Im Kapitel "Menschen aus der Nachbarschaft" aus dem dritten Teil ihrer Autobiografie beschreibt Ingeborg Rapoport den Start des Lebens ihrer Familie in der DDR. Dorthin musste sie mit ihrem Mann Mitja Rapoport und ihren vier Kindern vor McCarthy und seiner Kampagne gegen Kommunisten aus den USA fliehen.
Nach Ihrer Ankunft in Berlin wohnte die fünfköpfige Familie erst einmal in dem erhaltenen Flügel des ehemaligen und im Krieg erstörten Luxushotels "Adlon" am Brandenburger Tor. Von dort zogen die Rapoports nach Pankow in ein Haus in der sogenannten Intelligenziasiedlung. Über das Leben in dieser Umgebung erzählt Ingeborg Rapoport im Folgenden:
Menschen aus der Nachbarschaft
Zunächst hieß es für uns, aus unserem Schwebezustand im Hotel Adlon herauszukommen und eine Bleibe zu finden. Man schien uns vergessen zu haben, bis Mitja – nach Wochen – darauf drückte, uns eine Wohnmöglichkeit zuzuweisen. Da kam uns ein Glücksfall zu Hilfe. Einem alten Professor und seiner Haushälterin war ein Einzelhaus angeboten worden, das er aber ablehnte, da es ihm zu mühsam zu bewirtschaften schien, und so wurde es uns zugesprochen: das gerade erst fertiggewordene letzte Häuschen in einer der beiden sogenannten »Intelligenzsiedlungen« in Niederschönhausen.
Unsere Siedlung bestand aus kleinen zweistöckigen Einzelhäusern zweierlei Bautyps, der eine, im Kern des Blocks gelegene, recht wohlproportioniert, im Obergeschoß jedoch mit abgeschrägten Decken – der andere, zu dem auch unser Haus gehörte, mit einer so asymmetrischen Fassade, dass ich mich immer gefragt habe, wie der Architekt den Anblick seines eigenen Produktes hatte ertragen können: rechts vom Eingang befindet sich nämlich neben einem winzigen Klofenster das normal große Fenster der Küche – links vom Eingang dagegen nichts – eine leere verputzte Wand, ohne Unterbrechung – und oben, fast mit der Höhe der Dachrinne abschließend: drei Fenster. Wir haben uns später bemüht, durch eine Fichte und höhere Büsche auf der linken Seite die optische Unausgewogenheit auszugleichen. In diesem Haus leben wir noch heute, und viele Beziehungen und Erinnerungen verknüpfen unser Leben mit jenen Menschen, die in dieser Siedlung gelebt haben. Mit der Zeit verloren die »Typenhäuser« ihr schematisches Einerlei und wurden durch die Bepflanzung der Vorgärten, durch mancherlei Umgestaltung zu Individuen, die die Lebensart ihrer Bewohner widerspiegelten und der Siedlung Leben und Eigenart verliehen.
Im Gegensatz zu der anderen, erstgebauten, »Intelligenzsiedlung«, wie die Anhäufung dieser Neubauten von der Bevölkerung genannt wurden, ist unsere die weitaus weniger »elegante«, da dem Baumeister nach und nach das Geld ausgegangen war. Sie ist auch nicht so groß und nimmt in unserer Straße lediglich einen halben Straßenblock von je vier oder fünf Häusern auf jeder Seite ein. Unser Haus als letztes in der Reihe grenzt schon an »normale« vier- bis fünfstöckige Mietshäuser, deren ältere Bewohner sich noch an den kleinen Kiefernhain erinnerten, der unserer Siedlung Platz machen musste. Nur noch die winzige Parkanlage an der Ecke mit ihrem abschüssigen Rasen und einer uralten Eiche am Fuß des »Berges«, wie der Hügel von allen Kindern bezeichnet wurde, war von dem einstigen Wäldchen geblieben. Diese Siedlung diente aus der Emigration und aus Konzentrationslagern zurückgekommenen Künstlern und Wissenschaftlern, die bei der großen Wohnungsnot der Nachkriegsjahre keine andere Unterkunft fanden, aber auch Professoren, die aus anderen Städten nach Berlin berufen wurden. Unsere Siedlung stand in unmittelbarer Nachbarschaft zu Wohnungen der alteingesessenen Bevölkerung. Die Bewohner der Straße um uns herum waren kleinbürgerlicher Herkunft, viele waren Nazis gewesen, 1945 war für sie nicht die Befreiung gekommen; sie sprachen vom »Zusammenbruch«; die älteren unter ihnen waren verbittert und standen dem neuen Regime misstrauisch, wenn nicht feindselig, gegenüber.
Ob es eine so gute Idee war, eine solche Siedlung von Einzelhäusern als Enklave in einem alten Stadtteil zu bauen, will ich dahingestellt sein lassen. Ich habe mich oft gefragt, wie viel Feindseligkeit diese Häuser unter den Anwohnern ausgelöst haben mögen, und habe mich von Anfang an darum bemüht, diese Feindschaften abzubauen, ohne deshalb unsere politische Weltanschauung zu verstecken. Alles in allem glaube ich, dass die Siedlung bis zur »Wende« ein Fremdkörper inmitten der übrigen Straßen Niederschönhausens geblieben ist. Dabei gab es in derselben Straße, in der wir wohnten – einige Blocks entfernt – eine alte Villengegend, deren Häuser durchweg komfortabler waren als die in unserer Siedlung. Aber ihre Besitzer waren »akzeptiert«, ihre Vergangenheit und Gesinnung, ihr Schicksal schien durchsichtig und nachfühlbar, während wir fremd und politisch suspekt waren. Dazu kamen eine weit verbreitete dumpfe Intelligenzfeindlichkeit und der offene oder unausgesprochene Vorwurf der »Begünstigung durch die Regierung«.
Die Bewohner unserer Siedlung waren keineswegs einheitlich »rot«, politisch aber doch vorwiegend dem Neuen verbunden. Ich empfand neben dem Gefühl des Unbehagens, von den Alteingesessenen scheel angesehen zu werden, auch eins der Solidarität, der Wärme und des lebhaften Interesses für die Vielzahl der »Intellektuellen« und ihrer Schicksale. Mit manchen freundeten wir uns an, andere kamen uns durch unsere Kinder näher. Einige starben oder zogen fort – aber sie bleiben für mich ein Teil dieser bunten Vielfältigkeit, die nun in unser Leben hineinströmte. Erste Kontakte ergaben sich zu unseren unmittelbaren Nachbarn, den Martienssens, gleich am Tage unseres Einzugs. Gerade hatten die letzten Handwerker unser Haus verlassen. Die Wände waren noch feucht, ein elektrischer Herd stand zwar in der Küche, aber die Heizplatten fehlten. Auch gab es zu der Zeit gerade keine Töpfe zu kaufen. Wir baten daher die Martienssens, bei ihnen die Milch für die Kinder wärmen zu dürfen.
So entstand unsere Freundschaft zu diesen hochherzigen Menschen. Professor Martienssen, emeritierter Klavierpädagoge an der Hochschule für Musik, Berlin, DDR, war schon sehr alt und lebte in sich zurückgezogen neben uns. Er hatte jedoch eine schöne und hochtalentierte, ich glaube, um mehr als 30 Jahre jüngere Frau, die sich in ihren Lehrer verliebt und ihn geheiratet hatte. Ihr einziger Sohn war etwas älter als unsere Kinder, deren Bekanntschaft er mit einer seiner schauspielerischen Darbietungen machte, als er ihnen nämlich von seinem Balkon aus mit wilden Gesten klarmachte, er sei der Teufel. Die Vorstellung war für unsere Kinder so furchterregend und zugleich anziehend, dass sie von Stund an mit »Nucki« Freundschaft schlossen.
Nucki war ein einsames Kind, hochintelligent, immer der Klassenbeste, aber nie habe ich ihn mit anderen Kindern spielen sehen. Er war schauspielerisch tatsächlich ungewöhnlich begabt. Unvergesslich ist mir eine Schulaufführung geblieben, zu der er uns eingeladen hatte, in der er als vielleicht Zwölfjähriger einen alten Müller spielte. Jede Geste, der etwas schlürfende Gang, die Art, wie er sich den Mehlsack auflud, waren von unbestechlicher Realität und in erschütternder Weise wohl seinem alten Vater nachgeahmt. Er konnte auch glänzend deklamieren. Und doch wurde er kein Schauspieler. Ich habe ihm mehrfach seine Begabung vor Augen gehalten und auch aus meinem Bedauern keinen Hehl gemacht, dass er sich ihr nicht hingeben wollte. Er meinte, seine Stimme sei zu klein. Aber der eigentliche Grund war die Furcht der Familie vor den »Versuchungen des Theaterlebens«.
Mutter und Großmutter – und später er selbst – ängstigten sich vor den Abgründen ihrer leidenschaftlichen Familien-Veranlagung. In was für Schicksale hatte diese sie auch geworfen! »Amo«, die Großmutter, war zu unserer Zeit eine stets schwarzgekleidete, streng anmutende, hohe Gestalt, deren Schönheit auch noch im Alter aus dem feinen Schnitt des Gesichtes und den klaren Augen hervorleuchtete. Sie hatte sich aus einer großbürgerlich reichen Ehe heraus in einen bettelarmen schottischen Pastor verliebt, ihre ganze Vergangenheit bedingungslos stehen- und liegenlassen, war ihrem Liebhaber, der nach und nach in Trunksucht versank, gefolgt und blieb bei ihm durch Elend und Armut bis zu seinem Tode. Ihr Ehemann, dessen Liebe zu ihr ebenfalls nie erlahmte, hinterließ ihr und den beiden Kindern, einem Sohn und einer Tochter, Nuckis Mutter, ein beträchtliches Vermögen, das sich aber nur in kleinen Beträgen aus der BRD in die damalige DDR transferieren ließ. Amos Sohn war – soweit ich Andeutungen entnommen habe – in einen Strudel der Versuchungen gezogen, immer mehr ins Unglück geraten und hatte schließlich seinem Leben selbst ein Ende gesetzt.
Elisabeth Martienssen, Nuckis Mutter, hatte den Wesenszug der bedingungslosen Ausschließlichkeit von Amo geerbt. Ihr eigentliches Lebenszentrum war die Musik. Durch sie wurde sie wohl in die Arme ihres Lehrers getrieben, durch die Musik entstand auch ihre spätere Liebe zu einem viel jüngeren Menschen, einem angehenden Dirigenten, dem sie alles gab, was ihr an musikalischer Begabung innewohnte. Sie war selbst eine hochtalentierte Pianistin, aber vor allem eine großartige, leidenschaftliche und fordernde Lehrerin. In diesem Punkte verstand sich meine Mutter besonders gut mit ihr. Nach dem Tode ihres Mannes bewarb sie sich an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« als Dozentin. Der damalige Direktor, Professor Rebling, hatte aus »politischen Gründen«, die eigentlich wohl eher Elisabeths Mann galten, aber sich möglicherweise auch auf Elisabeths eigene unabhängige Geistesart und christliche Herkunft bezogen, große Vorbehalte, sie einzustellen, nahm sie aber schließlich auf unsere über Georg Knepler lancierte Empfehlung hin doch auf. Er hat es sicher nie bereuen müssen. Talent, Musikbesessenheit, Anteilnahme am Leben junger Menschen und eine Lehrerbegabung von solcher Intensität und Uneigennützigkeit in einer Person, das begegnet dem Direktor einer Hochschule nicht so oft. Nur zum eigentlichen Glücklichsein hatten Elisabeth – wie auch »Amo« – keine Begabung. Ihre hohen inneren Anforderungen ließen es nicht zu und bedeuteten auch für die, die ihr nahestanden, unablässige Prüfungen, denen sie sich nicht gewachsen fühlten. »Amo« liegt längst auf einem kleinen, dunklen Waldfriedhof. Die Katzen, die um sie herumstrichen, sind ebenfalls lange tot, und die Blütenpracht, die sich unter ihren Händen wie durch Zauber auf dem kargen märkischen Sandboden hinter ihrem Haus ausbreitete, wich später einem formell-repräsentativen Garten, als die »Ständige Vertretung der BRD« sich dort niederließ. Elisabeth zog zunächst in die Stadt, dann aber in ein Häuschen am Walde außerhalb Berlins, wo wir sie immer mal besuchen wollen. Und »Nucki«? Er studierte Philosophie, wohl das ungeeignetste Fach, wenn man sowieso schon sehnsüchtig und unerfüllt ist. Ab und zu treffe ich ihn zufällig, freue mich und bin traurig, weil ich fühle, dass auch sein Leben bisher nicht voll geglückt ist.
Wie viele tragische Schicksale barg unsere kleine Siedlung! Am bedrückendsten scheint mir das Leben des Bildhauers Will Lammert, der durch die Nazis und den Zweiten Weltkrieg mehr als sein halbes Lebenswerk verlor. Als er nach dem Krieg aus sowjetischer Emigration nach Berlin kam, musste er von vorn beginnen. Ich liebte und bewunderte diesen stillen Menschen und bin öfter in sein Atelier gegangen. Damals arbeitete er an den Entwürfen für sein wohl erschütterndstes Werk, das Mahnmal in der Gedenkstätte Ravensbrück, dem ehemaligen Frauen-Konzentrationslager: Weithin sichtbar über den See auf einer hohen Stele steht die von ihm geschaffene Frauengestalt, die, trotz Hunger und Verfolgung ungebrochen und stolz, das tote Mädchen in ihren Armen trägt – eine unvergessliche Anklage gegen die Nazi-Mörder von 92 000 Frauen und Kindern.
Will Lammert suchte nach einem Modell für das tote Mädchen, das schon nicht mehr Kind und noch keine Frau sein sollte. Ich bin ganz stolz darauf, dass ich diesen Menschen für ihn fand und auch dazu überreden konnte, ihm Modell zu stehen. Auch sein Thomas-Müntzer-Denkmal in Mühlhausen ist in meinen Augen trotz seiner scheinbar konservativen Darstellung eine großartige Verkörperung von menschlicher Würde und Unerschrockenheit. Es ist Lammert in der DDR keine lange Schaffensperiode mehr geblieben. Aber er war mit Sicherheit einer der bedeutendsten Bildhauer dieses Landes.
Durch unsere Kinder verknüpfte sich unser Leben auch mit der Familie eines anderen Bildhauers, Fritz Cremer, zu dessen Frau Christa wir schnell eine innere Nähe spürten. Ihre wunderbare hohe und schlanke Gestalt hat sich zu meiner Verwunderung wenig in Fritz Cremers Skulpturen widergespiegelt. Ursprünglich war sie mit dem Bildhauer Waldemar Grzimek verheiratet gewesen, von dem das bemerkenswerteste Heine-Denkmal, das ich kenne, in Berlin steht. Dieses Denkmal birgt für mich als Ärztin ein Geheimnis in sich, auf dessen Grund ich nie gekommen bin – sooft ich auch voller Bewunderung vor der Skulptur gestanden und gegrübelt habe. Grzimek hat es fertiggebracht, den gelähmten Heine darzustellen in seinem Willen und in seiner Ohnmacht, aufzustehen. Dieses unbändige und unstillbare physische und geistige Verlangen hat die Skulptur zu einem meiner Lieblingskunstwerke gemacht. Ich habe Grzimek persönlich nie kennengelernt, ich weiß von ihm lediglich aus vielen begeisterten Schilderungen unserer Söhne, damals kleine Schulbuben und eng befreundet mit Thomas Grzimek, dem Sohn aus Christa Cremers erster Ehe.
Welch ein Gegensatz musste zwischen den beiden Ehemännern von Christa bestanden haben. Waldemar war ein großer, kraftvoller Kerl, nach der Beschreibung unserer Kinder übermütig und jungenhaft, ließ er sich von ihnen bedenkenlos zu allen möglichen Streichen verleiten, zum Beispiel zu gänzlich gesetzeswidrigen Autogeschwindigkeiten, so dass ich immer froh war, wenn die Kinder wieder heil zu Hause waren. Sie lockten ihm Geld aus der Tasche, liebten ihn als ihresgleichen, aber sie bewunderten und respektierten seinen Esel, der den Garten in Erkner beherrschte, wo Grzimek damals wohnte.
Von diesem großen Kind, das Waldemar Grzimek wohl gewesen ist, wechselte Christa, die aus altem Landadel stammt, selbst eine talentierte sensible Malerin, zu dem kleinen ernsten, unermüdlich fleißigen Arbeiterjungen Fritz Cremer. Wahrscheinlich hat sie seine Festigkeit und Zuverlässigkeit, die unerschütterliche Kraft seines Glaubens an den Sozialismus angezogen. Wer von den beiden – Cremer oder Grzimek – der bedeutendere Künstler ist, wage ich nicht zu beantworten. Fritz Cremer hat sicher erst in der DDR sein Talent voll entfalten können. Im Gegensatz zu Grzimek fühlte er sich auch immer der Lehre und Erziehung junger Menschen verpflichtet, so war er auch viele Jahre Professor an der Akademie der Künste und betreute Meisterschüler. Auch Christas Talent förderte er mit liebevoller Aufmerksamkeit.
Als es nach der »Wende« 1990 im Museum für Deutsche Geschichte Unter den Linden in Berlin eine Ausstellung über die damaligen Strömungen und die Gefühle für die DDR-Vergangenheit gab und Fritz Cremers Werke als »Schandmale des sozialistischen Realismus« verhöhnt wurden, hätte ich den Urhebern dieser Bilderstürmerei gern meinen Zorn und meine Verachtung gezeigt. Aber sie waren selbst natürlich nicht zugegen. So konnte ich meinem Unmut nur laut Luft machen. Schon unter den Nazis verkannt, wurden an die 50 seiner frühen Bildwerke im Zweiten Weltkrieg vernichtet. Er war mehr als 40 Jahre alt, als er sein künstlerisches Schaffen wieder aufnehmen konnte. Am Ende seines Lebens sah er sich erneut einer feindlichen Bewegung gegenüber. Aber er war doch besser dran als Will Lammert – schließlich war er bereits weltbekannt, und man wird seine Monumente wohl doch nicht antasten. Wie mag er sein Los im Inneren getragen haben? Ein alter kranker Mann mit der Berufskrankheit eines Bildhauers, einem starken Lungen-Emphysem. Ich habe ihn zwar vor seinem Lebensende lange nicht gesehen, aber ich glaube, er wird mit dem ihm eigenen maßvoll-freundlichen Lächeln über die Meinungen kleinlicher Menschen hinweggesehen haben.
Christa hat jedenfalls durch dick und dünn zu ihm gestanden. Leider haben wir uns weniger und weniger gesehen, seit die Kinder erwachsen und ihre eigenen Wege gegangen sind. Thomas, ihr Sohn, war jahrelang Meikis Schulkamerad und bester Freund. Er wurde Töpfer und zog mit seiner Frau in das Oderbruch, zunächst erfüllt von der Einfachheit seiner ländlichen Umgebung, der melancholischen Weite der Landschaft – aber dann regte sich in ihm die Sehnsucht nach Neuem, nach weiterer künstlerischer Entwicklung – so löste er sich von Frau und Kindern und brach zu einem neuen Leben auf. Ich würde ihn gern einmal wiedersehen – er war und ist eines der vielen Kinder, Söhne und Töchter, die ich in mein Herz aufgenommen habe. Von den drei Cremer-Kindern war mir Thomas am nächsten. Sabine, um einige Jahre älter als Thomas und auch ein Kind aus Christas erster Ehe mit Grzimek, war damals ein stilles, in sich ruhendes Mädchen mit den großen blauen Augen ihrer Mutter, eine verträumte Schönheit, von der man kaum glauben konnte, dass sie dem fast handwerklich schweren Beruf ihrer beiden Väter folgen könnte. Sie ist inzwischen eine bekannte Bildhauerin geworden.
Die Jüngste, Trini, war zunächst eine lebende kleine Puppe mit den riesigsten Augen, die ich je in einem Kindergesicht gesehen habe, überschattet von glänzenden braunen Ponyfransen. Sie ließ sich geduldig von einer Vielzahl freiwilliger »Kinderfrauen« durch die Siedlung karren. Aus der geduldigen Kinderpuppe wurde aber später ein leidenschaftlicher, aufsässiger und eigenwilliger Mensch. Auch sie malerisch talentiert, wurde wegen ihrer selbständigen Bühnenbild-Entwürfe an der Weißenseer Hochschule für Bildende Kunst aufgenommen. Aber nach einem Jahr verließ sie die Schule, enttäuscht und verzweifelt über die Lehrer und sich selbst. Auch Trini habe ich lange nicht gesehen, und jetzt, da ich dies alles erzähle, befällt mich die Sehnsucht nach diesen verlorenen Kindern, die ich mit Christa geteilt habe, wie Christa auch unseren vier Kindern eine Mutter war. Wo mögen sie sein, wie fühlen und denken sie heute?
Zur Kinderschar in unserer Siedlung gehörte auch die erste »Braut« unseres Sohnes Meiki: Josette, damals vielleicht vier Jahre alt, die Tochter des aus französischer Emigration zurückgekehrten Sozialisten und Pädagogen Ernst Wildangel und der Französin Simone, die ihr Töchterchen mit leidenschaftlicher und besorgter Liebe nach dem frühen Tod ihres Mannes allein aufzog. Josette war eine der lieblichsten Kindergestalten, die ich je gesehen habe, mit der zarten Haut und den langen Wimpern eines Kleinkindes. Simone, ihre Mutter, eine dunkeläugige, zierliche Frau, deren Charme durch den typisch französischen Akzent noch erhöht war, liebte ihr einziges Kind abgöttisch. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – war sie dem kleinen Persönchen gegenüber besonders streng, das zwar von sanfter Engelhaftigkeit zu sein schien, aber durchaus seinen eigenen Willen hatte.
Ich erinnere mich noch heute an mein Erschrecken, als Simone ihrem Töchterchen androhte, dass der Weihnachtsmann wohl nur eine Rute bringen würde, falls es seine Unartigkeiten nicht aufgäbe, und zu meiner schockierten Bewunderung blieb Simone konsequent, obgleich es ihr fast das Herz brach. An diesem Eigenwillen Josettes scheiterte schließlich auch die Brautwerbung unseres damals fünfjährigen Sohnes Meiki, dessen feste Absicht, Josette zu heiraten, nachdem sie lange Monate »Eltern und Kind« gespielt hatten, durch die sehr bestimmte Erklärung Josettes, sie könne ihn nicht heiraten, da er immer darauf bestünde, den Puppenwagen allein zu schieben, eine jähe Abfuhr erlitt. So musste ich auf die lieblichste aller Schwiegertöchter verzichten, die meine Söhne je in die engere Wahl gezogen haben.
Noch ein anderes Kind aus unserer Siedlung schloss ich für immer in mein Herz: eine der vier »besten Freundinnen«, die im Leben unserer Tochter Fufu eine Rolle spielten. Fufu bezeichnete sie in einem ihrer selbsterfundenen Geschichtchen, das sie mir im Alter von sieben Jahren als Weihnachtsgeschenk überreichte, als ihre »Glücksfreundin«, eine Bezeichnung, die sicher den Superlativ ihrer Zuneigung ausdrücken sollte. Sie hieß Christiane und war eines der vier Kinder in der Familie Hans Grotewohls, des Sohnes von Otto Grotewohl, dem ersten Ministerpräsidenten der DDR, dessen Händedruck als Sozialdemokrat mit dem Kommunisten Wilhelm Pieck das Wahrzeichen der Vereinigung der beiden großen Arbeiterparteien zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wurde. Die Grotewohls wohnten in der sogenannten »Straße 200« unserer Siedlung, einer kleinen, stillen Straße, die noch etwas von dem alten Wäldchen ahnen ließ, das hier einmal gestanden hatte. In ihrem Haus, das dem kleineren Bautyp zugehörte, herrschten stets fröhlicher Trubel und anheimelnde Unordnung.
Die Seele der Familie war Mädi Grotewohl, die Mutter der vier Kinder, temperamentvoll, warmherzig und stets voll Energie und Tatendurst. In wie vielen »Unternehmungen« waren wir nicht Bundesgenossen! Im Elternaktiv sowohl von Fufus als auch von Tommys Schulklasse, bei vielen Aktivitäten, die die Kinder in der Schule oder Pionierorganisation betrafen, bei der Rodung und gartenarchitektonischen Ausgestaltung eines kleinen Spielplatzes um die Ecke, schon außerhalb unserer Siedlung. Wie stolz waren wir, als wir SED-Mitglieder aus der Siedlung und der Umgebung begannen, diesen öden, verwahrlosten Platz urbar zu machen, und sich uns Nichtgenossen aus den Nachbarstraßen freiwillig anschlossen, so dass unter unseren Händen nicht nur ein reizender Kinderspielplatz und ein schönes Eckchen mit Bank für die Mütter oder alten Leute entstanden, sondern dass auch das Eis zwischen den Siedlungsbewohnern und der »Urbevölkerung« gebrochen schien. – Und welch eine herzzerbrechende Erinnerung ist von diesem Spielplatz am Ende geblieben! Eines Tages hieß es, dass er geräumt werden und dass die Kommunale Wohnungsverwaltung dort notwendige Gebäude errichten müsse. Kein Protest half, keine Vorhaltungen, was ein solcher Schritt an negativen politischen Folgen haben könnte. »Unser« Spielplatz verschwand und wich einer öden Baracke, umgeben von einem durch unordentlich gelagerte Bauteile verunzierten, betonierten Hof.
Ob es sich bei diesem Magistratsbeschluss um eine politische Provokation, Dummheit oder um unverzeihlichen Mangel an Sensibilität gehandelt hat? Wir »Schöpfer des kleinen Kinderparadieses« fühlten uns jedenfalls zutiefst frustriert. Wie oft mag sich die DDR solche Eigentore geschossen haben? Nein, das sind keine Kleinigkeiten, sondern tiefgehende politische Fehler, die den DDR-Slogan »Plane mit, arbeite mit, regiere mit« in den Augen der dem Neuen erst zaghaft ihr Vertrauen schenkenden Menschen lächerlich machten. So blieb der erneute Versuch, einen anderen unbebauten Eckplatz unserer Straße zu einem Kinderspielplatz zu gestalten, in allgemeiner Lustlosigkeit stecken. Jedes Mal, wenn ich an den Schaukeln und Klettergerüsten auf diesem kleinen, verwahrlosten Platz vorüberging, empfand ich Schmerz und Scham. Heute ist er eingezäunt und anscheinend verkauft. Die wenigen Kinder, die immerhin an den bunten Klettergerüsten gespielt haben, sind nun auch aus diesem Schuttparadies vertrieben.
Aber zurück zu Mädi Grotewohl, deren heiter-sprudelndes Wesen keine trüben Gedanken duldete. In ihrem Hause war nichts zu spüren von »Regierungsnähe« oder besonderer Bevorzugung. Die Grotewohls waren natürliche und herzliche Menschen. Hans und Mädi waren beide Architekten und haben eine Zeit lang in Nordkorea mitgeholfen, dort die Stadt Hamhung aufzubauen. Mädi hat übrigens auch den späteren Anbau unseres Hauses projektiert und geleitet. In ihrer fröhlichen Unbekümmertheit verrechnete sie sich um fünfzehn Zentimeter, so dass sie eine Treppenstufe quer durch unser Schlafzimmer legen musste, ein Umstand, der sie, und dann auch uns, mit Heiterkeit und alle Besucher stets mit zurückhaltendem Staunen erfüllte. Nach Jahren der Gewöhnung gelingt es einem, auf dem Weg zum Badezimmer auch nachts im Halbschlaf die Hürde ohne Stolpern zu nehmen. Als mein Bein wegen einer Fußfraktur in Gips lag, bot mir die ungewöhnliche Treppenschwelle Gelegenheit zu vorfristigen Rehabilitationsübungen, indem ich mich erst auf die Stufe setzte, dann drehte und schließlich das Bein auf die höhere Ebene schwang.
Auch im Bereich der Innenarchitektur waren Mädis krause Ideen unerschöpflich, und während sie in manchen Dingen den lieben Gott einen guten Mann sein ließ, setzte sie sich zum Beispiel mit unverdrossenem Eifer für bestimmte Arten von schwer erhältlichen Lampen ein, die ihr als Ideal vorschwebten. So hängen noch heute neben unseren Betten zwei Messingtüten an Schnüren von der Decke herunter, deren beschränkter Lichtkegel zwar die Nachttischchen beleuchten, nächtliches Lesen aber nur gestatten, wenn man sich halb aus dem Bett lehnt. Auch die Tischler, die unsere Einbaumöbel nach Mädis technischen Zeichnungen anfertigten, stöhnten über die Vorgaben, die Mädis prächtiges, großzügiges Wesen widerspiegelten, dem es auf ein paar Millimeter mehr oder weniger nicht ankam. Hans, ihr Mann, war eine gelungene Ergänzung zu Mädi. Ruhig, dickbäuchig, etwas phlegmatisch und voll freundlicher Toleranz sah er dem Trubel in seiner Familie wohlwollend zu und ließ Mädi gewähren.
Die Kinderschar bestand aus drei Mädchen, die im Alter unserer Kinder waren, und einem männlichen Nachkömmling, der für die eigenen Schwestern, soweit ich sehen konnte, keine echten Kontaktmöglichkeiten bot und oft zu Zänkereien Anlass gab. Claudia, die Älteste, war mit unserem Tommy gleichaltrig. Durch ihre ganze Kindheit hindurch war sie ein langaufgeschossenes fleißiges, eher stilles Mädchen. Dagegen war Christiane, Fufus »Glücksfreundin«, ein lustiger Quirl, deren Mund nie stillstand und die das Temperament ihrer Mutter geerbt hatte. Fufu und Christiane waren ein Herz und eine Seele, sie gingen gemeinsam in dieselbe Schulklasse und hatten einander stets so viel zu erzählen, dass sie für den Heimweg von der Schule die zehnfache Zeit brauchten, verglichen mit dem Hinweg am Morgen.
Trotz »Tante Gretes« Ermahnungen – sie war über Jahrzehnte fast das wichtigste Mitglied unserer Familie und ist in unser aller Herzen eine Zentralfigur geblieben –, nach der Schule pünktlich zu sein, konnte man in der Ferne die beiden Rückfallsünder, auf einem Mäuerchen hockend, beim endlosen Schwatzen beobachten. Wenn sie dann endlich aufschraken und nach Hause stürzten, dachten sie sich die fantasievollsten Schwindeleien aus, was alles sie abgehalten hätte: Nicht zu zählen waren die vielen Nachmittage, an denen die ganze Klasse nachsitzen, besondere Pflichten erfüllen und andere obskure Aktivitäten hatte erledigen müssen! Manchmal wählten sie auch den Umweg über Mädi, von der sie für Fufu eine Fürsprache bei Tante Grete erbettelten. Unsere scharfsichtige Tante Grete hatte die beiden Bummelanten aber längst erspäht und war im Übrigen nicht so leicht hinters Licht zu führen.
Christiane studierte später Architektur, heiratete einen Töpfer in einem kleinen Ostseebad, musste die Architektur aus Mangel an Berufsmöglichkeiten aufgeben und half ihrem Mann in der Töpferei. Sie hatten drei Kinder miteinander, von denen eines im Kleinkindalter auf tragische Weise starb. Ihr Mann begann zu trinken, und Christiane verliebte sich in einen jungen DDR-Maler, dessen Talent – ob zu Unrecht, weiß ich nicht, da ich nie eines seiner Werke gesehen habe – »von offizieller Seite« nicht geschätzt wurde und der schließlich auf einen Ausreiseantrag hin nach Westberlin zog. Christiane folgte ihm, was in den Augen ihrer Eltern für eine »Grotewohl-Enkelin« einen Skandal bedeutete und diese veranlasste, sich eine Zeit lang von ihrem eigenen Kind loszusagen. Beide Seiten waren todunglücklich über die Entfremdung. Mädi fing sich bald wieder – dazu war sie ein zu liebevoller und warmherziger Mensch, während Hans wohl etwas länger auf seiner sogenannten »prinzipiellen Haltung« beharrte, wie sie zu jener Zeit allen »Republikflüchtlingen« gegenüber erwartet wurde.
In welche schrecklichen Gewissenskonflikte geriet man in vielen Fällen, in denen Menschen aus echter Liebe zu einem Bürger des anderen Deutschlands die DDR verließen oder weil sie unter tatsächlicher oder vermeintlicher Chancenungleichheit bei uns litten. Wir Genossen wurden angehalten, »Republikflucht« zu verurteilen. Im Prinzip konnte ich dem zunächst auch zustimmen. Wir hatten es schließlich sehr schwer beim Aufbau einer – wie ich immer noch glaube – besseren Gesellschaftsordnung. Diese Menschen, die uns verlassen wollten, hatten wir ja großgezogen, ihnen Bildung und Kultur ermöglicht, Arbeit und Freizeit gegeben, Wohnungen gebaut, und wir glaubten, ihnen eine glückliche Zukunft geschaffen zu haben, ohne Arbeitslosigkeit, mit kostenlosem Zugang zu jeglicher gesundheitlicher Betreuung, ein Stückchen Welt ohne Angst vor Drogenmissbrauch und ständig steigender Kriminalität. Wir hatten zweifellos auch eine unschuldigere, herzlichere Art, miteinander umzugehen.
War das alles eine Illusion? Aber wenn ich das eben Geschriebene noch einmal lese, kommt mir die Redeweise »Wir hatten sie großgezogen …« vermessen, paternalistisch und überheblich vor. Sie hatten sich ja auch selbst aufgezogen, mit allen gemeinsam gelernt und gearbeitet. Woher nahmen wir das Recht, sie – wenn auch aus einem ursprünglich wohlgemeinten Gefühl heraus – als »unsere Menschen« zu bezeichnen. Durften sie nicht selbständig entscheiden, wenn sie so fühlten, alles im Stich zu lassen? Nein, dachten wir, sie hätten nicht das Recht, der Allgemeinheit zu schaden. Wir warfen ihnen Selbstsucht und Eigennutz vor und sahen nur die, die an das Geld und den Luxus dachten, wenn sie der DDR den Rücken kehrten, ihren Arbeitsplatz verließen und empfindliche Lücken in das Arbeits- und Produktionsgefüge rissen.