"Ungehindert abreagieren"
Hooliganismus in der späten DDR im Spannungsfeld von Anstandsnormen, Sozialdisziplinierung und gesellschaftlichen Randlagen
Ausschreitungen randalierender Fans waren seit den 1980er-Jahren in einem wachsenden Maße auch bei Sportveranstaltungen in der DDR zu beobachten. Eine Annäherung an den Hooliganismus in der DDR, die sowohl die Perspektive der Staatsmacht als auch die soziale Bedeutung dieses gesellschaftlichen Phämonens zu berücksichtigen versucht.Einleitung
Seit dem Ende der 1970er-Jahre ließ sich europaweit ein Phänomen feststellen: Bei Sportveranstaltungen, besonders im Fußball, mehrten sich Ausschreitungen randalierender "Fans". Ausgehend vom Westen des Kontinents, wie zunächst England[1] und später der alten Bundesrepublik,[2] schwappten gewaltsame Verhaltensweisen von Fußballfans bald zunehmend in die sozialistischen Staaten über, die auch hier zu illegitimen, teils staatsfeindlichen Gewaltritualen führten.[3] Auch wenn es bereits früher Krawalle bei Fußballspielen in der DDR gegeben hatte,[4] so ist eine Häufung ab Mitte der 1980er-Jahre virulent, wurden vermehrt Vorgänge des "feindlich-negativen Fußballanhangs" registriert. Kunde hiervon geben Quellen verschiedener Provenienz, unter anderem die in jener Zeit deutlich intensivierte Beschäftigung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit diesen Fangruppen.
Was heute als skurril-unwesentliche Fußnote der DDR-Geschichte erscheinen mag, ist jedoch nicht zuletzt als ein kaum zu unterschätzender zeitgenössischer Reflex deutsch-deutscher und europäischer Entwicklungen zu verstehen. Denn weit weniger als von der Staats- und Parteiführung gewünscht gelang es, die Menschen in der "geschlossenen" DDR-Gesellschaft von Einflüssen westlicher Jugendkultur abzuschirmen.[8] Ziel der dokumentierenden Behörden war es stets, "abweichendes Verhalten" von Jugendlichen zu erfassen und diese zu einer "allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit" umzuformen, notfalls durch Kriminalisierung gar gänzlich auszugrenzen.
Im Folgenden soll auf der Grundlage generalstaatsanwaltschaftlicher Unterlagen aus dem Bundesarchiv[9] ein Schlaglicht auf die Funktionalität des Hooliganismus in der späten DDR insbesondere aus der Perspektive der Staatsmacht geworfen werden. Das so gewonnene Bild versteht sich als komplementäre Ergänzung nicht nur zu den rezenten Bemühungen der (Sport-)Historiografie zur Erhellung der Thematik,[10] sondern auch zu den vorliegenden Selbstaussagen Beteiligter[11] und vermittelt dadurch weiterführende Einblicke in Perzeption, Argumentations- und Handlungspraktiken übergeordneter staatlicher Stellen in ihrer Konfrontation mit gesellschaftlichen Randerscheinungen.
Einen instruktiven übergreifenden Ansatz zur Interpretation von Hooliganismus liefert der Ethnologe Roland Girtler. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei Fußballanhängern ganz unabhängig vom Kulturkreis schlichtweg um Manifestationen einer "Unanständigkeit" handele, die "in einem massiven Gegensatz zu den allgemein akzeptierten Regeln einer Gesellschaft"[12] stünden. Demnach waren gewalttätige Fußballanhänger auch in der späten DDR – so die These der folgenden Ausführungen – ein weiterer antithetischer Gegenpart zu der eingeforderten "angemessenen" Lebensführung im Sinne des "Sozialismus", der sich in Erscheinungen wie bloßer Gewalttätigkeit, dem Skandieren antisemitisch-neonazistischer Parolen und sonstiger Provokation äußern konnte. Mit Thomas Lindenberger kann für die sozialhistorische Bedeutung einer solchen gesellschaftlichen Randlage ähnlich wie bei "Asozialen" für "die Legitimationspraxis der SED-Herrschaft" eine "unverzichtbare symbolische Bedeutung"[13] angenommen werden. Als Negativfolie fungierten auch Hooligans als Kontrast zur übrigen sozialistischen Gesellschaft, an ihr orientierten sich Fingerzeig- und Reparaturversuche des Systems, an ihr definierten sich Verhalten und Lebensweise des gemeinen Arbeiters und Angestellten im "real existierenden Sozialismus".