Verfolgt unter Hitler und Stalin
Erwin Jöris – Jahrhundertzeuge zweier Diktaturen
In der Biografie Erwin Jöris' (der am 5. Oktober 100 Jahre alt wird) spiegelt sich das Kollektivschicksal tausender deutscher Kommunisten, die sich aktiv in die politischen Kämpfe und sozialen Auseinandersetzungen ihrer Zeit einbrachten. Die Konsequenz hieß für sie allzu häufig Verfolgung, nach 1933 in Deutschland sowieso, aber auch in der Sowjetunion.
Auch Erwin Jöris blieb davon nicht verschont. Aber er hat überlebt. Und seine fatalen Erlebnisse und politischen Erfahrungen haben ihn zu einer Person der Zeitgeschichte werden lassen, gleichsam ungewollt, denn nie hat sich dieser redliche, aufrichtige Mann mit dem unüberhörbaren Berliner Idiom in den Vordergrund gedrängt. Allerdings wurde er ein gefragter Zeitzeuge, der sich nicht verweigerte, wenn es darum ging, Journalisten und Zeithistorikern Rede und Antwort zu stehen. Und er war begehrt wegen seines ungewöhnlichen Erlebens und wegen seines guten Gedächtnisses.
Spuren seines Schicksals finden sich in mehreren Büchern. Zu nennen ist neben Jöris' autobiografischer Schrift "Ein Leben als Verfolgter unter Hitler und Stalin" (erschienen im Selbstverlag 2004) zunächst eine Sammlung von Erlebnisberichten, Erinnerungen und Dokumenten zu Häftlingsschicksalen überwiegend in Workuta, der sowjetischen Zwangsarbeitsregion nördlich des Polarkreises, die der Historiker Jan Foitzik und der ehemalige Häftling und Generalarzt Horst Hennig ediert haben.[1] In ihr ist unter anderem eine sorgfältige Recherche zu Jöris enthalten. Ein noch immer nachlesenswertes Gespräch mit ihm, das Rüdiger Henkel, Verfasser mehrerer politischer Sachbücher, in seinem Band mit Porträts interessanter Zeitzeugen im Wortlaut wiedergegeben hat, gedieh zu einem zeitgeschichtlichen Dokument.[2] Zusammengestellt sind Jöris' Lebensdaten zudem in der von dem Berliner Historiker Wladislaw Hedeler gemeinsam mit Horst Hennig herausgegebenen Workuta-Dokumentation[3], in deren Mittelpunkt der Streik der Zwangsarbeiter Ende Juli/Anfang August 1953 steht und der mit einem Massaker unter den Gefangenen auf dem Appellplatz von Schacht 29 des Lagers Nr. 10 blutig beendet wurde. Und rechtzeitig zu seinem 100. Geburtstag erschien schließlich eine ausführliche Jöris-Biografie von Andreas Petersen.[4] Der promovierte Historiker, der eine Dozentur an der Fachhochschule Nordwestschweiz wahrnimmt, bezeichnet sein umfangreiches Werk mit gutem Grund als "biografische Erzählung". Gestützt auf Akten und Materialien aus deutschen und russischen Archiven sowie auf Interviews von insgesamt fünfzig Stunden, in denen sein Protagonist aus seinem Leben berichtet – "oral history" in beispielhafter Weise. Entstanden ist ein informativer Zeitzeugenreport, mit dem der Autor die doppelte Diktaturerfahrung eines Berliner Arbeiters und Ex-Kommunisten exemplarisch macht. Seine zuweilen allzu salopp und kolportagehaft gehaltenen Schilderungen der einzelnen Lebensabschnitte von Erwin Jöris werden ergänzt und bereichert durch Rückblenden auf die jeweiligen sozialen und politischen Entwicklungen seinerzeit in Deutschland und in der Sowjetunion, die er narrativ in den biografischen Kontext einordnet.
I
Geboren wurde der gelernte Möbelschreiner in Berlin, hier wuchs er im Arbeiterbezirk Lichtenberg auf, gemeinsam mit zwei Brüdern. Hier wurden ihm frühzeitig Not, Elend und Entbehrung in Arbeitermilieus vor Augen geführt. Alltagstristesse zumal während der Weltwirtschaftskrise in der Spätzeit der Weimarer Republik. Waldemar Jöris, der Vater, ein gebürtiger Berliner, war von Beruf Maschinenschlosser, fuhr lange Jahre zur See und arbeitete später im Elektrizitätswerk Berlin-Rummelsburg, ehe er in den Zwanzigerjahren eine bescheidene Kohlenhandlung in Lichtenberg übernahm. Die Mutter, eine energische Frau, stammte aus Ostpreußen. Politisch war der Vater bekennender Sozialdemokrat, wechselte zur USPD und danach zur KPD, aus der er jedoch noch vor 1933 austrat.Nach der Volksschule in Lichtenberg absolvierte Erwin Jöris seine vierjährige Lehre bis zur Gesellenprüfung in einem Holzverarbeitungsbetrieb. Mit 15, noch während der Lehrzeit, trat er dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands bei. Prägende politische Erlebnisse waren die zum Teil blutigen Auseinandersetzungen und Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten und der Schutzpolizei in den Arbeiterbezirken Wedding, Neukölln und Lichtenberg. Schockiert erlebte er den 1. Mai 1929. Allein an diesem Tag wurden in Berlin 31 erschossene Demonstranten gezählt.
Nachdem Erwin Jöris am 1. Juni 1930 zum Unterbezirksleiter des KJVD im Bezirk Lichtenberg berufen worden war, war sein Weg in die Kommunistische Partei Deutschlands vorgezeichnet. 1932 wurde er in die KPD aufgenommen. Nicht lange blieb er unkritisch, ein gläubiger Genosse. Erste politische Zweifel an der Partei stellten sich ein, als sich die Führung unter Ernst Thälmann auf Moskauer Geheiß für die Unterstützung des von Stahlhelm, Deutsch-Nationalen und NSDAP angestrengten Volksentscheids am 9. August 1931 zur Auflösung des Preußischen Landtags entschied mit dem Ziel, die sozialdemokratische Regierung unter Ministerpräsident Otto Braun und Innenminister Carl Severing zu stürzen. Kommunisten und Nationalsozialisten in politischer Aktionseinheit? Für Erwin Jöris, der sich unter Genossen offen davon distanzierte, ein unverzeihliches taktisches Manöver, das ihn umso mehr empörte, als er am Abend nach dem Volksentscheid die Ermordung zweier sozialdemokratischer Polizeihauptleute im Parteiauftrag auf dem Bülowplatz zur Kenntnis nehmen musste.
Trotz aller Skepsis verblieb er in der Partei, war politisch aktiv, organisierte Versammlungen, pflegte Kontakte zur Zentrale im Karl-Liebknecht-Haus, wo er dank seiner Funktion übrigens gelegentlich mit Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht zu tun bekam. Er hatte Zeit, denn er war 1931 erwerbslos geworden. 7,50 Mark "Stütze" für zwei Wochen. Da er ständig für die Partei unterwegs war, erlebte er bewusst den politischen Alltag in Berlin. Zum Beispiel blieb ihm bis heute unvergessen eine dramatische Versammlung am Abend des 22. Januar 1931 im Saalbau Friedrichshain, in der es zu einem Rededuell kam zwischen Joseph Goebbels, seinerzeit Gauleiter der NSDAP in Berlin, und Ulbricht, seinerzeit Leiter des Parteibezirks Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark. Die Versammlung endete in einer wüsten Saalschlacht, SA gegen Rotfrontkämpferbund.