Dopingskandale in der alten Bundesrepublik
Öffentlicher Diskurs und sportpolitische Reaktionen
Diese Untersuchung der Rezeption von Dopingskandalen in der Bundesrepublik Deutschland geht von der Grundüberlegung aus, dass Skandale »Fenster zur sozialen Ordnung« darstellen und es erlauben, ethische Normen in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. Die Analyse der öffentlichen Rezeption von vier ausgewählten Dopingskandalen und der darauf folgenden sportpolitischen Reaktionen verdeutlicht, dass in den 1950er- und 60er-Jahren und teilweise bis in die 1980er-Jahre Doping nicht als allgemeines Problem des bundesdeutschen Sports wahrgenommen wird. Doping ist zu allen Untersuchungszeitpunkten zwar normativ negativ besetzt, die sportpolitischen Reaktionen darauf müssen aber als inadäquat charakterisiert werden und nahmen zunehmend scheinheilige Züge an.Einleitung
Ungeachtet prominenter Dopingkritiker in der Bundesrepublik wie Brigitte Berendonk, Werner Franke und Gerhard Treutlein hat erst die Auseinandersetzung mit dem "Staatsdoping" in der untergegangenen DDR intensivere Bemühungen inspiriert,
Der vorliegende Aufsatz widmet sich diesem zweiten Aspekt und begreift "Dopingskandale" im Anschluss an Kurt Imhof als "Fenster zur sozialen Ordnung"[2], anhand derer Normen und moralische Codes in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext analysiert werden können. Darüber hinaus stellen Dopingskandale für bestimmte Akteure Gelegenheitsfenster dar, ihre jeweiligen sportpolitischen Überzeugungen durchzusetzen. Sie geben damit auch Aufschluss darüber, wie ernst es den bundesdeutschen Sportpolitikern und -funktionären mit der Bekämpfung des Dopings tatsächlich gewesen ist.
Der vorliegende Beitrag untersucht daher einerseits den Mediendiskurs in der bundesdeutschen Tagespresse zu den Dopingskandalen, andererseits die sportpolitischen Reaktionen. Zunächst muss allerdings kurz der theoretische Stellenwert von Skandalforschung diskutiert werden.
Skandale als "Fenster zur sozialen Ordnung"
Der vorliegende Beitrag folgt Stefan Hauser[3], Skandale im Anschluss an Imhof als "Fenster zur sozialen Ordnung" zu begreifen, welche die Chance bieten, Normen und moralische Codes einer Zeit verdichtet zu analysieren. Um nicht vorschnell von Vorstellungen moralischer Kohäsion auszugehen, muss der theoretische Status einer solchen "Skandalforschung" genau reflektiert werden, da sich in der Debatte sowohl funktionalistische als auch instrumentelle Interpretationen finden.Die funktionalistische Deutung von Skandalen ist den klassischen Überlegungen Émile Durkheims[4] zur sozialen Devianz verpflichtet. Wie das Verbrechen ist demnach auch der Skandal ein "regulärer Faktor des sozialen Lebens", wonach die gesellschaftliche Sanktionierung abweichenden Verhaltens die Grenzen sozial tolerierbaren Verhaltens verdeutlicht und die Bereitschaft zur Konformität verstärkt. Analog wird die Funktion von Skandalen darin gesehen, auf gesellschaftliche Missstände und Normverstöße hinzuweisen[5] und soziale Wertvorstellungen zu bekräftigen bzw. einen moralischen Konsens herzustellen[6]. Ein Skandal definiert sich dabei ausdrücklich über das Vorliegen eines Verstoßes gegen zentrale Werte und Normen.[7] Diese definitorische Setzung ignoriert jedoch den diffusen und ambivalenten Charakter von sozialen Normen.
Darüber hinaus müssen Skandale nicht notwendig funktional sein, da sie wesentlich ein Medienprodukt darstellen, das nach journalistischen Verarbeitungs- und Selektionsroutinen erzeugt wird, um journalistische Erzeugnisse so ansprechend wie möglich zu gestalten.[8] Skandalisierung gehört somit zum Gestaltungsrepertoire von Massenmedien als einer Branche "involved with excess, with the voracious appetite and capacity for substitutions, displacements, repetitions and signifying absence"[9]. Die permanente Skandalisierung in der Politikberichterstattung kann überdies zu Politikverdrossenheit führen,[10] was eher gegen ein funktionales Skandalverständnis spricht.
Die "moral panic"-Forschung in der Tradition Stanley Cohens[11] vertritt daher eine instrumentelle Sicht auf öffentliche Skandale. Danach dienen Skandale und öffentliche Empörung (auch) der Durchsetzung gesellschaftlicher und politischer Forderungen bestimmter sozialer Gruppen, insbesondere von Machteliten und spezifischen Berufsgruppen. Die öffentliche Empörung muss daher nicht durch "objektive" Normverstöße ausgelöst werden oder im angemessenen Verhältnis zur Schwere begangener Normverstöße stehen.[12] Allerdings existieren auch bei diesem Ansatz einige grundlegende theoretische und empirische Probleme, die hier nur angedeutet werden können. So hat Cohen eingestanden, dass moralische Paniken nur dann initiiert werden können, wenn sie eine Resonanz mit grundlegenderen sozialen Ängsten herstellen können. Vor allem aber macht eine pluralistische und fragmentierte Medienlandschaft die Vorstellung einer konzertierten Sanktionierung von Normverstößen durch "die" Medien zunehmend problematisch.[13]
Für den vorliegenden Beitrag dient der Hinweis auf diese unterschiedlichen Interpretationen der gesellschaftlichen Rolle von Skandalen vorwiegend als Ermahnung, notwendige empirische Beobachtungen nicht vorschnell durch theoretische Annahmen zu substituieren. So gilt etwa im Hinblick auf das Definitionskriterium "Normverstoß" für das Vorliegen eines Skandals, dass "Doping" eben keine transhistorische Entität darstellt, sondern in Diskursen konstruiert worden ist. Dabei sahen sich Akteure erheblichen Ambiguitäten gegenüber und unterlagen die angewandten moralischen Maßstäbe bei der Unterscheidung zwischen erlaubten und verbotenen Methoden der Leistungssteigerung historischen Veränderungen.[14] Es wird nicht angenommen, dass ein Skandal notwendig eine klar akzentuierte soziale Norm voraussetzt. Ebenso stellt es eine empirische Frage dar, ob sich die öffentliche Empörung über Dopingskandale im Zeitverlauf in Richtung auf mehr oder weniger moralische Kohäsion bewegt. Hier wird lediglich von der Ausnahme ausgegangen, dass Dopingskandale Reflexions- und Artikulationsanlässe darstellen, die verschiedenen "moralischen Unternehmern" Gelegenheiten bieten, sich grundsätzlich zu Fragen der pharmakologischen Leistungssteigerung im Sport zu äußern und auf sportpolitische Reaktionen zu drängen.[15]
Dementsprechend fragt der vorliegende Beitrag einerseits nach der öffentlichen Reaktion auf Dopingskandale, also zunächst nach der Einschätzung der Brisanz und Verbreitung des Dopings im Mediendiskurs sowie den dort präsentierten ethischen Bewertungen und sportpolitischen Forderungen. Andererseits wird danach gefragt, ob und inwieweit sich der Mediendiskurs in sportpolitischen Reaktionen niedergeschlagen hat.
Methodisches Vorgehen
Im ersten Untersuchungsschritt wurden für jede Dekade der "alten Bundesrepublik" zentrale Dopingskandale mit einem deutschen Bezug ausgewählt. Dabei handelt es sich um folgende Fälle:- 1950er-Jahre: die Suspendierung des Sportmediziners Martin Brustmann im Jahr 1952,
- 1960er-Jahre: der Tod des Berufsboxers Jupp Elze im Jahr 1968,
- 1970er-Jahre: der Skandal um die sogenannte "Kolbe"-Spritze bei den Olympischen Spielen 1976,
- 1980er-Jahre: der Tod der Siebenkämpferin Birgit Dressel im Jahr 1987.
Auf der Basis verfügbarer Pressestatistiken wurden die meistverkauften zehn bundesdeutschen Tageszeitungen identifiziert. Diese erzielten im Durchschnitt eine Gesamtauflage von rund acht Millionen Exemplaren (siehe Anhang). Aufgrund unzureichender Archivierung oder Zugänglichkeit wurde die Analyse auf fünf Zeitungen beschränkt ("Bild", "WAZ", Kölner "Express"[16], "FAZ" und "SZ"). Für diese wurde eine Totalerhebung aller zum jeweiligen Skandal gehörenden Veröffentlichungen realisiert sowie der thematische Fokus und jene Textpassagen erfasst, die sich auf wahrgenommene Verbreitung und Brisanz, ethische Bewertung und sportpolitische Forderungen beziehen.
Ein Blick auf die Verteilung der Berichterstattung weist bereits auf deutliche Unterschiede in den einzelnen Skandalverläufen hin. Der Fall Brustmann als erster bundesdeutscher Skandal um Versuche einer pharmakologischen Leistungssteigerung im Sport fand relativ wenig Aufmerksamkeit (18 Veröffentlichungen) und verschwand bald aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit (113 Tage). Die Berichterstattung im Fall des toten Profiboxers Elze weist dagegen eine steile öffentliche Erregungskurve auf. Nach einer kurzen Phase der intensiven öffentlichen Betrachtung ist der Skandal abgearbeitet (141 Veröffentlichungen, 169 Tage). Die sogenannte "Kolbe-Spritze" erhält zunächst weniger Aufmerksamkeit, beschäftigt die Öffentlichkeit aber länger (46 Veröffentlichungen, 396 Tage). Hingegen zeigt die zeitliche Verteilung der Berichterstattung im Fall Dressel, dass dieser Skandal die nachhaltigste Wirkung entfacht hat (146 Veröffentlichungen, 491 Tage). Ein Vergleich der Berichterstattung der Tagespresse mit den Thematisierung der Skandale in den beiden Wochenpublikationen "Der Spiegel" und "Die Zeit" spiegelt dieses Bild (Brustmann: zwei Veröffentlichungen, Elze: vier, Kolbe: sechs, Dressel: 30).
Schließlich wurden die sportpolitischen Reaktionen auf der Basis von einschlägigen Archivquellen analysiert. Unveröffentlichte Quellen wie Korrespondenzen sowie Berichte und Protokolle von Sitzungen des Deutschen Bundestages und dessen Sportausschusses sowie des Deutschen Sportbundes (DSB), Nationalen Olympischen Komitees (NOK) und von Sportverbänden bringen interne Vorgänge zum Vorschein und besitzen daher für die historische Rekonstruktion der Abläufe einen hohen Wert. Die Unterlagen finden sich zum einen in den Archiven des deutschen Sports, wobei die Quellen aus dem Archiv des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) in Frankfurt am Main von besonderer Relevanz sind. Seit Mitte der 1960er-Jahre erfolgte in unterschiedlicher Intensität ein staatliches Engagement beim Antidoping. Dementsprechend fanden sich vor allem im Bundesarchiv weitere zentrale Unterlagen. Für den Fall Dressel waren die Quellen aus dem Nachlass des ehemaligen Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) und Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft August Kirsch im Carl und Liselott Diem-Archiv von besonderer Bedeutung.[17]