"Braun" und "Rot" – Akteur in zwei deutschen Welten
Der Jurist Dr. Walter Neye (1901–1989). Eine Fallstudie
Das facettenreiche Leben des Juristen Walter Neye ist ein eindrückliches Beispiel für personelle Kontinuitäten vom NS-Regime zum Unrechtsstaat der DDR. Neyes Leben führte von einer NSDAP-Mitgliedschaft und Tätigkeit als Rechtsanwalt, bei der er sich auch der nationalsozialistischen Rassenpolitik bediente, zu einer bemerkenswerten Wissenschaftskarriere in der DDR, die in der Berufung zum Rektor der Berliner Humboldt-Universität gipfelte.Ob "braun" vor 1945 oder "rot" nach 1945 – die Lebenswege vieler Menschen wurden nachhaltig durch die politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich instabilen Jahre der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Kaiserzeit, Weimarer Republik und Nationalsozialismus mit ihren völlig konträren Systemen führten zuweilen zu erstaunlichen biografischen Brüchen. Einige Menschen stellten sich zur "richtigen" Zeit und mit voller Überzeugung auf die Seite der politischen Machthaber und wurden so zu Nutznießern der politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Der Lebenslauf des Juristen Walter Neye ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel.
Forschungsstand und Forschungsinteresse
Während der Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit trotz einiger Forschungslücken als breit analysiert und erforscht gelten kann, ergibt sich für die Verarbeitung des NS-Faschismus und seiner Folgen in der DDR ein anderes Bild: Westliche Historiker hatten vor der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 keinen Zugang zu den Quellen der Nachkriegsgeschichte in den Archiven der DDR – ihre Forschungen beschränkten sich daher auf das Gebiet der Bundesrepublik. Für DDR-Historiker dagegen bestand bis zu den 1980er-Jahren offensichtlich – zumindest offiziell – kein Forschungsbedarf, da angenommen wurde, dass die Entnazifizierung auf dem Gebiet der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik erfolgreich verlaufen war. Der Prozess der Entnazifizierung erschien lange Zeit als vollständig gelungener Akt der Eliminierung des Faschismus. Doch das Ergebnis war nicht die Befreiung der ostdeutschen Bevölkerung von rassistischen und autoritären Überzeugungen, sondern die Konstituierung einer kleinbürgerlichen Gesellschaft, in der Angehörige der vormals faschistischen Eliten funktionaler Bestandteil der von Kommunisten dominierten Eliten wurden. Die Führung der SED stellte die ostdeutsche Bevölkerung an die Seite der siegreichen UdSSR. Diese Entwicklung hatte für das gesellschaftliche und individuelle Bewusstsein der Mehrheit der Ostdeutschen tiefgreifende Folgen.[1] So wurde die selbstkritische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen, insbesondere mit dem Holocaust und dem Verhalten der deutschen Bevölkerung, in der pluralistischen Gesellschaft der Bundesrepublik erheblich intensiver geführt als in der DDR, wo der Bevölkerung bis zum Ende des SED-Staates eine selbstkritische Reflektion weitgehend erspart blieb.Durch den Umbruch im Jahr 1989 stellten sich im wiedervereinigten Deutschland neue Fragen und ergaben sich neue Perspektiven zur gemeinsamen NS-Geschichte. Im Kontext der DDR-Geschichte wurden alte Selbstverständlichkeiten infrage gestellt. Insbesondere hat trotz gewichtiger Erkenntnisse zu einzelnen Berufsgruppen bis in die Gegenwart kaum eine wissenschaftlich fundierte Aufklärung über die "funktionalen und positionellen Eliten" in der gesamtdeutschen Geschichte stattgefunden. Weshalb die Geschichtswissenschaft diesen Teilbereich der Forschung nur sehr zögerlich aufgegriffen hat, lässt sich auch damit erklären, dass diejenigen Historiker, die den NS-Faschismus inhaltlich und organisatorisch unterstützt haben, mit den von ihnen ausgebildeten Historikern ein langewährendes "Schweigekartell" eingegangen sind.[2] Es blieb daher lange Zeit ein Desiderat der Forschung. Mitbedingt durch die Öffnung der ostdeutschen Archive, wird dieser Teil der deutschen Geschichte heute zunehmend geschichtswissenschaftlich aufgearbeitet.
Der beschriebene Forschungsstand begründet auch das Forschungsinteresse der vorliegenden Fallstudie. Sie versteht sich als ein Beitrag zur Gesamtheit der biografischen Studien über funktionale und positionelle Eliten in der gesamtdeutschen Geschichte. Personelle Kontinuitäten mit gravierenden biografischen Brüchen durchzogen alle gesellschaftlichen Bereiche der Bundesrepublik und der DDR: Dies galt gleichermaßen für die Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und die Wissenschaft.[3]