"Das Gegenteil einer Nische"
Ent-Deckungen im Theaterbetrieb der DDR
Theater in der DDR wurden oft als "Nischen" betrachtet, in denen irgendwie freier gearbeitet werden konnte als an vielen anderen Orten in der DDR. Tatsächlich aber waren die ostdeutschen Theater keine Inseln, sondern Teil der DDR-Gesellschaft und krankten an denselben Deformationen und Beschränkungen.- Christiane Baumann: Hinter den Kulissen. Inoffizielle Theatergeschichten 1968 bis 1989, Schwerin: Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR 2011, 201 S., € 6,–, ISBN: 9783933255372.
- Ralf Stabel: IM "Tänzer". Der Tanz und die Staatssicherheit, Mainz: Schott 2008, 231 S., € 25,99, ISBN: 9783795701659.
- Laura Bradley: Cooperation and Conflict. GDR Theatre Censorship, 1961–1989, New York: Oxford University Press 2010, 312 S., € 80,99, ISBN: 9780199589630.
Hinter den Kulissen
Das Gesicht des Schauspielers Hartmut Schreier ist deutschlandweit bekannt, was nicht bedeutet, dass es sich um einen besonders herausragenden Künstler oder um einen Schauspiel-Superstar handelt. Doch durch seine bis 2010 über 18 Jahre andauernde Fernsehpräsenz als Kriminalkommissar "Manfred (Manne) Brand" in der ZDF-Vorabendserie "SOKO 5113" und als Nebendarsteller in zahlreichen erfolgreichen Serienformaten ist er dem deutschen Fernsehpublikum durchaus vertraut geworden, ist wöchentlich für eine knappe Stunde in das Wohnzimmer der Fernsehnation eingezogen, hat Platz genommen auf den heimischen Sofas.Bislang weniger bekannt als die Rolle des raubeinigen Manne Brand dürfte eine andere Figur sein, die der Schweriner Theaterschauspieler immerhin acht Jahre lang, von 1974 bis 1982, mit übergroßem Eifer gespielt hat: den IMV und Reisekader "Jürgen Schwarz", "der Schlimmste von allen", so berichtet es ein Kollege und "Freund" Schreiers, der mit seiner Verpflichtung an das Staatstheater auch sein Opfer wurde. Sehr lang vor Manne Brand zog der "Inoffizielle Mitarbeiter mit vertraulichen Beziehungen zur bearbeiteten Person" Jürgen Schwarz schon in das kleine Schweriner Wohnzimmer des jungen Regieassistenten Wilfried Linke ein, "was der dann gleich nutzte, um mit einer Polaroidkamera aus Stasi-Besitz das Zimmer des vermeintlichen Staatsfeindes abzulichten. Auch eine Skizze der bescheidenen Behausung lieferte IM 'Jürgen Schwarz', damit eine Durchsuchung effizient ablaufen konnte. Mit deutscher Gründlichkeit wurde alles zusammengetragen, was irgendwie von Belang erschien." (121)
Nun mag sich der in der Stasi-Aufarbeitung Kundige langweilen und höhnen, dass der erneute Nachweis dieser Praktiken und Einflussnahmen auf das Leben missliebiger Kunstschaffender durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) – spätestens seit Joachim Walther[1] – nun wirklich kein überraschender mehr ist. Doch was die Journalistin Christiane Baumann in ihrer neuesten Studie geleistet hat,[2] ist tatsächlich in der seit mittlerweile über 20 Jahre betriebenen Stasi-Forschung (noch) einzigartig: die zusammenhängende Aufarbeitung sämtlicher Aktivitäten der Staatssicherheit in einem ostdeutschen Sprechtheater. Und sie hat ein ganz besonderes Haus untersucht, ein Theater, das weit über die Grenzen der kleinen DDR hinaus auch international Beachtung gefunden hat, seitdem es 1974 von dem herausragenden, streitbaren Theatermacher Christoph Schroth übernommen wurde: das Schauspiel des Mecklenburgischen Staatstheaters zu Schwerin, dessen (kommissarischer) Generalintendant Schroth für kurze Zeit ebenfalls war (1984–1986).
Wenn die Autorin Baumann in aller Bescheidenheit darauf hinweist, dass ihre Beschreibungen "fragmentarisch" seien und keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit erhöben (10), so gibt sie doch umfängliche Erkenntnisse über die Stasi-Durchwirkung des als so besonders vermuteten Ortes Theater, in dem doch irgendwie freier gearbeitet und im Zusammenspiel mit einem sensibilisierten Publikum wohl subversive Wirkung erzielt werden konnte. Doch die dem Theater – auch und gerade in der Provinz – zugeschriebene Funktion der sogenannten "Nische" wird hier allein durch den Nachweis von 27 Inoffiziellen Mitarbeitern (von 100 Beschäftigten) in der Schauspielsparte widerlegt. Denn "auch das Mecklenburgische Staatstheater konnte keine Insel sein, sondern war Teil der Gesellschaft und krankte an genau denselben Deformationen und Beschränkungen. […] Dazu stand es zu sehr im Blickpunkt (und brauchte geradezu Öffentlichkeit – also das Gegenteil einer Nische)." (189) Von Schroths engster und wichtigster Mitarbeiterin, der Dramaturgin Bärbel Jaksch, bis zum Bühnenmeister, vom Schauspieler bis zur Kaderleiterin reicht das Tableau der Stasi-Berichterstatter, wobei nicht alle von der Autorin nun in den vielen Akten von Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), Bundesarchiv, Landeshauptarchiv, Stadtarchiv und Archiv des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, dem Vorlass von Christoph Schroth (im Archiv der Akademie der Künste) und anderswo Enttarnten überraschen. Der damalige Intendant des Staatstheaters Kassel Christoph Nix hatte schon im Jahr 2000 öffentlich die Vermutung geäußert, dass die Schweriner Dramaturginnen Rosemarie Schauer und Bärbel Jaksch als IM gearbeitet hätten: 1992 sei ihm von dem Schauspieler Jürgen Watzke berichtet worden, dass beide als "Überzeugungstäterinnen zahlreiche Dossiers über Kollegen angelegt" hätten.[3] Diese und viele ähnliche Vermutungen finden sich allerdings nun auch durch die umfangreichen Archivforschungen Christiane Baumanns belegt,[4] die für die zuverlässige Dokumentation und ansprechende Gestaltung des von der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern herausgegebenen Büchleins zahlreiche Originaldokumente aus den Akten sowie Theaterprogramme, Inszenierungsfotos und Zeitungsausschnitte ausgewählt hat.
Doch was die Studie neben den vielen einzelnen Ent-Deckungen besonders auszeichnet, ist das Konzept, die engen Verflechtungen zwischen Staatssicherheit, auch als Dienstleisterin der SED vor Ort und in Berlin, und Theatermachern zu verstehen: immer vor dem Hintergrund der künstlerisch anspruchsvollen und in Schwerin bei Christoph Schroth häufig politisch kontroversen Spiel-Arbeit. Denn immer, so die Autorin, "geht es um Menschen und ihre ganz eigene Biographie, um Absichten und Ängste, um Befangenheit und Verdrängung." (10) So gelingt Christiane Baumann ein faktenreicher Bericht über unrühmliche "inoffizielle Schweriner Theatergeschichten" und – wie nebenbei – auch eine im besten Sinne schöne Würdigung der Arbeit Christoph Schroths in Schwerin, die Manfred Zelts heitere "Theatergeschichten"[5] in seiner 1999 erschienenen 'Festschrift' auf das Haus grundlegend relativiert.