Künstlerische Stadtraumaufwertung als pädagogische Politik
Die künstlerische Bewirtschaftung des Ideenhaushalts Halle-Neustadts
Halle-Neustadt war (und ist) in einem doppelten Sinne eine Kunststadt: künstlich (als Planstadt) und künstlerisch (als einschlägig gestalteter Ort). Mit fast 150 Werken im Freien wurde Halle-Neustadt zur größten Freiluftgalerie der DDR. Als visuell zu erschließende Narration lässt sich diese Gesamtheit daraufhin lesen, was ihr zu entnehmen ist über die politischen Strategien, mit denen der städtische Ideenhaushalt repräsentiert und illustriert werden sollte.1. Kunststadt
Halle-Neustadt war eine Kunststadt – in einem doppelten Sinne: künstlich als Planstadt und künstlerisch als einschlägig gestalteter Ort. Die Planstädte stellten in der DDR eine spezifische Ausprägung sozialen Lebens unter realsozialistischen Steuerungsansprüchen dar. Der Zusammenhang von Herrschafts- und Alltagsgeschichte wird dort besonders greifbar und begreifbar: Nirgends sonst suchte der planerische und steuernde Zugriff so intensiv, öffentliches und privates Leben auf dem Wege der Synchronisation zu integrieren. Diejenige DDR-Planstadt, welche dies prototypisch repräsentierte, war Halle-Neustadt.Die politisch angesonnenen Verhaltenserwartungen fanden sich mit symbolischen Identifikationsangeboten verbunden. Dessen augenfälligstes war die planmäßige Bekunstung der Stadt. Mit dieser Ausstattung des öffentlichen Raumes wurde Halle-Neustadt in einer zweiten Hinsicht zur Kunststadt, nämlich zur größten Freiluftgalerie des Landes. Fast 150 Werke im Freien, zuzüglich etwa 30 im Innern öffentlicher Gebäude, insgesamt 184 Werke der bildenden und der angewandten Kunst – seit 1990 ergänzt um weitere 14 – sichern diesen Status.[1]


2. Künstlerische Stadtraumaufwertung

Jedes einzelne der Kunstwerke ist kontingent zustande gekommen, verdankt sich gegebenenfalls glücklichen Umständen, die seine Beauftragung, Aufstellung oder Anbringung ermöglichten, oder resultiert aus unglücklichen Umständen, welche die Beauftragung, Aufstellung oder Anbringung nicht verhinderten. Wie auch immer es zu den einzelnen Werken kam und wie sie jeweils motiviert waren – in jedem Falle sind sie alle innerhalb eines Möglichkeitsraumes entstanden, der weniger determinierend wirkte, als gemeinhin angenommen wird, aber zugleich auch nicht beliebig war. Hier nun sollen daher nicht die einzelnen Kunstwerke, sondern ihre Gesamtheit in den Blick genommen werden. Diese Gesamtheit wird als visuell zu erschließende Narration verstanden und daraufhin gelesen, was sich ihr – der Gesamtheit – an Informationen entnehmen lässt über die Strategien, mit denen der städtische Ideenhaushalt illustriert und repräsentiert werden sollte.
2.1. Themen
Wertet man die Ensembles aller in Halle-Neustadt vorhandenen Kunstwerke nach ihren Motiven und Titeln aus, so fällt zunächst eines auf: Die Werke mit unmittelbar politischen Bezügen sind vergleichsweise gering vertreten. Sie machen 23 Prozent der Gesamtmenge aus.
Unter diesen Werken wiederum, die unmittelbar politische Bezüge aufweisen, ist vordergründige Agitation im Sinne plumper Propaganda selten. Eher werden propagandistische Aussagen meist mit einer gewissen Raffinesse transportiert. José Renaus Großwandbilder im Bildungszentrum – unter anderem mit dem Titel "Die Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR" – oder Erich Enges Giebelwandbild "Lenins Worte werden wahr" etwa sind auf jeden Fall in ihrer Formensprache reizvoll. Zudem ist keineswegs jede der politischen Botschaften der Halle-Neustädter Kunstwerke ausschließlich an das politische System der DDR gebunden. "Frieden auf unserer Erde" vom Malzirkel Lautenschläger beispielsweise oder – als Werktitel etwas unelegant – "Gegen Krieg, Hunger" von Hans-Joachim Triebsch und Heinz Möhrdel dürften auch jenseits des politischen Entstehungskontextes auf breite Zustimmung stoßen. (Abb. 1 und 2)


Werke mit agitatorischen Botschaften in Halle-Neustadt | |||
Nr. | Titel | Künstler | Entstehungsjahr |
1 | Musik verbindet die Völker | Wilhelm Schmied | 1966/67 |
2 | Völkerfreundschaft | Heinz Beberniß | 1967/68 |
3 | Leben im Sozialismus | Inge Götze | 1969 |
4 | Leben im Sozialismus | Inge Götze | 1969 |
5 | Kosmonaut im Weltraum | Robert Rehfeld, Dieter Goltsche, Hanfried Schulz, Ingo Kirchner | 1970 |
6 | Lenins Worte werden wahr/Er rührte an den Schlaf der Welt | Erich Enge | 1970/71 |
7 | Das Post- und Fernmeldewesen verbindet die Völker | Gertraude Schaar | 1970/71 |
8 | Leninbüste | K. S. Bojarski | 1970/71 |
9 | Nachbildung des Panzerzugs der Leuna-Arbeiter aus den Märzkämpfen 1921 | o.A. | 1971 |
10 | Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift – Marsch der Jugend | José Renau, U. Reuter, Lothar Scholz, R. Skippahler | 1972/73 |
11 | Flug des Menschen ins All | Erich Enge | 1973 |
12 | Aufbauhelfer | Rudolf Hilscher | 1974 |
13 | Die Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR | José Renau, Lothar Scholz | 1974 |
14 | Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik | José Renau, Lothar Scholz | 1974 |
15 | Kinderkreuzzug 1939 | Gerhard Geyer | 1974 |
16 | Deutsch-Sowjetische Freundschaft Durchgangsgestaltung | Jugendmalzirkel Halle-Neustadt | 1981 |
17 | Ernst Thälmann | Fritz Baust | 1982 |
18 | Marx unter uns | Gabriele Böttcher | 1984 |
19 | Die Familie in der sozialistischen Gesellschaft | Susanne Berner | 1984 |
20 | Deutsch-Sowjetische Freundschaft | Willi Neubert | 1984 |
21 | Gegen Krieg, Hunger | Hans-Joachim Triebsch, Heinz Möhrdel | 1986 |
22 | Frieden auf unserer Erde | Malzirkel Lautenschläger | 1986 |
23 | Ernst Thälmann | Hans-Joachim Triebsch, Heinz Möhrdel | 1986 |
24 | Frieden auf unserer Erde | Malzirkel Lautenschläger | 1986 |
25 | Freundschaft mit der Volksrepublik Polen | o.A. | o.A. |
Werden sämtliche der Halle-Neustädter Kunstwerke auf ihre Themen hin ausgewertet, dann ergeben sich einige weitere Auffälligkeiten (Abb. 3):[5]
- Die Arbeitswelt war mit sechs Bildern und Plastiken ein relativ selten gestaltetes Thema, obgleich Arbeit und Chemie die Basis der individuellen wie gesellschaftlichen Wohlstandsverheißung bildeten. Auch der ansonsten allgegenwärtige Bildungsoptimismus fand nur ein schwaches Echo in der Neustädter Kunst mit lediglich fünf Werken. Kinder und Jugendliche, obwohl in der Stadt der Jugend, waren gleichfalls seltene Gäste in der Motivik. Ebenso blieb die Gleichstellung der Frauen, das am ehesten gelungene Emanzipationsprojekt in Halle-Neustadt, als künstlerisches Thema äußerst randständig: Zweimal wurde sie zum Gegenstand; gemildert wird dieser Befund allenfalls dann, wenn man vier Porträts historischer Frauenpersönlichkeiten hinzurechnet.
- Dominierend hingegen sind historische Darstellungen und politische Botschaften. Eine quantitativ ähnlich große Bedeutung ergibt sich für ein weiteres Themencluster, wenn man die künstlerischen Darstellungen summiert, die Naturthemen und Sujets aus Familie, Freizeit und Sport gestalten sowie das harmonische Leben feiern.