"Geschlossene Gesellschaft"
Eine Berliner Ausstellung bilanziert die Fotografiegeschichte der DDR
Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung hat die Berlinische Galerie eine erste umfassende Retrospektivausstellung zur Fotografie in der DDR erarbeitet. Dokumentarismus und die experimentelle Autorenfotografie aus den 1980er-Jahren bilden die wichtigsten Strömungen.In der kulturkritischen Diskussion und in der Ausstellungspraxis der Museen ist die Fotografie aus der DDR nach 1989/90 im Vergleich zu anderen Kunstdisziplinen wie Malerei oder Skulptur weitgehend stiefmütterlich behandelt worden. Umso mehr ist die Initiative der Berlinischen Galerie zu begrüßen, die mit einer Auswahl aus ihren umfangreichen Sammlungsbeständen – erweitert um einige Leihgaben – der künstlerischen Fotografie in der DDR eine große Retrospektive mit dem Titel "Geschlossene Gesellschaft" ausgerichtet hat. Kuratiert wird diese Ausstellung, die noch bis zum 28. Januar 2013 zu sehen ist, von Ulrich Domröse, T. O. Immisch, Gabriele Muschter und Uwe Warnke. 34 Fotografinnen und Fotografen werden mit insgesamt etwa 240 Arbeiten, überwiegend Bildserien, in einem attraktiv inszenierten Ambiente präsentiert – eine Sichtung, die erstmals nach der erinnerungswürdigen Pariser Ausstellung vom Januar 1990 in der Grande Halle von La Villette einen weit gespannten Einblick in die künstlerische Fotografie aus der DDR bietet.
Die Bildauswahl gliedert sich in drei Segmente. Das erste Kapitel, das zugleich das umfangreichste ist, stellt die auf das Alltagsleben in der DDR bezogene dokumentarische Fotografie vor, während die beiden anderen die Gewinnung erweiterter künstlerischer Ausdrucksformen sowie die Konzentration der Autorenfotografie auf subjektive Erfahrungs- und Reflexionshorizonte in den 1980er-Jahren thematisieren. Diskussionswürdig sind die verschiedenen Strömungen, die in den ausgestellten Bildern und im Diskurs des Katalogbuches dem Spektrum künstlerischer Fotografie in der DDR zugeordnet werden.
Als ausschließlich im Eigenauftrag entstandener schöpferischer Prozess und autonomes Medium konnte die ostdeutsche Lichtbildkunst – von wenigen Ausnahmen wie Arno Fischer und Evelyn Richter abgesehen – erst seit Anfang der 1980er-Jahre Anerkennung erringen. Zuvor war sie drei Jahrzehnte lang vom Journalismus dominiert und weitgehend von der ideologischen Propaganda für die Tagespolitik der SED vereinnahmt worden. Diese Instrumentalisierung hatte zur Folge, dass die gesamte Pressefotografie der DDR, wie Bernd Lindner es in seinem Katalogbeitrag "Widersprüchliche Bildwelten" formuliert, anhaltende Geringschätzung erfuhr.[1] Als sich in den 1980er-Jahren eine von Hochschulabsolventen betriebene autonome Autorenfotografie mit einem erheblich erweiterten Themenfeld herausbilden konnte, wurde dem journalistischen Foto fortan ein künstlerischer Anspruch verwehrt, auch wenn es nicht als Auftragsarbeit entstand.
Dominanz von Komposition, Stil und Ästhetik
In den Exponaten der Berliner Schau treten die Faszination des Augenblicks und das erzählerische Moment der Bilder zurück hinter die Dominanz von Komposition, Stil und Ästhetik. Sozialdokumentarische Aspekte, um die es in der Sektion "Realität, Engagement, Kritik" geht, verschlüsseln sich in stilllebenhaften Situationen und durchstrukturierten Ansichten deprimierender Stadtszenarien. Dagegen ist die Momentaufnahme aus dem Straßenalltag, die – wie Henri Cartier-Bresson es so treffend bezeichnet – den "entscheidenden Augenblick" einfängt, in der Ausstellung kaum berücksichtigt worden. Dieses Auswahlprinzip hat zur Folge, dass eine Live-Fotografie nach dem Vorbild von "Magnum" weitgehend ausgespart bleibt, obwohl es schon in den 1950er- und 70er-Jahren Initiativen von Berufsfotografen und Bildreportern gab, die sich von der propagandistisch gelenkten Fotografie entfernten, um einen "neuen Bildstil" jenseits "ausgefahrener Bahnen" zu erproben. So schlossen sich 1956 einige Fotografinnen und Fotografen, die zumeist Absolventen der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst waren, zur

Ulrich Domröse, der die Sektion "Realität, Engagement, Kritik" kuratorisch verantwortet, rekapituliert mit Ursula Arnold, Arno Fischer, Evelyn Richter, Roger Melis und Sibylle Bergemann die bekannten Altmeister der dokumentarischen Fotografie und deren kanonisierte Bilder, in denen das Neue Sehen der Vorkriegsmoderne und der Rekurs auf die internationale Ausstellung der 1950er-Jahre "The Family of Man" noch nachhallt. Man hätte sich gewünscht, dass aus dem heute verfügbaren Archivfundus dieser Protagonisten der älteren Fotografengeneration die eine oder andere Trouvaille neu entdeckt worden wäre, die zu DDR-Zeiten nur in der privaten Schublade aufbewahrt werden konnte. Stattdessen bietet die Ausstellung dem Genre des Künstlerbildnisses breiten Raum. Bei aller Brillanz der Personeninszenierung spricht aus diesem beliebten Bildtypus in der ostdeutschen Fotografie nicht zuletzt auch der privilegierte Status, den das Intellektuellen- und Künstlermilieu innerhalb der Gesellschaft des "Arbeiter-und-Bauernstaates" genoss.
Bei der Autorenfotografie aus den 1980er-Jahren verstärken sich der subjektive Motivblick, die betont freie Handhabe technischer Mittel, ebenso die Experimentierfreude und die Fokussierung auf Themen, die sich aus der seriellen Struktur heraus in ihrer hintergründigen Aussage präzisieren. Während sich in den Architekturfotos von


Eine besondere Schärfe im doppelten Sinn besitzen die Farbaufnahmen, die Jens Rötzsch zwischen 1987 und 1989 von den staatlich inszenierten Großveranstaltungen vor der Auflösung der DDR abgelichtet hat.

Ablehnung einer konventionellen Bildsprache
In den 1980er-Jahren intensiviert sich nicht nur die Tendenz zum bildnerischen Experiment mit abstrakten und collagehaften Bildmitteln sowie die Vernetzung mit anderen künstlerischen Medien, die jungen Autorenfotografen entfernen sich auch von ihren älteren Lehrern, die in ihrer Grundauffassung fast alle am Streben nach Lesbarkeit des realistischen Abbildes festhielten. "Im Widerstreben gegen offizielle Forderungen und Erwartungen" verweigern sich die jungen Fotokünstler, wie Gabriele Muschter in ihrem Katalogbeitrag ausführt, den politischen und gesellschaftlichen Reglementierungen, um stattdessen das Lichtbild als Ausdrucksmittel ihrer kritischen Reflexion und introvertierten Selbstwahrnehmung anzusehen. Indem ihre Bilder die Grenzlinie "zwischen Realität und Fiktion" verwischen, sind sie rigoros in der Ablehnung einer konventionellen Bildsprache.[4]Hier erzielt die Ausstellung "Geschlossene Gesellschaft" ihr bemerkenswertes Profil, denn sie beleuchtet die vielschichtigen Ausprägungen einer fotografischen Bildfindung, die sich von den autoritären Realismus-Regeln gelöst hat. Befreit von den Schranken des Dokumentarischen, erobern sich die jungen Autorenfotografen mit den Mitteln der surrealen Montage, der Überblendung und der Inszenierung eine eigenständige Bildsprache, in der sich subjektive Befindlichkeit und schweifende Imagination ebenso artikulieren können wie Ironie und Medienkritik. In ihren fotografisch vollzogenen Annäherungsprozessen an den eigenen Körper verstehen sich Thomas Florschuetz, Klaus Elle oder Klaus Hähner-Springmühl als Aktionskünstler, die das Medium Fotografie in eine sich in den 1980er-Jahren rasch erweiternde experimentelle Kunstszene einbinden.
Florian Merkel vollzieht in seinen Selbstinszenierungen auf handkolorierten Fotografien mit den Mitteln der plakativen Überzeichnung eine ironische Kulissentheatralik und konstruiert zugleich aus Fotografie und Malerei einen hybriden Bildtypus, der sich mit seiner Künstlichkeit bestens für die Parodie von Propagandamanipulationen eignet. Für Lutz Dammbeck ist die Fotografie gleichermaßen dokumentarisches Material und Ausdrucksmedium, das er in seinen geschichtskritischen Arbeiten mit Film, Musik und Performance interferiert. Während die Fotografie in solchen künstlerischen Konzeptionen ihren herkömmlichen Nutzungsrahmen sprengt, behält sie in der Installation von Jörg Knöfel "Schlachthaus Berlin" (1986–1988), die schon 1990 in Paris besonders beeindruckt hatte, ihre dokumentarische Funktion, wird aber durch das labyrinthische Raumarrangement, das die fotografische Thematik, die grausame Tiertötung der Schlachthöfe ins Bild setzt, mit einer gesteigerten Konfrontationskraft aufgeladen.
Das Milieu der experimentellen Kunstszene, "zu dem neben Künstlern, Dichtern, Schriftstellern, Schauspielern, Super-8-Filmern, Bohemiens und Aussteigern aller Art auch Fotografen gehörten"[5], war untereinander vor allem in den Großstädten Ost-Berlin, Leipzig und Dresden eng vernetzt. Da der Informationsaustausch von der Stasi überwacht wurde, umging man die Zensur ab 1982 mit sublegalen, handangefertigten Vervielfältigungsprojekten, die in kleinen Auflagen erschienen und in die auch Fotoabzüge eingebunden wurden. Uwe Warnke zeichnet in seinem Katalogbeitrag die Methoden nach, wie sich auf alternativem Weg die nichtdokumentarische Fotografie aus der späten DDR in die Szene-Zeitschriften und Künstlerbücher integrieren konnte.
In einer Grauzone zwischen offizieller und subkultureller Kunst angesiedelt, wurde die experimentelle Fotografie in den ausgehenden 1980er-Jahren anders als die zunehmend beachtete sozialdokumentarische Fotografie von namhaften Protagonisten jenseits der DDR-Grenze nur partiell wahrgenommen und anfangs auch in ihren Intentionen nur unzureichend verstanden.[6] Es ist daher eine verdienstvolle Leistung der Retrospektivausstellung in der Berlinischen Galerie, dass sie in ihren Exponaten die Fotografie aus der DDR – auch mit ihren Grenzgängen auf dem Territorium der experimentellen Aktionskunst – thematisiert.
Das Katalogbuch, das alle Textbeiträge auch in englischer Übersetzung enthält, beschränkt sich nicht auf die Kommentierung der einzelnen Exponate. Fotografiehistoriker unterschiedlicher Generationen beleuchten ebenso die politischen und ökonomischen Hintergründe, unter denen die fotografische Praxis und ihre Rezeption in der DDR erfolgte. Darüber hinaus liefert ein ausführlicher Anhang biografisch-bibliografische Informationen zu den Fotografinnen und Fotografen der Ausstellung sowie zum kulturpolitischen Geschehen in der vierzigjährigen DDR-Geschichte.
Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR 1949–1989: Berlinische Galerie – Museum für moderne Kunst, Alte Jakobstr. 124–128, 10969 Berlin, bis 28. Januar 2013, Mittwoch–Montag 10–18 Uhr; Eintritt: 8,– € (erm. 5,– €; bis 18 Jahre frei), der Katalog ist erschienen im Verlag Kerber, Bielefeld, 352 S., € 38,90 (im Buchhandel € 59,90).
Zum umfangreichen Begleitprogramm zur Ausstellung siehe http://www.berlinischegalerie.de/ausstellungen-berlin/vorschau/kuenstlerische-fotografie-in-der-ddr-1949-1989/ausstellungen-im-kontext.html [10.10.2012].