Der Honecker-Besuch in Bonn 1987
Die Analyse des einzigen Staatsbesuchs eines Staats- und Parteichefs aus der DDR in der Bundesrepublik zeigt im Rückblick eine Kreuzung zwischen Gegenwart und naher Zukunft: Medial wurde deutsche Zweistaatlichkeit zelebriert, während sich international bereits die Umrisse einer neuen Politik abzuzeichnen begannen, die eine Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichen sollte.I. Das Ereignis

Die Analyse des einzigen Staatsbesuchs eines SED-Generalsekretärs und DDR-Staatsratsvorsitzenden in der Bundesrepublik zeigt im Rückblick eine Kreuzung zwischen Gegenwart und naher Zukunft, medial wurde deutsche Zweistaatlichkeit zelebriert, während sich untergründig bereits die Umrisse einer neuen Konstellation der internationalen Politik abzuzeichnen begannen, die eine Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichen sollte.
II. Der Wunsch eines russischen Dichters
1986 störte der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko die Ruhe des SED-Generalsekretärs, er wünschte den Deutschen die Wiedervereinigung: "Ich denke, daß dieses große deutsche Volk, aus dem heraus so große Philosophie, Musik und Literatur entstanden ist, daß dieses in Zukunft wiedervereinigt werden muß. Aber es braucht Zeit. Es hängt von der Atmosphäre ab, von der globalen Atmosphäre."[1]Wenige Wochen später war der Wunsch Jewtuschenkos und die in West-Berlin vertretene These seines Kollegen Andrej Wosnessenski, "die Schriftsteller seien das Gewissen der Nation",[2] Gesprächsthema zwischen Erich Honecker und Michail Gorbatschow in Moskau. Für den SED-Generalsekretär waren die Positionen der beiden Schriftsteller einfach nur "konterrevolutionär". Er fürchtete die Folgen solcher Worte für die Stabilität der DDR, zumal in seinem Selbstverständnis nur die Kommunistische Partei das Gewissen der Nation sein konnte: "Wenn gesagt wird, die Schriftsteller der Sowjetunion sind jetzt das Gewissen der Nation, dann können die Abweichler in der DDR sich das sehr schnell zunutze machen. Das wäre dann in einer Spur mit der BRD-Propaganda. Die DDR hält das aus, aber Schaden richtet es in jedem Falle an."[3] Honecker verlangte von Gorbatschow, nur "standhafte" Schriftsteller und Künstler nach West-Berlin zu schicken und "nicht zuzulassen, daß in Westberlin Sowjetbürger gegen die DDR auftreten". Gorbatschow antwortete: "Das ist unsere gemeinsame Position."[4]
Schon 1986 versuchte Honecker in Moskau, die DDR vor den Folgen von Gorbatschows Reformpolitik abzuschirmen. Seine Beunruhigung durch die Worte russischer Dichter, die von einer deutschen Literatur sprachen und die Wiedervereinigung des deutschen Volkes wünschten, war begründet, wie sich 1989 zeigen sollte. Das Ende der SED-Diktatur begann mit der Durchsetzung der freien Rede in der DDR durch ihre Bürger.
III. Moskau: Wir werden Bonn nicht Honecker überlassen!
Wenige Tage vor seinem Gespräch mit Honecker hatte Gorbatschow selbst die Fragen der sowjetischen Deutschlandpolitik im Kreml aufgeworfen: "Die BRD ist an Beziehungen zu Osteuropa interessiert. Wir sind dafür. Doch wir sehen die Absichten. Honecker krümmt sich, wenn wir ihm 'die Mauer' ins Gedächtnis rufen. Besser müssen wir mit mehr Takt darüber sprechen – über die Prozesse, die unausweichlich sind. […] Selbst werden wir die Frage des Besuchs Honeckers in der BRD nicht auf[werfen]. Alle sozialistischen Länder sind verwundbar – wir können Sie alle verlieren. Die DDR ist stärker als die anderen, aber einer Vereinigung mit der BRD kann sie nicht widerstehen, d.h. auf Kosten des Sozialismus."[5] Nach dem Gespräch mit Honecker berichtete Gorbatschow im Politbüro über "Meinungsverschiedenheiten" mit dem SED-Generalsekretär im Bereich des "ideologischen Überbaus", dieser habe die Aufhebung der Verbannung Andrej Sacharows kritisiert. Der Leiter der ZK-Abteilung für die Verbindung mit den kommunistischen Parteien, Vadim Medwedjew, ergänzte: "In der SED hat man sich von der Losung 'Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!' losgesagt."[6]Ende Januar 1987 hatte Bundeskanzler Helmut Kohl zum zweiten Mal die Bundestagswahlen gewonnen. Wenige Tage später ließ Gorbatschow seinen Gedanken über Deutschland und die Zukunft der DDR – noch vor der Einladung des Bundeskanzlers an den SED-Generalsekretär – eine Direktive zur Deutschlandpolitik folgen: "An [den sowjetischen Botschafter in Bonn Julij] Kwizinskij – Besuch [des Bundespräsidenten Richard von] Weizsäckers in Moskau sicherstellen. Wirtschaftsbeziehungen entwickeln. Keine Eile, mit den Deutschen auf Regierungsebene überzugehen. 2. An Außenministerium und [den Leiter der Internationalen Abteilung des KPdSU-Zentralkomitees Andrej] Dobrynin – analytischen Bericht und Vorschläge zur BRD vorbereiten. 'BRD nicht Honecker überlassen!' Schewardnadse – in die BRD reisen. Material für mein Interview mit dem 'Spiegel' aktualisieren. […] Es ist Zeit, die BRD aktiver anzugehen, damit Margo [Margaret Thatcher] nicht vor Vergnügen platzt."[7]
Der Bundeskanzler griff in seiner Regierungserklärung im März Gorbatschows Wort "vom 'Neuen Denken' in den internationalen Beziehungen auf" und erklärte seine Bereitschaft "zur verstärkten Zusammenarbeit 'auf allen Ebenen' in den deutsch-sowjetischen Beziehungen, denen [er] eine 'zentrale Bedeutung' für die künftige Außenpolitik zumaß."[8]
SED-Politbüromitglied Günter Schabowski meint, dass Honecker seinen eigenen Rang "in der Hierarchie der kommunistischen Partei- und Staatsführer an seiner Rolle als BRD-Spezialist" bemaß;[9] dieses Auftreten mag Gorbatschow zu seiner Äußerung veranlasst haben. Nach einem Besuch in der DDR berichtet Außenminister Eduard Schewardnadse im Moskauer Politbüro, dass er in Ost-Berlin auf "ein Element wachsamer Zurückhaltung uns gegenüber" gestoßen sei und dass "die Idee einer geeinten deutschen Nation lebt[, sogar] in der Psychologie und im Denken der Kommunisten. Sie beginnen mit den Westdeutschen anzubändeln. Sie kritisieren die BRD nicht. Und es geht hier nicht nur um wirtschaftliche Interessiertheit. Die Idee eines geeinten Deutschland erfordert eine ernsthafte wissenschaftliche Untersuchung. Übrigens, in dieser Hinsicht sind auch die Polen beunruhigt."[10]
Moskau überließ Honecker in Bonn nicht den Vortritt.

Die Überlegungen über das neue Denken in der sowjetischen Deutschlandpolitik verband der Generalsekretär mit dem Rückgriff auf die Geschichte. Er erinnerte an Rapallo: 65 Jahre zuvor hatte Deutschland mit der jungen Sowjetunion am Genfer See einen Vertrag über Zusammenarbeit abgeschlossen. Gorbatschow behauptete, dass sich die Deutschen daran erinnerten und dass das Ereignis die Westmächte bis heute "quäle". Gorbatschow war sich dessen bewusst, dass eine Wiederholung von Rapallo nicht möglich sei, da man in einer anderen Zeit lebe. Trotzdem wählte er diese Analogie; sie besagte im Kontext der damaligen Diskussion: "Das ist die Realität, die Zusammenarbeit mit der BRD ist möglich."