Experten für gesamtdeutsche Fragen
Der Königsteiner Kreis in den 1950/60er-Jahren
Der Königsteiner Kreis war in den 1950er/60er-Jahren eine einflussreiche Organisation, die die Politik bei Planungen zur Wiedervereinigung Deutschlands beriet, und eine Interessengruppe für DDR-Flüchtlinge. Insbesondere wegen der Erfahrungen, die seine Mitglieder in der SBZ/DDR gemacht hatten, galt der Kreis als Expertengremium für DDR-Fragen.Einleitung
Am 27. September 1951 verkündete Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) vor dem Deutschen Bundestag einen 14 Punkte umfassenden Gesetzentwurf für gesamtdeutsche Wahlen als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands. "Der Spiegel" berichtete, dass dieser Entwurf nicht Produkt von Adenauers Courage oder eigener staatsmännischer Überlegungen sei, auch nicht auf das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (BMG) unter Jakob Kaiser (CDU) zurückginge, sondern auf Ausarbeitungen des Königsteiner Kreises, eines Zusammenschlusses von "aus der Ostzone geflüchtete[n] Experten aus Verwaltung, Justiz und Wirtschaft". Das Magazin zitierte das geschäftsführende Vorstandsmitglied dieser Vereinigung, Helmut Külz, mit der Aussage, dass Konrad Adenauer als "typischer Rheinländer keinen klaren Blick für die besondere Situation der Ostzone" habe und die Königsteiner die "Praktiken, aber auch die Schwächen der SED drüben" gut kennen würden.[1]Was war dieser Königsteiner Kreis für eine Organisation, deren Mitglieder sich bei Versuchen zur Wiedervereinigung gegen den Bundeskanzler als Experten positionierten? Worauf gründeten diese Leute ihren Anspruch, Experten für gesamtdeutsche Fragen zu sein? Welche Bedeutung hatten dabei ihre Kenntnisse über die Situation in der DDR?
Dieser Aufsatz behandelt den Königsteiner Kreis, die Vereinigung der Juristen, Volkswirte und Beamten aus der Sowjetischen Besatzungszone e.V. (KK), eine in der Forschung bislang kaum beachtete politikberatende Organisation von SBZ/DDR-Flüchtlingen.[2] Dabei geht die Untersuchung von der These aus, dass dieser Verein seinem Selbstverständnis nach die Rolle eines politischen Akteurs, einer Interessengruppe und eines Vermittlers fachlichen Wissens in sich vereinen wollte und konnte, mit dem Argument, eine Expertenorganisation[3] zu sein. Diesen Status schrieb er sich durch verschiedene Wissensbestände zu; hauptsächlich durch die Erfahrungen seiner Mitglieder mit der SBZ.[4]
Die Untersuchung steuert drei Beiträge zur Forschung über die frühe Bundesrepublik bei. Erstens wird durch Blick auf den KK eine Forschungslücke über eine weitere Organisation im "kaum übersehbare[n] Vorfeld"[5] des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen (BMG) geschlossen. Darüber hinaus weitet die Analyse zweitens die Perspektiven der Forschungen über die Wiedervereinigungspolitik Adenauers. Dieses Forschungsgebiet konzentrierte sich bislang stark auf die zeitgenössischen Perzeptionen und nicht abgeschlossene historiographische Diskussion um die Bedeutung der Stalin-Noten von 1952 , statt sich mit dem Zustandekommen politischer Grundlagenarbeit, wie der Planung gesamtdeutscher Wahlen im Hintergrund großer staatstragender Aktionen, zu befassen. Drittens leistet die Untersuchung migrationshistorische Beiträge zu Flucht und Vertreibung. Der Blick auf den KK erweitert die bislang noch eher spärlich erforschte Eigensicht der DDR-Flüchtlinge auf die deutsche Teilung und ihre Eingliederung in die Bundesrepublik.[6] Zugleich wird die bei Untersuchungen zu sozialpolitischen Maßnahmen der Integration von Ostvertriebenen und Flüchtlingen häufig dominierende Sicht auf die Vertriebenen um die DDR-Flüchtlinge ergänzt.[7]
Im Folgenden wird der Königsteiner Verein in seinen Grundstrukturen und seiner Arbeitsweise skizziert. Anschließend wird er ins Feld gesamtdeutscher Fragen eingeordnet. Zuletzt werden anhand zweier Fallbeispiele die Tätigkeiten der Vereinigung analysiert. Leitende Fragen sind: Was unternahm die Vereinigung? Wie begründete sie ihr Wirken? Wie argumentierte sie für ihren Status als Experten?
Der Königsteiner Kreis
Der KK war ein im Dezember 1949 in Königstein im Taunus gegründeter überparteilicher Zusammenschluss von Politikern, Juristen, Beamten und Volkswirten, die aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der frühen DDR in die Westzonen bzw. in die Bundesrepublik geflohen waren. Der Verein bestand, bis seine Mitgliederversammlung 1997 die Auflösung beschloss. Die Initiatoren und
Wesentliche Organe waren die jährlich in Königstein (Taunus) tagende Mitgliederversammlung und der mit der Führung der laufenden Geschäfte und der Außenvertretung betraute, paritätisch nach Parteienproporz besetzte Vorstand.[12] Sitz der Geschäftstelle war Frankfurt am Main. Der Verein verstand sich im Einvernehmen mit dem Gesamtdeutschen Ministerium nicht als "Massenorganisation"[13], sondern als eine kleine sachverständige "Elite der Sowjetzonenflüchtlinge"[14], deren Mitglieder ausschließlich Flüchtlinge aus der DDR sein durften.[15] Entsprechend bewegte sich die Mitgliederstärke zwischen 895 (1954) und 610 (1965) Personen.[16]
Die Finanzierung erfolgte hauptsächlich über Mittel des BMG.[17] Unmittelbar nach der Gründung trat der Verein an das auf externe Hilfe angewiesene Ministerium heran. Die Mitglieder arbeiteten gezielt auf eine finanzielle Förderung hin, denn sie definierten den Verein als "wissenschaftliche[s] Gutachter-Kollegium", das durch Experten Rechtsfragen zur DDR behandle.[18] Neben dieser Wissenschaftlichkeit argumentierten sie mit ihrem politischen Initiativgeist verbunden mit der überparteilichen Ausrichtung, aber auch mit dem Anspruch über hinreichende Sach- und Ortskunde zur DDR zu verfügen.[19] Hier vermischten sich folglich politische Tätigkeit mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und auf Praxiswissen. Dieser Fundus verschiedener Wissensbestände war wesentlich für den Verein.