Am 1. Dezember 2011 starb Christa Wolf nach langer schwerer Krankheit, im Alter von 82 Jahren. Die Art, wie der erfolgreichen, aber auch umstrittenen Autorin gedacht wurde, geriet zum Test darauf, wie es um unsere Erinnerungskultur bestellt ist, der in der schnelllebigen Zeit nicht mehr recht getraut wird. Die Zeitungen haben die Probe gut bestanden. Ausführliche Nachrufe fanden sich nicht nur in den Feuilletons, sondern auch auf den sonst der Politik vorbehaltenen Seiten. Stimmen von Zeitgenossen, von prominenten und weniger bekannten Lesern wurden eingeholt. Später folgten die Berichte über die Trauerfeier bei der Beerdigung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in der Mitte Berlins. Die ergreifende Gedenkrede des engen Freundes Volker Braun wurde vollständig in mehreren Blättern gedruckt. Manche Berichterstatter fühlten sich durch den "hohen Ton" irritiert, den der Dichter angeschlagen hatte. Vermissten sie die Phrasen, mit denen vor Gräbern so vieles eingeebnet wird? Die präzise Diktion bewahrte vor gefühlvoller Überwältigung. Braun gab sogar der ironischen Pointe Raum, dass die Nähe von Grabstätten berühmter Schriftsteller an ästhetische Gegensätze erinnert, denn es führt kein Weg von Bertolt Brechts Sarkasmus zu dem emphatischen, empfindsamen Aussprechen der subjektiven Wahrheit bei Christa Wolf: "Das war weit entfernt von Brechts List, die Wahrheit zu sagen; der V-Effekt: dass sie nun nah beieinander liegen."
Ein deutsches Leben
Eine Analyse der Überschriften und der Schlusssätze in den Nachrufen der bedeutenden Blätter hilft da weiter. Als Blickfang für den Leser werden oft Einzigartigkeit und überragende Bedeutung hervorgehoben: "Hier wurde die radikale Selbstbefragung Form: Mit Christa Wolf starb die einzige Schriftstellerin von Weltrang, die das sozialistische Deutschland hervorgebracht hat"
Aber vielleicht erleichterte es gerade die geografische Übersichtlichkeit, zu glauben, die Utopie des vernünftigen humanen Sozialismus lasse sich umsetzen, wenn man nur durchhalte. Dass die DDR im Wesentlichen ein "Anhängsel" der Sowjetunion war, hat man trotz aller Erfahrung verdrängt, bis die Hoffnung aufkeimte, Michael Gorbatschows "Glasnost" könnte der DDR (statt der Breschnew-Doktrin) aufgezwungen werden. Alles zu spät, dem Untergang geweiht. Es hat keinen Sinn, Künstlern, auch den mit aktivistischer Tatkraft aufgeladenen, vorzuhalten, sie seien keine Realpolitiker gewesen.
Desillusioniert haben Christa und Gerhard Wolf den "Erfahrungsraum Romantik" besetzt, gegen die Taktiker der Macht. Sie waren nicht allein. Ihr Freund Franz Fühmann, eher an E.T.A. Hoffmann interessiert, erinnerte an das Unheimliche und Zerstörerische, an die "Schwarze Romantik". Die Weltgeschichte lieferte Gründe fürs Scheitern. Aber woher den Mut nehmen für die Entmutigung, die in die unproduktive Depression führen könnte? "Kein Ort. Nirgends", der Text, der Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist – in freier Erfindung – zusammenführte, erwies sich als klüger als die noch im Wunschdenken verharrende Autorin.
Selbstversuch nach Ansteckung
Wer durch den Zufall der Geburt oder der Vertreibung nach 1945 in Ostdeutschland aufwuchs, hatte unterschiedliche Optionen. Man konnte erkennen, dass eine anders gefärbte (stalinistische) Diktatur im Einflussbereich der sowjetischen Siegermacht nach und nach etabliert wurde. Dieses Argument gewann allerdings erst im Lichte späterer historischer Erfahrungen an Überzeugungskraft. 1945 lag mehr in Trümmern als die Städte. Allumfassender Aufbauenthusiasmus war gefragt. Ein großer Teil der durch die Naziideologie desorientierten Jugend nahm das fatale Angebot an, das falsche Weltbild durch die definitiv richtige marxistisch-leninistische Weltanschauung zu ersetzen. Auch dafür wurde Christa Wolf zur Symbolfigur, weil bei ihr das empfindsame Festhalten an den Träumen der Jugend mit ihren Lebenserfahrungen und intellektuellen Erkenntnissen in Widerstreit geriet. Hans-Dieter Schütt, einst einflussreicher SED-Journalist und heute herausfordernd nachdenklicher Feuilletonchef beim "Neuen Deutschland" schrieb im Gedenkartikel über Christa Wolf: "Sie selber: ein Mensch im leidenschaftlichen Selbstversuch; von ostdeutsch-frühsozialistischem Entwurfsklima war sie angesteckt worden, aber da, wo sie lustvoll Entwerfende zu sein hoffte, wurde sie von den Verwerfungen des Systems an die Grenze zur Verzweiflung getrieben (...)".
Nicht zufällig wird hier die Metapher der Ansteckung gewählt: Es lodert das Feuer der Begeisterung, aber die Angesteckte könnte auch selbst verbrennen. Zugleich verweist Ansteckung auf das Gefährliche und Krisenhafte einer Infektion. Die psychosomatischen und organischen Erkrankungen Christa Wolfs deuten ja nicht nur auf die jeweils aktuellen Belastungen, sondern auf die Nachwirkungen der frühen Prägungen.
Ironische Nebentöne
Weil Christa Wolf vor allem als autobiografische Erzählerin bekannt und berühmt wurde, überlagern sich die Urteile über ihr Werk und über sie als Person, als Bürgerin, Genossin usw. So finden sich in vielen Nachrufen, die alles in allem der Verstorbenen den ihr gebührenden Platz einräumen, auffällig ironische Nebenbemerkungen. Hier ein paar Beispiele: "Der Zusammenstoß dieses romantischen Universums mit der Welt der HO-Gaststätten hat die schöne alte deutsche Schwermut erzeugt, für die Christa Wolfs Werk in die Geschichte eingehen wird." (Iris Radisch)
Auch die Vermutung, sie sei ein eher ängstlicher Mensch gewesen, dem es an Unerschrockenheit fehlte, klingt nach leichtfertiger Küchenpsychologie aus der Ferne. Als Walter Ulbricht noch übermächtig war, hat sie einzigartigen Mut bewiesen. Es bedurfte auch großer Willensstärke, die Publikation ihrer Bücher nach 1968 bei der Kulturbürokratie durchzusetzen. Ist mein Vorschlag, sie sei abwägend vorsichtig gewesen und nie demonstrativ tollkühn, auch nur ein entbehrliches Gegensatzpaar? Vermutlich verführt ihr unaufhörlicher Versuch der Selbstvergewisserung zu manch holzschnittartiger Charakterisierung.
Aussagen über die Haltbarkeit der Texte bedürfen anderer Kriterien. Michael Bienerts Prognose klingt verhalten: "Ihr Leben und Werk wird auch die schnelllebige Nachwelt noch einige Zeit herausfordern".
Tilman Krause rechnet dauerhaft mit Lesern, die existentiell nach Lebenshilfe suchen: "Bücher wie 'Nachdenken über Christa T.' oder 'Kein Ort. Nirgends' werden denen, die sich in der Welt fremd fühlen, immer ein Trost sein."
Ende einer Epoche
Wer ahnt, dass das Interesse an der DDR schließlich abflauen und verschwinden oder statt von Belletristik durch Fachbücher der Historiker bedient würde, stellt lieber ihre vieldeutigen Bearbeitungen antiker Mythen wie "Kassandra" und "Medea" heraus, die in bleierner Zeit zum – freilich hochwertigen – Ersatz dienen mussten, als aus inneren und äußeren Gründen das Tor zu Gegenwartsstoffen für die Autorin versperrt war. Auffällig oft wird betont, dass mit ihrem Tod eine Epoche zu Ende gehe. "Und mit ihr ein deutsches Autorenmodell: der Autor als Instanz" (Volker Weidermann). Das ist ein zweideutiges Lob: Der aufs Podest Gehobenen wird zugleich ins Lexikon geschrieben, wie veraltet sie eigentlich schon sei.
Der Bericht von der Gedenkfeier der Berliner Akademie der Künste in der "taz" trug die Überschrift "Abschied von der Gegeninstanz".
Allerdings signalisiert der Bedeutungsverlust, den ein politisch engagierter und gesellschaftlich eingreifender Großschriftsteller der alten Bundesrepublik im vereinigten Deutschland erfuhr, wie viel sich schon verändert hat: Günter Grass, der über Jahrzehnte polarisiert hatte, steht nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Gut befreundet mit Christa Wolf und der gleichen Generation zugehörig, hielt er bei der Gedenkfeier der Akademie eine Trauerrede, in der sich Ressentiment und Provokation irritierend mischten.
Zuspruch und Angriff
Der Zuspruch durch westdeutsche Freunde hat Christa Wolf in schwierigen Zeiten gestärkt. In den Erinnerungsworten von Egon Bahr oder Bettina Gaus, der Tochter von Günter Gaus, zeigt sich herzliche Verbundenheit. Der liberale Journalist hatte als Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik sich als Außenseiter verständnisvoll den DDR-Bürgern zugewandt – in Frontstellung gegen beamtenhafte antikommunistische Klischees. Das brachte ihm, als er wieder publizistisch arbeitete, den Vorwurf ein, er beschönige die DDR als System. Gaus sympathisierte mit der humanistisch-sozialistischen Alternative zum Realdogmatismus, und so konnte Christa Wolf voller Vertrauen in die wegen seiner Fragetechnik berühmte TV-Sendung "Zur Person" gehen. Denn sie hatte sich nach 1990 damit abfinden müssen, dass die westdeutsche und nunmehr gesamtdeutsche Presse sie massiv angriff. Sie war nachhaltig verstört und verängstigt. Wieso sollte sie sich Fragen aussetzen, die sie an Verhöre auf Parteiversammlungen oder an Audienzen bei SED-Spitzen erinnerten? Sollte sie sich mit über 60 Jahren urplötzlich noch dem Schlagabtausch mit einer frechen, unberechenbaren Presse aussetzen? Sollte man aber andererseits nicht mit aggressiven, nassforschen Fragen jüngerer Leute, die kein Gespür dafür besitzen, "wie wir gelebt haben", souverän umgehen können, als erfolgreiche, wirkungsstarke Autorin?
Ich vermute, dass dieser freie Umgang in frühen Jahren hätte gelernt werden müssen. Die zentral gesteuerte DDR-Presse bot dafür kein Übungsfeld. Wenn der offiziell wenig beachtete Kultursender "Radio DDR 2" in der "Literarischen Stunde" eine Lesung Christa Wolfs mit vorangestelltem kurzem Interview brachte, lag das an der zuständigen Kulturredakteurin. Der Kontrast zum chaotischen Pluralismus im Westen ist evident. Der "Spiegel"-Redakteur Volker Hage beschreibt in seinem Nachruf, wie er Christa Wolf zu unterschiedlichen Zeiten erlebte.
1990 schlug sie Hage wieder ein Interview ab, mit der brieflichen Begründung, es werde "eine von Hohn und Schadenfreude begleitete Demontage von Werten vorgenommen". 1993 nach der "Stasi-Enthüllung" durfte Hage sie in Santa Monica besuchen. Wieder erlaubte sie kein Interview. Erst 2010 war sie bereit, Antworten zu geben. Sie sei präzise, freundlich und reserviert gewesen bei seinem Besuch in ihrer Altbauwohnung. Die Autorin wollte die Kontrolle behalten, ihr Verhalten gründete sich auf Erfahrung. Ihr Misstrauen war berechtigt. Hages freundlich gemeinter Nachruf zielt mit seinen oberflächlichen Wertungen auf den flüchtigen Magazinleser, und die Überschrift "Mater dolorosa der DDR" zerrt die gern als protestantisch-asketisch Abgestempelte in eine vage katholische Tradition. Und trotzdem blieb ihre Art der Kommunikation unprofessionell. Auf das Abenteuer des riskanten Gesprächs unter Nicht-Gleichgesinnten wollte sie sich nicht einlassen. Auch eine solche Form der Selbstbestimmung muss respektiert werden, obwohl diese Distanz vom Literaturbetrieb ihren Preis verlangt.
Christa Wolfs Tod evoziert im Westen auch die nostalgische Erinnerung an die Zeit, als ihre Texte die feministische Diskussion belebten. Unter Berufung auf Wolf will die undogmatische marxistische Linke den utopischen Horizont offen halten. Frigga Haug von der Frauenredaktion der Zeitschrift "Das Argument" erinnert an das Jahr 1982, als in West-Berlin mit dem Projekt "Erinnerungsarbeit" begonnen wurde, unter Benutzung der "Kindheitsmuster" als "Werkzeugkasten". Dieses Forschungsvorhaben werde auch künftig "mit ihr", soll heißen: mit Wolfs Texten, fortgeführt.
Kontraste West/Ost
Die Signale aus der sozialwissenschaftlichen Nische ändern nichts daran, dass Christa Wolfs Ausstrahlung, ihre "grenzenlose" Wirkung zu Zeiten der geteilten Welt am stärksten war. Es versteht sich von selbst, dass im Jahr 2012 vor allem frühere DDR-Bürger emotional bewegt von der Identifikationsfigur Abschied nehmen. Verschiedene Generationen sind mit der Lektüre ihrer Bücher aufgewachsen, die oft nur schwer zu bekommen waren, sodass sich mit manchen Titeln auch das Abenteuer der Beschaffung verbindet. Die Gedenkworte der Schriftsteller mit Ostherkunft zeigen eine durch gemeinsame Hoffnungen und Desillusionierungen geknüpfte nahe Verbindung, auch bei denen, die auf Distanz zu ihrem empfindsamen Stil hielten.
So liegt die Frage in der Luft, ob es nicht immer noch – je nach Ost- oder Westsozialisation – kontrastierende oder wenigstens nuancierende Wertungen gibt, die über die schon erwähnten ironischen Einschübe hinausgehen. Einige Berliner Zeitungen haben die Probe auf dieses Exempel gemacht. Im "Tagesspiegel" schrieben Gregor Dotzauer (West) und Kerstin Decker (Ost). Trotz der (auf den Regeln der Textsorte Nachruf basierenden) Gemeinsamkeiten finden sich deutliche Nuancierungen. Dotzauer nennt Wolf im ersten Satz "die geborene Zweiflerin". Sie begann aber als Wahrheitssagerin, war auf Unumstößliches aus. Erst Erfahrung lehrte sie, dass der Weg zur Erkenntnis lang sein würde. Dotzauer schreibt: "Ihr ging es immer nur darum, gerade den Irrtum als Weg zu begreifen. Skeptizismus war für sie das beste Mittel gegen die Selbstgewissheiten allen ideologischen Denkens (...)". Aber der Irrtum war nie das Kernwort ihrer bewussten Selbstanalyse. Den Begriff "Skeptizismus" hätte sie nicht für sich in Anspruch genommen, denn dabei handelte es sich um eine gängige demagogische Abwertung durch den Parteiapparat. Es bedeutete Gefahr für den Abweichler oder die Abweichlerin. Der gute Wille und der Wahrheitsanspruch wurde ihnen abgesprochen, und sie gerieten in die Nähe des dekadenten Zynismus. Die Autorin wird in der lobenden Nachrede unversehens zur frei schwebenden liberalen Intellektuellen. Mir geht es nicht darum, an der Qualität des Nachrufs herum zu mäkeln, der rasch geschrieben werden musste und der viele treffende Beobachtungen enthält. Die zitierten Beispiele sollen nur eine "westdeutsche" Art der Würdigung belegen.
Wenige Tage später schob die Zeitung den ohne hektischen Zeitdruck entstandenen Nachruf Kerstin Deckers nach.
Auch die Berliner "taz", die sehr viel Raum für unterschiedliche Reaktionen bot, kontrastierte, sogar hintereinander auf derselben Seite Leseerfahrung Ost und Leseerfahrung West.
Susanne Mesmer, einst West-Studentin, nahm Wolf wie viele andere, die in Seminaren "weibliche Schreibweisen" untersuchten, als Identifikationsfigur der Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung. Die Überschrift "Christa war cool" verweist locker auf solches Einverständnis. Darin steckte auch Modisches und Zeitbedingtes. Allmählich wurde es anstrengend, ihr die Treue zu halten. Die Erdenschwere ihrer Texte stand quer zum Zeitgeist. "Ihr erhobener Zeigefinger konnte gewaltig nerven"! So lautet das von Ehrerbietung freie Urteil über eine Eigenheit, die der Kritiker Tilman Krause als "ein wenig lehrerinnenhaft wirkende Pedanterie" charakterisiert. Das Publikum, das zu den Lesungen mit anschließender Signierstunde strömte, feierte vermutlich als Gemeinde Gleichgesinnter und Gleichaltriger auch eigene Lebenshaltungen. In trotziger Solidarität wurde die Autorin vereinnahmt und in Anspruch genommen. Zuneigung von Lesern und hier vor allem von Leserinnen lässt sich nicht einfach abwehren. Als Ausgleich zu Verunglimpfung und Unverständnis tut die Nachfrage vor Ort gut – und sie bleibt doch lästig und anstrengend. Können die Leute nicht einsehen, dass Alter und Krankheit die Prioritäten verändern und das Abonnement auf Lebenshilfe eigentlich nicht mehr gilt? In eine Christa-Wolf-Lesung geraten zu sein, fand die "taz"-Autorin am Ende eher unangenehm: "Ihre Fans waren zumeist jenseits der Sechzig und wirkten übellaunig. Christa Wolf schien zuletzt Patin der Beleidigten geworden zu sein." "West-Augen" registrieren die Überalterung der Gemeinde. Auch Volker Weidermann meint, "die Leser, meist Frauen jenseits der siebzig, kamen zu ihr wie in einen Gottesdienst."
Die verlorenen Söhne
Nüchtern betrachtet, verweisen die despektierlichen Beobachtungen darauf, dass der empfindsame Grübelton für viele Jüngere fremdartig und unattraktiv klingt, ganz unabhängig davon, wo sie oder ihre Herkunftsfamilien aufgewachsen sind. Damit relativiert sich die Virulenz eines fortschwärenden Ost-West-Gegensatzes. Spätestens in ihrem letzten Jahrzehnt war die DDR für viele Nachgeborene in ein seltsames Konglomerat grotesk-komischer Einzelteile zerfallen. Das Lebensgefühl der Jungen kam ohne die Melancholie enttäuschter Hoffnungen aus.
Als Beispiel dafür kann die konzentrierte Würdigung Christa Wolfs durch den Dichter Durs Grünbein (geboren 1962) gelten. Er nennt sie eine "seltsam unnahbare Mutter", hinter der ein eigensinniges Mädchen steckte. Die Bücher, verfasst im Stil der säkularen Beichte, seien "unter den halbwegs kritischen Geistern" Pflichtlektüre gewesen. Wie nebenbei habe sie die Leser zu dem erzogen, was sie selbst als kritische Loyalität verstand. Grünbein spricht von ihrem "wackeren Linkshegelianismus", wodurch er Marx und den Marxismus ausspart. Wenn er sie "als frühe Musterschülerin des Überwachungsstaates, dem sie bis zuletzt in Hassliebe verbunden blieb", charakterisiert, fällt er – trotz seiner Sympathie für "Kindheitsmuster" und die "Kassandra-Vorlesungen" – ein hartes kühles Urteil, schließlich berichtet Grünbein von einer Begegnung im Haus der Autorin. Als Mitglied einer Kommission hatte sie im Dezember 1989 das brutale Vorgehen der DDR-Sicherheitskräfte bei den Oktober-Demonstrationen zu untersuchen. Der seinerzeit von der Gewalt Betroffene empfand "fremde Nähe" und resümiert: "Sie konnte nicht fassen, was ich als Augenzeuge berichtete und am eigenen Leibe erfahren hatte. Mehr als alles aber war sie über meine Desillusioniertheit bestürzt. Hier saß einer der für den Kommunismus auf ewig verlorenen Söhne einer mütterlichen Träumerin gegenüber, und beide hatten füreinander wohl Mitleid. Mit dieser Märchenbegegnung wird sie mir in Erinnerung bleiben."
So zeigen die Reaktionen auf ihren Tod, dass die Kontroversen über ihre politischen Ambitionen und ihre literarischen Leistungen nicht zu Ende sind, sondern eher noch schärfere Konturen gewinnen. Es ist aber stets besser, lange umstritten zu bleiben, als zu früh vergessen zu werden. Ein Vergleich mit den Würdigungen zu ihrem 80. Geburtstag im Jahre 2009 ergäbe kaum auffällige Unterschiede. Anstatt mich zu wiederholen, verweise ich auf meinen Beitrag "Fortlaufendes Nach-Denken" im "Deutschland Archiv".
Neue Gedächtnisprüfung
Nur auf ihren letzten zu Lebzeiten erschienenen Roman, der damals noch nicht vorlag, "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" (Berlin 2010), soll hier eingegangen werden. Das Buch erzählt von ihrem Aufenthalt in Los Angeles Anfang der Neunzigerjahre, als ihr die aufgebauschten Enthüllungen über eine kurze, unbedeutende Tätigkeit als Stasi-Informantin psychisch und physisch zusetzten. Ich sehe von der komplexen Struktur und von den Details ihrer Erforschung des Lebens der in der Nazizeit in die USA vertriebenen Emigranten ab. Unberücksichtigt bleiben ihre Verweise auf die Psychoanalyse, die so äußerlich aussehen wie Sigmund Freuds Mantel, das Requisit, das dem Untertitel etwas Geheimnisvolles gibt. Ausgeklammert bleibt neben vielem anderen auch ihr Amerikabild. Denn hinter dem Stoff einer "Reisereportage" geht es erneut ums Nachdenken darüber, was sie in der DDR gedacht und getan hat.
Dass sie die kurze Episode als "IM Margarete" vergessen und verdrängt hat, stärkt ihr Misstrauen in die Verlässlichkeit des Gedächtnisses. Wolf rekonstruiert, was sie gedacht haben könnte, als sie die Anwerber nicht sofort wegschickte: "Vielleicht sind die notwendig. Vielleicht brauchen wir die. Nur zwei, drei Jahre später hätte ich 'die' nicht mehr zur Tür hereingelassen. Anderen habe ich das dann mit Erfolg geraten." (S. 258) Wie war der harte Schnitt, die Verweigerung gegenüber dem Machtinstrument der SED vereinbar mit der weiteren gläubigen Zugehörigkeit zu eben dieser Partei? Das Versteckspiel, der Vertrauensbruch, anerzogene bürgerliche Tugenden kollidierten mit den höheren Interessen und politischen Notwendigkeiten. Zum Kern ihrer Lebensentscheidung gehörte die Sehnsucht nach Aufrichtigkeit. Von daher nahm Wolf die Kraft für ihr zugleich mutiges wie naives Aufbegehren auf dem berüchtigten 11. Plenum des SED-Zentralkomitees im Dezember 1965. Danach Zusammenbruch und Klinikaufenthalt ebenso wie 1989 nach der Alexanderplatz-Rede. Herzrhythmusstörungen, ein unzuverlässiges Immunsystem und Angstträume sind offenbar der Preis für die Überanstrengungen.
Auch in diesem Buch gelingt die Selbstbefreiung nicht, weil zu ihrer Schreibart der "Klartext" nicht gehört. Sie würde ihn aber gern geschrieben haben. Immer wieder durchblättert sie in Los Angeles Thomas Manns Tagebücher, um zu sehen, wie er sich dort vom Nimbus der angesehenen öffentlichen Figur entlastete. Sie war eine eifrige Tagebuchschreiberin, und vielleicht wird die Nachwelt – nach längerer Sperrfrist – tiefere Einblicke gewinnen.
In "Die Stadt der Engel" umkreist Wolf ihre Lebensprobleme. Sie führt Selbstgespräche oder Dialoge mit sich selbst, auch mit einem anderen Ich, denn es bestehen Zweifel, ob sie dieselbe ist, die sie einmal war. Wenn sie sich mit Freunden unterhält, bleibt das Gespräch situationsabhängig und partnerbezogen. Auch bremsen die Vertrauten durch liebevolle Reaktionen oft alle Chancen ab, radikaler mit sich umzugehen. Das ist literarisch versiert gestaltet, aber enttäuschend.
"Meine Leute" als Gegner
Christa Wolf erinnert daran, wie sie 1965 den jungen Autor Werner Bräunig, der sich später zu Tode trank, vor den maßlosen Angriffen des Generalsekretärs Walter Ulbricht verteidigte. Dann folgt ihr Kommentar: "Glaubten wir damals noch, durch Reden, durch Argumente die Meinung der Regierenden, sogar ihre Handlungen beeinflussen zu können?" (235) – Was soll eine solche Frage? Hier hätte ein Indikativsatz hingehört. Elf Jahre später, 1976, als sie und gleichgesinnte Kollegen mit guten Gründen gegen Biermanns Ausbürgerung protestierten, haben sie immer noch an solche Einflussmöglichkeiten geglaubt. Erst danach, als eine massive Repression einsetzte, war Christa Wolf bereit, die Machtmenschen unversöhnlich, wie sie schreibt, als Gegner anzusehen, mit denen es weder gemeinsame Sprache noch gemeinsame Zukunft gebe. Die SED-Propagandisten hatten, auch bei manchen im Westen, Erfolg mit der Lüge, die Wolf habe Vernunft angenommen: "Man verbreitete, um dich bei den anderen Protestierern zu verunglimpfen, die Behauptung, du hättest insgeheim bei einem der 'Gespräche' deine Unterschrift doch widerrufen und eure Aktion als Fehler eingestanden. Verschwiegen haben sie, daß sie niemals etwas anderes als ein Nein von dir zu hören kriegten, ein Nein, das, wie du genau wußtest, aus Gründen der Selbsterhaltung unantastbar war und bleiben mußte." (163) Die Autorin fragt sich nicht, im veröffentlichten Text jedenfalls nicht, warum die Manipulatoren ein Psychogramm von ihr zugrundelegten, das die Lüge glaubhaft erscheinen lassen sollte.
Im Buch finden sich viele Stellen, in denen Christa Wolf beklagt, dass sie viel zu spät durchschaut habe, was gespielt wurde. Oft kommentiert sie nur ein Urteil anderer und lässt offen, ob sie es bejaht. "Wenn es stimmte, daß ich in jedes Messer gelaufen war, dachte ich, dann doch nur, weil ich das Messer nicht für ein Messer hielt" (166f). Neue Gründe für die erklärungsbedürftige Blindheit finden sich nicht. Neben der Bewunderung für die großen Vorbilder, vor allem für Anna Seghers, blieb vor allem die Idee vom Langzeitprojekt eines menschenwürdigen Sozialismus wirksam. Es war auf Zukunft ausgelegt, nicht auf die eigene winzige Lebensspanne. Den Leitsatz, "die Enkel fechtens besser aus", hatte der große Ernst Bloch als Prinzip Hoffnung geadelt. "Wir mochten unser Land nicht, wie es war, sondern wie es sein würde" (258).
Dennoch war die kühle Logik rationaler Argumente für ihr Leben nicht bestimmend, in dem es nicht nur Zweifel, sondern auch Verzweiflung gab. In Krisenzeiten fand sie Trost in dem Gedicht des Barockdichters Paul Fleming, das mit den Worten "Sei dennoch unverzagt" beginnt und das Corinna Harfouch auf dem Friedhof zum Abschied gesprochen hat. In Wolfs Buch steht, dass in der Schublade neben dem Gedichttext "die kleinen grünen Beruhigungspillen" lagen, mit denen sie sich unempfindlicher machen wollte in der Konfrontation mit den Genossen, die sie weiter für ihre Leute hielt. Noch in den USA kommen ihr Alpträume, in denen sie in als Parteiversammlung getarnten Tribunalen gebrandmarkt wird. Sie hatte sich das SED-Mitgliedsbuch klauen lassen, also ein Heiligtum, das die Glaubensgemeinschaft in der Art einer obskuren Sekte verehrte. Die Unzuverlässige hatte dem Klassenfeind zugearbeitet und erhielt eine Parteistrafe. Nach dem Erwachen sucht sie ihr letztes rotes SED-Büchlein heraus und fühlt nichts dabei. "Wann waren die Gefühle, die sich einst an diese Papiere geheftet hatten, ungültig geworden? Diese ganze Skala unterschiedlicher, widersprüchlicher, einander ausschließender Gefühle?" (42) Die Fragen werden immer diffuser, bis hin zu der, ob durch das Erkalten dieser einst starken Emotionen nicht ihre ganze Gefühlswelt verarmt sei. Auch wenn sie keine Antwort gibt, wird indirekt deutlich, wie tief die frühe Bindung sie bis zum Ende trotz aller leidvollen Erfahrungen gefesselt hat. Sie hatte Angst vor der Leerstelle. Sie fragte sich, was geschieht, wenn von falscher Empfindung nur übrig bleibe, dass sie falsch war. Sie lässt den Gedankengang in einem kryptischen Satz enden: "Aber man kann seine falschen Empfindungen natürlich auch hätscheln." (159) Sie, die so oft dazu ermutigt hat, Ich zu sagen, verbirgt sich im unpersönlichen "man".
Blinde Flecken:
Antikommunismus und Renegatentum
Zu den Freunden, die ihr vielleicht aus dem Dilemma hätten heraushelfen können, gehörte Lew Koppele, für den das Leben im Westen eine nicht gewollte, aber doch mögliche und schließlich auch gelebte Alternative darstellte. Wolf berichtet, wie sie zufällige Zeugin eines heftigen Streits zwischen Kopelew und Anna Seghers (in deren Wohnung) geworden war. Es ging um die Flugblätter, in denen Ilja Ehrenburg die Rotarmisten zum brutalen Umgang mit deutschen Frauen aufgerufen hatte, was Seghers guthieß, während Kopelew seinerzeit als Offizier die Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung in Ostpreußen mutig verhindern wollte. Die harmoniesüchtige Christa Wolf ist erleichtert darüber, dass die Beiden sich am Ende heftig umarmen. Der sanftmütige Russe enthebt sie jeder Entscheidung. Der Titel von Kopelews Memoirenbuch "Und schuf mir einen Götzen" klingt sehr ähnlich wie "Ein Gott, der keiner war". Aber für Christa Wolf liegen Welten dazwischen. Arthur Koestler und Manès Sperber haben sich in ihrem Weltbild als "Renegaten" für ewig disqualifiziert. Anstatt sich leidensfähig und treuherzig den schmerzhaften Brüchigkeiten auszusetzen, haben sie den einen endgültigen Bruch riskiert.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier wird nicht nachträglich in bequemer Arroganz eine Entscheidung eingeklagt, die Christa Wolf aufgrund ihrer Biografie und ihres Charakters gar nicht erbringen konnte. Es gehört aber zu den unauflösbaren Rätseln, dass sie die intellektuelle Auseinandersetzung mit dieser Haltung verweigert oder ausspart. Die Namen derer, die mit der DDR Hoffnungen verbanden und dann freiwillig oder gezwungenermaßen weggingen, füllen mehrbändige Speziallexika. Christa Wolf hat sich nur mit dem heimatlosen Genie Thomas Brasch solidarisieren können, dem sie kompromisslos verbunden blieb. Jeder geht seinen eigenen Weg, grenzt sich ab, schreibt mit eigener Handschrift. Erich Loest, Monika Maron, Barbara Honigmann, Günter Kunert, um nur wahllos einige Namen zu nennen, haben sich anders entschieden als Christa Wolf. Sie sahen für ihre Leben Alternativen. Vielleicht finden sich in den Tagebüchern der diskreten Autorin noch aufschlussreiche Eintragungen. Denn die oft als "Romantikerin" Etikettierte hat stets ereignisoffen registriert, was in ihrer Umgebung geschah.
In "Die Stadt der Engel" wird immerhin Wolf Biermann einmal flüchtig erwähnt, denn sie liest in der Zeitung Ärgerliches über ihn. Christa Wolf und Wolf Biermann? War das nicht stets ein Kontrast? Der selbstsichere Mann und das schüchterne Jungmädchen? Der überlebende Nachfahr einer kommunistischen Familie und die schuldbewusste Kleinbürgerin? Der Großstädter und die Provinzlerin? Der bodenständige Hamburger und die entwurzelte Flüchtlingsfrau? Der freiwillig in die DDR Übergesiedelte und die dort zufällig Hängengebliebene? Der Sohn eines in Auschwitz ermordeten Juden und die misstrauisch beäugte Kandidatin auf Bewährung? Die Ungleichen hatten nur ein gemeinsames Parteibuch, und wie wenig sie miteinander verband, zeigte sich erst, als die zwanghafte Fremdbestimmung sich auflöste. Christa Wolf notiert, "daß ein Kollege, der unser Land wenige Jahre vor dessen Zusammenbruch hatte verlassen müssen, aber doch etwas wie ein Gesinnungsgenosse gewesen war, sich nun als radikaler Kritiker zeigte all derer, die in der DDR geblieben waren, anstatt dieses Land ebenfalls mit Abscheu zu verlassen" (22). Biermann, denn von ihm ist die Rede, wird vorgehalten, er kritisiere alle, die nicht wie er ("ebenfalls"!) mit Abscheu das Land verlassen hätten. Der Satz, der so endet, beginnt mit dem unumstößlichen Faktum, dass Biermann die DDR verlassen musste. Christa Wolf gehörte ja zu den Erstunterzeichnern des Protestes gegen die gemeine Intrige, die in der Ausbürgerung endete, und sie hat dafür mit psychischem Zusammenbruch bezahlt. Wie ist es möglich zu verdrängen, dass Biermann unbedingt in die DDR zurückwollte und sein Bekenntnis zum Kommunismus weiter emotional auflud, bis er in einem langwierigen Denkprozess Jahre später die prinzipielle Abkehr vollzog?
Versteckspiele und stille Verfehlungen
Auch in dem letzten zu ihren Lebzeiten publizierten Buch vermeidet die Autorin die Auseinandersetzung mit konkreten Gegenpositionen. Sie verbleibt im Zwiegespräch mit sich selbst und gönnt sich Entspannung im imaginierten Dialog mit Freunden. Insgesamt fühlt sie sich unter Druck stehend, mit einem ununterbrochen ablaufenden Tonband im Kopf. Sie spielt damit, dass sie Aufzeichnungen vom Beginn der Neunzigerjahre aus Los Angeles verwendet und zugleich im Abstand von fast einem Jahrzehnt weiterschreibt. Vor den Kapiteln stehen durch Versalien herausgehobene vorläufige Denkresultate, die sie ihrem "Maschinchen" anvertraute. Da steht zum Beispiel: "Die Suche nach dem Paradies hat überall zur Installation der Hölle geführt. Waltet da ein unumstößliches Gesetz? Dem wäre nachzugehen." (118) Sie räumt auch ein, dass ihr Leiden an den Zuständen sie dazu motivierte, gegen alle Vernunft an einem Projekt festzuhalten, das mit Notwendigkeit schon gescheitert war: "Mit der Einsicht kam der Schmerz. Wie soll ich Ihnen erklären, daß der Schmerz ein Maß für die Hoffnung war, die ich immer noch in einem vor mir selbst verborgenen Versteck gehegt hatte" (289).
Hier wird ein Hang zum Masochismus angedeutet, aber das letzte geheimnisvolle verschlossene Zimmer will sie nicht betreten. Das frühkindliche Verbot der Selbstentblößung wurde im Erwachsenenalter zur dauernden Selbstkontrolle gesteigert. Der Traum, als Schreiberin die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten, verstärkte die Sehnsucht nach der endgültigen Dunkelheit, die befreien würde von dem Zwang, alles sagen zu müssen" (35). So gibt sie einem die Chance, die Passagen der trotzigen Selbstverteidigung zu überlesen. Von stillen Verfehlungen ist nebenbei die Rede. Ihre Großmutter, ein schlichtes, armes Mädchen vom Lande, ist 1945 auf der Flucht verhungert. Die Enkelin versagte sich jedes Trauerempfinden, "weil ich den Verlust der Heimat und unser Leiden als gerechte Strafe für die deutschen Verbrechen empfinden sollte und wollte" (405f). "Sollte und wollte" – besser kann man Fremdbestimmung und Einverständnis nicht bündeln. Die Mutter liegt im Sterben, während der Prager Frühling niedergeschlagen wird, mit dessen Intentionen die Tochter sympathisiert. Sie begreift damals nicht das Wort der Sterbenden, es gebe Wichtigeres. Es scheint so, als habe sich Christa Wolf in den letzten Jahren mehr als zuvor von den Zwängen befreit, eine öffentliche politische oder literarische Rolle zu spielen. Wer sie näher kannte, weiß, dass sie eine freundliche, humorvolle, freundliche, offene und neugierige Gastgeberin war, der Kochkunst und anderen Genüssen nicht abgeneigt, frei von politischer Borniertheit und asketischer Beschränkung. Seit langem weiß sie, dass der banale Zufall das Leben bestimmt und nicht die historische Gesetzmäßigkeit. Im Mai 1945 ging es um Stunden: "Wären die Pferde des Gutsbesitzers, auf dessen Wagen wir hockten, nicht so ausgepumpt gewesen, daß sie selbst durch Peitschenhiebe nicht mehr anzutreiben waren – ich hätte ein vollkommen anderes Leben gelebt." (242f) Sie wäre in den Westen gelangt, vielleicht Lehrerin geworden, sonst lässt sich nichts vermuten.
Christa Wolfs letzter zu ihren Lebzeiten veröffentlichter Text, spröder und angestrengter als frühere Dokumente ihrer autobiografischen Selbstvergewisserung, erlaubt – je nach Vorverständnis – unterschiedliche Lesarten. Sie spricht von ihrem gebremsten Aufbegehren und stilisiert sich so nicht zur Opponentin, sie nennt ihre Hoffnung gebrechlich und vermeidet so auftrumpfende Selbstgerechtigkeit. Zugleich wird jeder Gedanke relativiert und in der Komplexität unlösbarer Welträtsel verborgen. Ironisch bietet sie uns gegen Ende eine banale Konklusion an: "Eine vorläufige Arbeit ist zu einem vorläufigen Schluß gekommen" (413). Christa Wolf bietet Umschreibungen, auch am Ende. Ohne das einfühlende diskursive Umkreisen der subjektiven Erfahrungen wären ihre Meisterwerke nicht entstanden, deren dauerhafte Beständigkeit letztlich keiner bestätigen kann. Kühle Analyse hat sie nicht geliefert, sie gehört nicht zur Zunft der Historiker oder Politikwissenschaftler. Die oft unentschiedene und auch deswegen umstritten bleibende Literatin hat sich sogar einen Titel ausgedacht für ein imaginäres finales Projekt, das alle Erwartungen, nur nicht die eigenen, erfüllen sollte, aber nie entstehen konnte: "IRRGANG, ich dachte, dies wäre ein passender Titel für ein künftiges Schreibwerk, er würde mich radikal in die richtige Richtung leiten, nein: zwingen, und da war doch die Frage angebracht: Wollte ich das überhaupt? Konnte ich es wollen? Der Titel traf zu gut, er blieb einsam. Ein einsamer Titel, der seinen Text suchte" (108). Kein Parodist, nicht einmal Peter Wawerzinek, könnte Christa Wolfs unverwechselbare Eigenheiten besser treffen.