungsweise entlarvt werden. Es lebe unser Grundgesetz als eine Boje der Freiheit und des Rechts!
Geschrieben von Friedrich Schorlemmer am 15. März 2016. Erstveröffentlicht auf seiner Homepage Externer Link: www.friedrich-schorlemmen.de neben zahlreichen weiteren Reden, Aufsätzen und Buchtexten. Zitierweise: Friedrich Schorlemmer, „Welches Deutschland wollen wir?", in: Deutschland Archiv Online, 10.09.2024, Link: www.bpb.de/552073. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Ein Nachruf des Grafikers Externer Link: Klaus Staeck auf seinen Weggefährten Friedrich Schorlemmer, mit dem er zahlreiche Demokratieforen organisierte, folgt (hk).