Eckstein einer EU-Geschichtspolitik?
Das Museumsprojekt "Haus der Europäischen Geschichte" in Brüssel
III.
Im Frühjahr 2009 wurden ein 15-köpfiges Kuratorium unter dem Vorsitz Pötterings – mit dem genannten Wojciech Roszkowski aus Polen und dem kommunistischen Europaabgeordneten Francis Wurtz aus Frankreich als stellvertretenden Vorsitzenden – sowie ein aus 14 Mitgliedern bestehender Wissenschaftlicher Beirat unter Führung Włodzimierz Borodziejs berufen und die Eröffnung unter Bezug gleich auf mehrere Jubiläen – 25 Jahre 1989, 75 Jahre 1939 und 100 Jahre 1914 – auf Juli 2014 festgesetzt. Zugleich wurde ein Architektenwettbewerb für eine von der EU erworbene Brüsseler Immobilie, die in unmittelbarer Nähe zum Gebäudekomplex des EU-Parlaments gelegene ehemalige Eastman-Kinderzahnklinik im Léopold-Park, ausgeschrieben.[20] Anfang 2011 schließlich wurde die Kuratoren- und Teamleiterstelle mit der slowenischen Historikerin und vormaligen Direktorin des Stadtmuseums Ljubljana, Taja Vovk van Gaal, besetzt und ein Dutzend wissenschaftliche Mitarbeiter eingestellt.[21] Im Frühjahr 2011 kam es im Europäischen Parlament zu Diskussionen und vor allem in den britischen Medien zu kritischen Berichten über die Verdopplung der Kosten für den Ausbau des Museumsgebäudes sowie über die Höhe der laufenden Kosten.[22]Bald darauf führte die offensichtlich von oben angeordnete Modifizierung der chronologisch strukturierten Borodziej-Klinge-Konzeption von 2008 in Richtung einer thematischen Gliederung zu Unmut im Beirat. "Mir scheint, als ob die Bürokraten das Konzept beeinflusst und verändert haben", mutmaßte Beiratsmitglied Matti Klinge nach einer Sitzung des Gremiums am 22. Juni 2011.[23] Wie die Kuratorin Taja Vovk van Gaal in einem Vortrag im Juli 2011 ausführte, sollen gemäß dem neuen Entwurf noch zu bestimmende Themenfelder, welche die Spezifik der Geschichte Europas sowie seinen hohen Integrationsgrad belegen sollen, den Schwerpunkt der Dauerausstellung bilden. Diese, europatypische Ereignisse, Entwicklungen oder Prozesse abbildenden Themenfelder sollen dabei jeweils drei Kriterien erfüllen:
"1. A process, event or development should have originated in Europe; 2. It should have been spread over Europe at a certain time; 3. It should be still of relevance today."[24]
Und in einer Broschüre des Museums aus dem Jahr 2012 heißt es: "Das Besondere an der Institution Haus der Europäischen Geschichte liegt in dem Bestreben, die europäische Geschichte von einem globalen und transnationalen Gesichtspunkt aus zu betrachten und dabei der Vielfalt dieser Geschichte sowie deren unterschiedlichen Interpretationen und Wahrnehmungen Rechnung zu tragen. Die jüngere Geschichte soll einem breiten Publikum dadurch verständlich gemacht werden, dass sie in einem Zusammenhang mit den vorhergehenden Jahrhunderten gestellt wird, die für die Entwicklung von Ideen und Werten ausschlaggebend waren. Auf diese Weise will das Museum den Bürgerinnen und Bürgern Kenntnisse und Informationen an die Hand geben, um so die Debatte über Europa und die Europäische Union zu fördern."[25] – Zu diesem Zweck sollen den künftigen Besuchern maximal drei "take-home messages" mitgegeben werden, darunter diejenige, dass Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit sei.[26]
In gewisser Weise typisch für die nach Inhalt und Form wenig koordinierte Geschichtspolitik des EU-Parlaments ist der Umstand, dass mitten in der Konzipierungsphase des Hauses der Europäischen Geschichte im Oktober 2011 mit dem Parlamentarium ein Besucherzentrum im Hauptgebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel eröffnet wurde, dessen Dauerausstellung sowohl einen historischen Vorspann zum Zweiten Weltkrieg als auch einen Durchgang durch die Geschichte von EWG, EG und EU enthält: "Dynamische und interaktive multimediale Darstellungen begleiten unsere Besucher durch die Geschichte der europäischen Integration und zeigen, wie sie unser tägliches Leben beeinflusst."[27] Die hoch technologisierte Exhibition arbeitet dabei einerseits stark mit Audio-, Licht- und Farbeffekten, andererseits setzt sie auch auf Gefühligkeit. Zielgruppe sind unverkennbar die unter 25-Jährigen, wobei das Gros der Besucher aus Schulklassen besteht. Das Angebot im Souvenirshop des Parlamentarium ist teilweise von unfreiwilliger Komik: Hier finden sich ein Memory-Spiel mit dem vielsagenden Titel "REMEMBER Europe"[28] – als sei die EU bereits versunken – sowie, ebenfalls passend zur Euro- und Finanzkrise, preiswerte Familienpackungen von Einwegtaschentüchern mit aufgedruckten 50-, 100- und 200-Euro-Scheinen.[29] Warum sich das Europäische Parlament mit dem zentral lozierten Parlamentarium die mutmaßlich schärfste Konkurrenz zum einen Steinwurf entfernt liegenden künftigen Haus der Europäischen Geschichte selbst ins Haus geholt hat, erschließt sich nicht auf Anhieb. Dass hier parlamentsinterne Grabenkämpfe parteipolitischer Art eine Rolle spielten, kann nur vermutet werden.
IV.
Im Gegensatz zum unterfinanzierten Kommissionsprogramm "Aktive europäische Erinnerung" von 2007, zur Entschließung von 2009 zum "Gewissen Europas und zum Totalitarismus" und zur 2011 gegründeten monothematischen "Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas" wird das Museumsprojekt des EU-Parlamentspräsidiums die Nagelprobe der Konkretisierung, Visualisierung und Kontextualisierung der "EU interpretation of history" in Gestalt musealer Exponate, Bild-Text-Flachware, Audioguides, interaktiver Angebote, Flyer, Kataloge, Website, Veranstaltungsreihen, thematischer Führungen, Sonder- wie Wanderausstellungen und anderem mehr bestehen müssen. Entscheidend dafür, ob eine solche Dauerausstellung zur Europäischen Geschichte gelingt, ist das ihr zugrunde liegende Narrativ. Die Kuratorin hat diesbezüglich die Frage "Do Europeans need the House of European history?" ebenso affirmativ wie selbstreferentiell beantwortet: "Yes, there should be a House of European History, because 'Europe' as a multifaceted idea, that has grown out of a long past and can have a fascinating future, is a great theme to communicate to a broad audience through the means of a modern museum."[30]Das kann man, eine optimistische Weltsicht vorausgesetzt, so sehen, doch ersetzt dies keine Konzeption. Die Veröffentlichung einer solchen war zwar in überarbeiteter Form für den Sommer 2012 angekündigt, doch war der Beratungsbedarf des Beirates größer als vermutet.[31] Dem von der Kuratorin und ihrem Team erstellten unveröffentlichten Konzeptionsentwurf mit dem Titel "Building a House of European History" vom Juni 2012 ist zu entnehmen, dass die Dauerausstellung in sechs Themenbereiche, davon vier chronologische – 1850–1914, 1914–1945, 1945–1973 und 1973–2007 – gegliedert sein soll. Die Themen 1 und 6 sind jeweils übergreifend geplant:
"The first theme […] focuses on the complexity and variety of European history and the forces which have shaped this history and Europe's values. The theme explores how ideas, images, and concepts of Europe – which have developed in terms of geography, culture and politics – have changed over time and space. […] This theme illustrates how history and memory play a constituent role in human life, both on an individual and social basis. […] The first theme also examines notions of a common European heritage and its roots from philosophy, literature, language, lawmaking, statecraft, and religion, and looks at whether there are historical phenomena and traditions which have been important for most or all of Europe. […]
The sixth and final theme of the exhibitions reflects on how the commitment of various generations to the ideal of European unity has transformed the continent over the past half century. […] This theme poses the question as to what the different visions of the future held by today's Europeans are, especially in view of the economic crisis. It also explores the role to be Played by the nation state in the future, looks into how effective regions and municipalities can be in dealing at the same time with diversity and the demand for good governance and considers which issues are best dealt with at a European level."[32]
So auffallend die Ähnlichkeiten mit dem EU-Speak auch sind, so bemerkenswert ist doch die gleichsam selbstverständliche, "im Westen" indes keinesfalls unumstrittene Einbeziehung Russlands und der Sowjetunion in das Narrativ. Neben der Oktoberrevolution von 1917, dem Stalinschen Großen Terror und der Rolle der UdSSR im Kalten Krieg soll auch das Projekt der Schaffung eines "neuen sowjetischen Menschen" dargestellt werden.[33] Hier ist der Einfluss der parlamentarischen Lobbyisten um Sandra Kalniete deutlich erkennbar. Schwach sind hingegen die Bezüge zu anderen Kontinenten: Nur am Rand firmieren die Kolonien der europäischen Imperien sowie die USA[34] – der Rest der außereuropäischen Welt taucht in diesem Entwurf ungeachtet transnationaler und globaler Rhetorik nicht auf.
2012, zwei Jahre vor der terminierten Eröffnung des Hauses der Europäischen Geschichte, wird über dessen Konzeption also weiter diskutiert. Das ist einerseits gut so, denn das neue Museum steht unter großem Erwartungsdruck und muss Maßstäbe setzen. Dass die Debatte über Ausstellungsstruktur, museale Inhalte und politische Botschaften indes weiterhin hinter verschlossenen Brüsseler Türen stattfindet, steht in krassem Gegensatz zum EU-Mantra eines "Europas der Bürgerinnen und Bürger".