„Helmut Kohl war der Kanzler der Einheit, aber für die Franzosen ist er vor allem der Kanzler der Versöhnung. Mit dieser Geste in Verdun beginnt in Wahrheit erst die deutsch-französische Freundschaft. Alles andere vorher waren vorsichtige Versuche der Annäherung. 1963, als Konrad Adenauer und General Charles de Gaulle den Élysée-Vertrag unterschrieben hatten, zensierte der Präsident Jean Ferrats Chanson „Nuit et brouillard“ (Deutsch: Nacht und Nebel), das im Fernsehen und Radio nicht gesendet werden durfte. Ferrat, dessen Vater in Auschwitz ermordet worden war, hatte damit an die französischen Opfer des Naziregimes erinnern wollen. Man fürchtete damals tatsächlich, ein Chanson könnte das aufkeimende Pflänzchen der deutsch-französischen Freundschaft in Gefahr bringen.“
Der Händedruck von Verdun Deutsch-französische Symbolpolitik im Jahre 1984
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Das Foto ist eine Bildikone. Es entstand am 22. September 1984 beim Treffen des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand mit Bundeskanzler Helmut Kohl in Verdun. Wie kam es dazu?
Dieser Presseartikel am Tag des Todes von Bundeskanzler Helmut Kohl spannt nicht alleine einen emotionalen Bogen der deutsch-französischen Beziehungen von den 1940er- bis in die 1980er-Jahre, sondern verdeutlicht ein weiteres Mal, dass die Bonner Außenpolitik ohne die Kenntnis der NS-Vergangenheit nicht zu verstehen ist.
Das Gedenken an 40 Jahre Kriegsende im Juni 1984
Die Vorgeschichte des Treffens von Verdun begann mit der Entscheidung des neu gewählten französischen Präsidenten François Mitterrand, sein Wahlkampfversprechen aus dem Jahr 1980/81 einzulösen und den 8. Mai wieder zu einem nationalen Feiertag zu machen. Besondere geschichtspolitische Anstrengungen unternahm er auch im Vorfeld des 40. Jahrestags von Befreiung und Kriegsende 1944/45. Unter seiner Schirmherrschaft wurde im Januar 1984 ein Comité d’honneur eingesetzt, dessen Aufgabe es sein sollte, die nationalen Zeremonien zum Gedenken an Résistance und Libération sowie an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorzubereiten.
„Nicht zuletzt ist Präsident Mitterrand selbst ein überzeugter Nationalist und als ehemaliger Kriegsgefangener, Widerstandskämpfer und Minister für Kriegsteilnehmer in der ersten franz. Nachkriegsregierung unter de Gaulle hier persönlich engagiert und motiviert.“
Die Pariser Botschaft äußerte gar die Sorge, dass es zu einem „verspäteten Fest der Sieger über die Besiegten ausarten“ könnte: „Ein solche Veranstaltung – ohne deutsche Teilnahme – könnte in der gesamten Welt in dem Sinne verstanden werden, dass die Bundesrepublik Deutschland im Endergebnis immer noch nicht zu den klassischen Ländern der freien Welt zählt.“
Aus diesen Erwägungen heraus entschied sich die bundesdeutsche Seite, Einfluss auf die Verantwortlichen in Paris auszuüben: „Es geht darum, vor allem den Gastgeber Frankreich, aber auch die eingeladenen Verbündeten (…) darauf hinzuweisen, dass diese Feiern nicht nur gegenwartsbezogen sein dürfen. Sie müssen für die Gegenwart klarmachen, dass der Gegner von damals heute ein geachtetes demokratisches Mitglied der Völkergemeinschaft und insbesondere ein zuverlässiger Partner in der Zehner-Gemeinschaft und ein wichtiger Verbündeter in der Atlantischen Allianz ist und dass die Bundesrepublik Deutschland die stetige und konsequente Politik für den Frieden in Freiheit in diesem doppelten Verbund aktiv mitträgt.“
Es mag Bonn beruhigt haben, dass die französische Seite den 8. Mai unter das Motto „Friede, Freiheit und Völkerverständigung“ stellte. Am 3. Mai 1984 wusste die Pariser Botschaft zu berichten, dass „bei keiner der zahlreichen Veranstaltungen (…) der ‚Sieg über Deutschland‘ gefeiert“ würde.
„Der Feind von gestern war nicht Deutschland, sondern die Regierungsgewalt, das System und die Ideologie, die sich des Landes bemächtigt hatten. Wir würdigen die toten Deutschen, die in den Kämpfen fielen. Ihre Söhne wie die unsrigen bezeugen, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Die Gegner von gestern haben sich versöhnt und gestalten gemeinsam das Europa der Freiheit“.
Auf dem Weg nach Verdun
François Mitterrand schien selber nicht überzeugt von der Entscheidung, den Bundeskanzler nicht in die Normandie eingeladen zu haben und brachte Kohl im Vorfeld sein Unbehagen zum Ausdruck. Das Zusammentreffen der damaligen drei Alliierten habe doch etwas „Beleidigendes“ gegenüber den damaligen Kriegsgegnern und heutigen Verbündeten, wie er bei einem gemeinsamen Treffen in Saarbrücken am 20. Mai 1984 bekannte. Zudem fürchte er, dass „ein besonderer Stich in die deutsch-französische Freundschaft getan werde“. Kohl reagierte darauf mit einer „Idee für den Herbst. Könnten nicht der Präsident und er einmal beide auf einem Soldatenfriedhof auftreten? Es gebe Friedhöfe, auf denen Deutsche und Franzosen beerdigt seien.“ Der Kanzler versprach sich davon „eine große Wirkung“ und traf bei Mitterrand auf offene Ohren.
So ist dem Journalisten und langjährigen ARD-Korrespondenten und Moderator Ulrich Wickert Recht zu geben, dass der „Auftritt von François Mitterrand und Helmut Kohl vor dem Gebeinhaus in Verdun von französischer Seite der Versuch einer Wiedergutmachung“
Auch in der Pariser Botschaft begannen umgehend geschichtspolitische Überlegungen zur Vorbereitung des Treffens. Verständigung und Versöhnung standen dabei im Mittelpunkt, sollte doch die dunkle Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen das nach 1945 Erreichte umso heller erstrahlen lassen:
„Opfersinn, Leiden und Tod der in den Bruderkriegen verwundeten und gefallenen deutschen und französischen Soldaten lassen sich nicht in Worte fassen. In der Geschichte der beiden Völker ist Verdun Mahnmal für die Sinnlosigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen, wegweisendes Symbol für den Verständigungswillen und die Verständigungsbereitschaft der Menschen beiderseits des Rheins geworden. Im Wissen um die tragende Kraft der deutsch-französischen Aussöhnung als Bestandteil des europäischen Einigungswerks und in dem Ziel, durch die weitere und stetige Festigung der beiderseitigen Beziehungen einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der europäischen Friedensordnung zu leisten, werden der deutsche Bundeskanzler und der französische Staatspräsident am 22.09.1984 der Franzosen und Deutschen gedenken, die durch ihren Tod auf den europäischen Schlachtfeldern der Vergangenheit den Weg zur Vernunft, Aussöhnung und Verständigung gewiesen haben.“
Das Treffen am 22. September 1984
Nachdem Mitterrand die Einladung an den Bundeskanzler am 12. September 1984 offiziell ausgesprochen und Kohl diese „zur gemeinsamen feierlichen Ehrung der Gefallenen beider Weltkriege“
Kohl und Mitterrand beschränkten sich bei ihrem Blick zurück in die Vergangenheit auf die gefallenen Soldaten und verorteten ihr Treffen im Zeichen „des Friedens, der Vernunft und freundschaftlichen Zusammenarbeit“. Darüber hinaus richteten sie den Blick in die Zukunft und platzierten ihr Treffen in einen europäischen Kontext: „Europa ist unsere gemeinsame kulturelle Heimat, und wir sind Erben einer großen europäischen Tradition (…). Wir haben uns versöhnt. Wir haben uns verständigt. Wir sind Freunde geworden.“
Geplant oder spontan?
Der Tag von Verdun ging jedoch nicht wegen der gemeinsamen Erklärung in die Geschichtsbücher ein, sondern wegen des mano a mano zwischen dem Kanzler und dem Präsidenten. Ob er geplant war, bewegt bis heute Historiker und Öffentlichkeit. Ausgehen können wir von gesellschaftlichen Erwartungen an die beide Staatsmänner, wie sie Pierre Homant, Kaplan des Knochenhauses von Douaumont, zum Ausdruck brachte: „Seit langem schlagen wir hier eine moralische Annäherung vor. Ich hoffe, dass dieses Treffen Mitterrand/Kohl eine Geste darstellen wird, dass sie sinnbeladen sein wird (…). Die Versöhnung kann nur auf moralischen Kriterien beruhen, nicht auf politischen. Diese doppelte Vorgehensweise der Staatsmänner muss die Herzen berühren und eine tiefe Bedeutung haben, die bei allen das Gefühl hervorrufen muss, welches die Soldaten in den Gräben empfunden haben: über den Krieg hinaus eine schmerzliche Bruderschaft. Ein Bewusstsein vom menschlichen Dasein.“
Der Historiker Ulrich Lappenküper geht nicht von einem geplanten Akt aus, sondern macht bei Mitterrand ein ausgeprägtes Gespür für die Bedeutung der Geschichte im Leben von Franzosen und Deutschen aus, sodass er plötzlich seine Hand ausstreckt habe,
Welche emotionale Ausstrahlung der Händedruck entfaltete, geht direkt aus dem offiziellen Protokoll der bundesdeutschen Diplomatie hervor: „Minutenlang verharrten Präsident und Kanzler barhäuptig Hand in Hand vor dem Mahnmal gegen die Sinnlosigkeit des Krieges (…). Die Gedenkfeier war eindrucksvoll, die ineinander verschlungenen Hände des französischen Staatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers waren symbolträchtig. Wer noch von Emotionen erfasst werden kann – und dies waren nicht wenige der in Douaumont Anwesenden – konnten sich der Wirkung dieses Bildes nicht entziehen. Man wurde unwillkürlich an den Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Brandt in Warschau 1970 erinnert.“
Das Urteil der Historiker
Unter den Historikern kontrastieren die Einschätzungen. Edgar Wolfrum kommt zu dem Schluss, dass beide Staatsmänner „eine Symbolpolitik betrieben wie noch niemals zuvor“, habe es doch kein „stärkeres Symbol (…) seit dem ‚Bruderkuss‘ zwischen Adenauer und de Gaulle in der Kathedrale von Reims“ gegeben.
Sowohl innen- wie außenpolitisch wurde Kohl der Vorwurf gemacht, einen geschichtspolitischen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen zu wollen.
Dass Kohls Geschichtspolitik von einer Schlussstrichmentalität durchdrungen war, bekannte er selbst bereits im Vorfeld von Verdun gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten György Lázár: „Er wolle mit Präsident Mitterrand deutlich machen, dass unter die Vergangenheit ein Schlussstrich gezogen werde.“
Fazit
„Ein Volk, das sich von seiner Geschichte abwendet, gibt sich auf (…). Für die Untaten der NS-Gewaltherrschaft trägt Deutschland die Verantwortung vor der Geschichte. Diese Verantwortung äußert sich auch in nie verjährender Scham. Wir werden nicht zulassen, dass etwas verfälscht oder verharmlost wird.“
Zitierweise: Ulrich Pfeil, "Der Händedruck von Verdun", in: Deutschland Archiv, 17.09.2024, www.bpb.de/552233. (ali)
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Prof. Dr.; Professor für Deutschlandstudien an der Université de Lorraine (CEGIL-Metz). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen, der DDR, des Kalten Krieges und von Versöhnungsprozessen.
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