Kulturelite im Blick der Stasi
Die Nachwehen der Biermann-Ausbürgerung im Spiegel der ZAIG-Berichte des Jahres 1977
Zahlreiche Künstler und Intellektuelle in der DDR protestierten gegen die Biermann-Ausbürgerung im November 1976. Sie gerieten unter den Druck des SED-Regimes, und viele von ihnen verließen die DDR. Die Stasi beobachtete die Unterzeichner der Protesterklärung in dieser Zeit intensiv – auch nach ihrer Ausreise in die Bundesrepublik.Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte hat viele Facetten. Eine davon ist es, Unterlagen, die für das Verständnis von Funktionsweise und Wirkung der SED-Diktatur und ihres wichtigsten Herrschaftsinstruments, des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), von Bedeutung sind, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Bei der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) erfolgt dies durch die Erschließung von Akten, ihre Herausgabe an Betroffene, Wissenschaftler und Journalisten, die Publikation von Forschungsergebnissen – und nicht zuletzt die wissenschaftliche Edition von Quellen, die für die Geschichte des MfS und der DDR zentral sind: Seit 2009 gibt die Forschungsabteilung des BStU die Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS heraus, die von Mitte 1953 bis Ende 1989 unmittelbar an die Partei- und Staatsführung geliefert wurden. Diese befassen sich mit den unterschiedlichsten Themen und vermitteln auf diese Weise einen Eindruck von dem besonderen "Blick der Stasi" auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR.[1]

Die Berichte der ZAIG zu den Folgen dieser Ereignisse gehören – neben den bereits vor längerer Zeit publizierten Dokumenten zu den Auseinandersetzungen im Schriftstellerverband[4], auf die noch einzugehen sein wird – zu den aufschlussreichsten Dokumenten zu dieser Affäre. Zugleich verdeutlichen sie die außerordentlich hohe Bedeutung, die auch das MfS diesem Thema beimaß. In einem Jahr, in dem die wirtschaftlichen Probleme der DDR sich zuspitzten und in dem das MfS erheblichen Unmut in der Bevölkerung über die angespannte Versorgungslage registrierte,[5] befasste sich jeder zehnte der für die Partei- und Staatsführung verfassten Inlandsberichte der ZAIG unmittelbar mit den Folgen der Biermann-Ausbürgerung und den Ausreisebestrebungen der Petitionisten; nimmt man die übrigen Berichte hinzu, die sich mit Schriftstellern und Künstlern im Allgemeinen beschäftigen, war es sogar jeder fünfte.[6]
Manfred Krug und Armin Mueller-Stahl
Besonders intensiv befasste sich das MfS zum einen mit denjenigen Unterzeichnern der Protesterklärung, die in der Bevölkerung bekannt und beliebt waren, zum anderen mit Intellektuellen, die auch in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland ein hohes Ansehen genossen. Zur ersten Kategorie gehörten zweifellos die miteinander befreundeten Schauspieler
Allein mit Manfred Krug befassen sich sieben Informationen: Anfang 1977 absolvierte Krug eine Konzerttournee durch die DDR. Die Termine waren bereits im Sommer des Vorjahres vereinbart, doch von den ursprünglich vorgesehenen 15 Konzerten nach dem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung neun ersatzlos gestrichen worden.[8] Zudem waren bei einigen Auftritten die Karten kontingentweise an Betriebskollektive oder Gruppen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) vergeben und die vorderen Reihen mit Staats- und Parteifunktionären besetzt worden, die sich demonstrativ jeglichen Beifalls enthielten. Akribisch notierte die ZAIG die Bemerkungen Krugs, mit denen er auf dieses Publikum anspielte.[9] So äußerte dieser unter anderem, bei seinen Konzerten seien "Menschen anwesend, die sich überhaupt nicht für seine Musik interessieren, sondern aus beruflichen oder dienstlichen Gründen anwesend sein müssten", und forderte das Publikum auf, "trotz geschenkter Karten" Beifall zu klatschen. Zwei bei einem Konzert in der ersten Reihe sitzende Funktionäre sprach er direkt an: "Es muss doch direkt anstrengend sein, den ganzen Abend so dazusitzen mit einer langen Fresse und nicht eine Hand zu rühren. Das muss doch direkt wehtun. Sie dürfen das nicht so auffällig machen, das ärgert uns doch hier oben bloß." Zugleich ist dem Bericht zu entnehmen, dass Krug in dieser Zeit, in der er die Folgen seiner Unterschrift unter die Protesterklärung zu spüren bekam, sich aber noch nicht zur Ausreise aus der DDR entschlossen hatte, offenbar um Deeskalation bemüht war: So heißt es etwa, Krug sei vor und nach den Konzerten "zurückhaltend" aufgetreten und bestrebt gewesen, "öffentlichkeitswirksame und offene provokatorische Äußerungen und Handlungen zu vermeiden." Während einer polizeilichen Vernehmung nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung in einem Hotel – der Künstler hatte den Ehemann der Hotelleiterin wegen dessen Anspielung auf angebliche "Schweizer Konten" Krugs ins Gesicht geschlagen – habe er sich "sachlich und korrekt" verhalten und zugegeben, nicht richtig reagiert zu haben.
Wenige Monate nach dem Ende der Tournee, am 19. April 1977, stellte Manfred Krug einen Antrag auf Ausreise aus der DDR.[10] Er begründete dies mit den Repressalien, denen er sich wegen der Weigerung, seine Unterschrift unter die Petition zurückzuziehen, ausgesetzt sah: Geplante Filmprojekte wurden auf Eis gelegt, eine vorbereitete Schallplatte sollte nicht veröffentlicht werden, Angebote für Filme und Konzerte blieben aus. Auch brachte er seine Verbitterung über die erwähnten Vorgänge bei seiner Tournee zum Ausdruck: Es habe bei einigen Terminen "Gruppen von Zuhörern" gegeben, "die während des ganzen Konzerts finstere Minen vorführten und keine Hand rührten, eine Art von verabredeter Feindseligkeit, die einem Bühnenkünstler die Arbeit unmöglich macht, die ihn kaputtmacht". Zudem beklagte Krug eine zunehmende gesellschaftliche Isolierung: Erste Bekannte verzichteten auf Besuche, bei der Auszahlung der "Jahresendprämie" hätten nur noch wenige Kollegen gewagt, ihm die Hand zu geben, und manche Eltern verböten ihren Kindern, mit seinen Kindern zu spielen.
Für die ZAIG war der Ausreiseantrag Anlass für einen 19-seitigen Bericht über den Schauspieler.[11] Die Information ist typisch für viele Berichte über ausreisewillige oder bereits ausgereiste Künstler, zahlreiche wiederkehrende Topoi sind hier zu finden. Da ist zunächst die Diskreditierung der Persönlichkeit zu nennen, die schon bei der Herkunft beginnt: Krugs Familie wird als "bürgerlich" beschrieben, es wird darauf hingewiesen, dass sein Vater "Mitglied der Nazipartei" gewesen sei. Die Erwähnung der "bürgerlichen" Herkunft – Krugs Vater war Ingenieur – hatte besondere Brisanz, da Krug selbst ursprünglich Stahlarbeiter war und sein Lebensweg geradezu als Musterbeispiel für die Möglichkeit galt, in der DDR auch als "Proletarier" eine künstlerische Karriere zu verfolgen. Darüber hinaus werden Krugs schon früh sichtbare "Undiszipliniertheit", seine angebliche Geltungssucht und seine "Überheblichkeit im Auftreten gegenüber gesellschaftlichen und staatlichen Stellen" betont. Hinzu kommt der Vorwurf der Doppelzüngigkeit: Er habe sich "nach außen den Anschein eines loyalen Bürgers" gegeben, während er im "internen Kreis […] wiederholt seine ablehnende Haltung zur Kulturpolitik von Partei und Regierung zum Ausdruck" gebracht habe. Vor allem aber hebt der Bericht auf die angeblich vorrangig materiellen Interessen Krugs ab: Krug habe "ständig hohe Einkünfte", die zu den "Spitzengagen der DDR" zählten; er prahle damit, Millionär zu sein und "die Gagen zu bekommen, die er fordere". Der Vorwurf der Überheblichkeit und Prahlerei wird auch in Bezug auf seine Beteiligung an der Unterschriftenaktion für Biermann erhoben: Krug habe sich damit gebrüstet, während einer Aussprache, in der ein Politbüro-Mitglied ihm zur Zurücknahme seiner Unterschrift bewegen wollte, "'standhaft und stark' geblieben zu sein und 'Rückgrat bewiesen' zu haben."
Armin Mueller-Stahl musste nach der Unterzeichnung der Protesterklärung gegen die Biermann-Ausbürgerung ähnliche Erfahrungen machen wie Krug. Seine berufliche Isolierung in dieser Zeit beschreibt er im Rückblick so: "Über Jahre hinweg hatte bei mir pausenlos das Telefon geklingelt. Nun plötzlich: Totenstille. Ich war beruflich von einem Tag zum anderen kaltgestellt."[12] Auch er spielte daher mit dem Gedanken, die DDR zu verlassen. Seine Charakterisierung in den ZAIG-Berichten weist Parallelen zu der Krugs auf. Auch Mueller-Stahl wird Geltungssucht unterstellt: Mehrfach heißt es, er hielte sich für einen "ganz großen Schauspieler", dem "Zugeständnisse und größere Freiheiten", vor allem Reisemöglichkeiten, gewährt werden müssten. Zudem sei in seinem persönlichen Umfeld geäußert worden, er sehe sich "immer stärker in der Rolle eines Märtyrers und gefalle sich darin" – unter anderem wurde er mit der Bemerkung zitiert, er habe "lieber eine 'verbogene Biographie statt eines verbogenen Rückgrats'".[13] Stark abgehoben wird auf Mueller-Stahls angebliche Beeinflussung durch andere Personen: Er stehe insbesondere unter dem "negativen Einfluss" von Krug, demgegenüber er nach eigenen Angaben "große Achtung und Dankbarkeit" empfand, da er dazu beigetragen habe, sein Selbstvertrauen im Umgang mit Vertretern der Staats- und Parteiführung zu stärken. Auch sein Schwager Ulf Reiher, Intendant des Landestheaters Halle, würde ihn "negativ" beeinflussen, und seine Ehefrau habe sich über "unerwünschte Besucher und Anrufer" beklagt, "die sich gegenseitig bemitleiden und aufputschen". Im Gegensatz zu Krug spielen angebliche materielle Interessen in den Berichten über Mueller-Stahl kaum eine Rolle. Zwar weist die ZAIG auf den Wert seiner Immobilien hin und informiert über die – geplante und vollzogene – Transferierung von Vermögen und Wertgegenständen (Antiquitäten) in die Bundesrepublik, doch ging es hierbei offenkundig in erster Linie darum, auszuloten, wie ernst seine Ausreiseabsichten waren und welche konkreten Vorbereitungen hierfür er bereits getroffen hatte. Denn Mueller-Stahl rang lange mit seiner Entscheidung, die DDR zu verlassen; in den ZAIG-Berichten heißt es, er sei "schwankend und unsicher", ob er seinen Ausreiseantrag abgeben solle. Partei- und Kulturfunktionäre bemühten sich in vielen Gesprächen darum, ihn in der DDR zu halten, hatten damit aber nur vorübergehend Erfolg: Im Jahr 1980 verließ auch Mueller-Stahl die DDR in Richtung Westen.
Die anhand von Krug und Mueller-Stahl exemplifizierten Zuschreibungen – insbesondere die Geltungssucht und die materiellen Interessen – finden sich auch bei anderen Unterzeichnern der Protesterklärung wieder. So wird in einem umfangreichen Dossier über den Schriftsteller Stefan Heym erwähnt, dieser würde immer wieder betonen, dass er "einer der ganz wenigen Schriftsteller der DDR sei, die in der ganzen Welt gelesen werden".[14] Der Hinweis auf seine "bürgerliche" Herkunft fehlt auch bei ihm ebenso wenig wie beim Theaterregisseur Adolf Dresen, bei diesem noch zugespitzt durch die Formulierung, er stamme aus einer "religiösen kleinbürgerlichen Familie".[15] Über die Musiker Kurt Demmler und Reinhard Lakomy heißt es, sie würden "ungerechtfertigt hohe Einnahmen" erzielen, wobei der Vergleich zu Opernsängern bemüht wird, die ungleich weniger verdienten.[16] Verbunden sind diese Zuschreibungen häufig mit dem Hinweis auf Auszeichnungen und Privilegien, die die betreffenden Personen erhalten hätten, womit ihnen indirekt "Undankbarkeit" gegenüber dem sozialistischen Staat zum Vorwurf gemacht wird. Bei Dresen werden seine staatlichen Auszeichnungen und die Zuweisung einer großzügigen Wohnung erwähnt.[17] Im Anhang zum Dossier über Heym sind die ihm verliehenen Auszeichnungen sowie seine häufigen genehmigten Reisen in die Bundesrepublik und ins westliche Ausland aufgelistet.[18]