Ein Name, zwei Wege:
Reclam Leipzig und Reclam Stuttgart
Hintergründe der Trennung der Verlagshäuser in den 1950er-Jahren
"Reclams Universalbibliothek". Hinter dieser bekannten Marke standen jahrelang zwei Verlagshäuser, die zwar den gleichen Namen trugen, aber weder miteinander gearbeitet noch miteinander kommuniziert haben: der Reclam Verlag in Leipzig und der Reclam Verlag in Stuttgart.Die "Universalbibliothek" des Reclam Verlags: ein Produkt, das wohl jedem vertraut und in Erinnerung geblieben ist. Ein deutschlandweit bekannter Produkt- und auch Verlagsname, hinter dem jedoch jahrelang zwei Verlagshäuser standen, die weder miteinander gearbeitet noch miteinander kommuniziert haben: der Reclam Verlag in Leipzig und der Reclam Verlag in Stuttgart. Die Trennung des Reclam Verlags, die letztlich dazu führte, dass beide Häuser unabhängig voneinander arbeiteten, sich entwickelten und dennoch jahrzehntelang denselben Namen trugen, vollzog sich in den 1950er-Jahren und stellt einen Bruch in der Firmengeschichte dar.
I

Schon früh war der Verlag ein Familienbetrieb, erst arbeiteten der Sohn, dann auch die Enkel im Unternehmen mit. Die dritte Generation führte den Verlag durch die Kriegsjahre und baute ihn nach der Zerstörung durch Bomben im Zweiten Weltkrieg wieder auf. Da Hans Emil Reclam, der Leiter der verlagseigenen Druckerei, 1943 starb, bemühte sich Ernst Reclam nach Kriegsende allein um eine Lizenzierung des Verlags in der sowjetischen Besatzungszone, die der Verlag am 25. März 1946 erhielt. Trotz zahlreicher Kriegsschäden wurde umgehend – wenngleich in relativ geringem Umfang – mit der Produktion von neuen Reclam-Bändchen begonnen, und auch Reparationsforderungen und Demontage konnten diese nicht aufhalten.[2]
Doch auch in anderen Besatzungszonen bemühte sich Ernst Reclam um eine Lizenzierung. Diese wurde ihm schließlich für Stuttgart gewährt, wo er am 1. April 1947 die Reclam Verlag GmbH Stuttgart gründete. An der Gründung waren der Leipziger Prokurist Gotthold Müller, der fortan die Geschäftsführung in Stuttgart übernahm, und Ernst Reclams Schwester Margarete beteiligt.[3]
Beide Häuser blieben eng mit der Familie verbunden. 1946 traten Ernst Reclams Sohn Heinrich und sein Neffe Rolf als Gesellschafter in die Leipziger Firma ein.[4] 1949 wurde Heinrich Reclam Mitglied der Geschäftsführung des Stuttgarter Hauses und verließ damit Leipzig. Später folgte ihm auch Rolf Reclam. Beide übernahmen leitende Aufgaben in Stuttgart: Heinrich war ab 1953 alleiniger Geschäftsführer des Verlags und Rolf schon ab 1950 Leiter des Druckereibetriebs.[5]
Der neugegründete Stuttgarter Reclam Verlag war keine direkte Zweigstelle des Leipziger Verlags, sondern auf Grund seiner eigenen Geschäftsleitung selbstständig. Um die Zusammenarbeit zu gewährleisten, schlossen beide Verlage 1947 einen Lizenzvertrag miteinander ab. Durch diesen erhielt der Stuttgarter Verlag die Lizenzen für die drei westlichen Besatzungszonen für sämtliche bestehenden und zukünftigen Werke des Leipziger Verlags – damit auch für das Erfolgsprodukt "Universalbibliothek". Im Gegenzug musste der Stuttgarter Verlag die Hälfte seiner durch die Lizenzen erzielten Gewinne an Leipzig abtreten. In dem Vertrag regelten beide Verlage zudem das Verfahren, sollte es zu einer Auflösung der Besatzungszonen kommen. In diesem Fall würden der Name Reclam und die Lizenzen an das Leipziger Stammhaus zurückgehen.[6]
II
Durch den gemeinsamen Inhaber Ernst Reclam und die familiären Beziehungen der Geschäftsleitungen zueinander arbeiteten die Verlage in den ersten Jahren nach der Stuttgarter Neugründung zunächst eng zusammen. So wurden etwa Absprachen bezüglich Autoren und Veröffentlichungen für die verschiedenen Zonen getroffen. Jedoch änderte sich dies in den folgenden Jahren.In der sowjetischen Besatzungszone wurde die Arbeit für Ernst Reclam immer schwieriger. 1948 wurde er zweimal verhaftet, wohl aber durch die Hilfe seiner Prokuristin Hildegard Böttcher wieder freigelassen. Die Gründe dieser Festnahmen sind nicht eindeutig bekannt. So warf der spätere Treuhänder

Die Verhaftungen setzten der Gesundheit von Ernst Reclam zu, weshalb er 1950 eine Kur antrat.[8] In seiner Abwesenheit übertrug er die Leitung des Verlags seinen Prokuristen Hildegard Böttcher und Karl Rühlig. Auch wenn Reclam während seines Kuraufenthalts nur bedingt über Firmendetails informiert werden wollte, so pflegten er und Böttcher doch eine private Korrespondenz, die auf das gute Verhältnis des Verlegers zu seiner Prokuristin hinweist. In den Briefen wird zudem ein persönliches Treffen in Berlin erwähnt, bei dem Ernst Reclam über den Zustand des Verlags informiert worden sei.[9]
Im August 1950 verlegte Ernst Reclam seine Kur von Schierke im Harz nach Bad Heilbrunn in Bayern. Als Grund hierfür gab der 74-Jährige an, dass er seine ebenfalls kranke Frau dort nicht allein lassen wollte.[10] Er verfasste daher ein Dokument, in welchem er erklärte, dass er seinen Prokuristen weiterhin die Leitung der Firma überlasse und ihnen Anweisungen schriftlich oder bei Treffen übermitteln werde.[11] Reclam versuchte auf diese Weise, seine Firma auch vom Westen aus zu leiten. Dies wurde jedoch nicht lange von den DDR-Behörden akzeptiert. Am 21. Dezember 1950 wurde der Verlag in Treuhandschaft überführt. Die Notwendigkeit hierfür wurde darin gesehen, dass sich alle Familienmitglieder, die als Gesellschafter der Firma eingetragen waren, im Westen befanden. Ihre Vertretungsvollmacht ruhte fortan. Ernst, Heinrich und Rolf Reclam konnten somit keinen Einfluss mehr auf den Leipziger Verlag nehmen. Als Treuhänder wurde Hermann Obluda eingesetzt.[12]
Die Rechtfertigung der Treuhandschaft geschah auf Basis der fehlenden ordnungsgemäßen Abmeldung Ernst Reclams. Da der Eigentümer des Verlags sich nicht mehr im Land aufhielt und alle anderen eingetragenen Familienmitglieder sich ebenfalls im Westen befanden, sei das Einsetzen eines Treuhänders notwendig geworden. Die von Reclam eingesetzten Vertreter wurden durch die DDR-Administration als nicht vertrauenswürdig eingeschätzt und daher abgesetzt.[13] Die Deutsche Investitionsbank erklärte ihr Vorgehen gegenüber Heinrich Reclam später wie folgt: "[W]enn Ihr Herr Vater Gelegenheit genommen hat, das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik ohne Beachtung der polizeilichen Meldevorschriften zu verlassen, so werden Sie ohne Zweifel einsehen müssen, daß dieser Weggang bestimmte Maßnahmen auslösen mußte."[14] Ernst Reclams Verlassen der DDR wurde demnach als illegal bewertet. Aus diesem Grund wurde sein Besitz als "Eigentum von Flüchtlingen und anderen Personen der DDR" behandelt. Nach diesem Vorgehen konnten Betriebe von Flüchtlingen unter Treuhandschaft gestellt werden. Als Flüchtlinge wurden Personen bezeichnet, "die nach dem 8.5.1945 das Gebiet der DDR oder Berlin (Ost) ohne behördliche Genehmigung verlassen haben."[15] Hierzu zählte auch Ernst Reclam. Da die eingesetzten Vertreter als nicht vertrauenswürdig eingeschätzt wurden, fehlte dem Leipziger Verlag die Leitung, weshalb ein Treuhänder durch den Rat der Stadt gestellt wurde.
Die Familie in Stuttgart sah im Unterschied zur DDR-Regierung den Weggang Ernst Reclams nicht als illegal an. Vielmehr bezeichnete man ihn als Notwendigkeit, da die Gesundheit des über 70-Jährigen angeschlagen gewesen sei und seine Verhaftungen diese nicht verbessert hätten. Die Familie argumentierte zudem, dass eine legitime Vertretung zurückgelassen worden sei. Es wurden nach Ansicht der Familie alle "verantwortlichen Stellen ordnungsgemäß und mit Persönlichkeiten besetzt, die das Vertrauen der maßgeblichen politischen Stellen in Leipzig hatten".[16]