"Wie im Krieg war es"
Ein Augenzeugenbericht vom 17. Juni aus Ost-Berlin
Ein neu aufgefundenes Zeitdokument vom 17. Juni 1953 in Berlin, niedergeschrieben von einem 22 Jahre alten Geologiestudenten, der damals staunend durch Ost-Berliner Straßen zog und danach ein siebenseitiges Erlebnis-Protokoll in seine Schreibmaschine tippte. "Nicht einer, der ein Blatt vor den Mund nahm", beobachtete er, beschrieb Brände, Plünderungen, russisches MP-Feuer sowie "haarsträubendes" Verhalten der Ost-Berliner Polizei. Ein detailreiches

Der 22-jährige Jens Kulick notierte sich seinerzeit auch, dass russische Panzer ihre Mündungen Richtung West-Berlin ausrichteten: "Vermutlich glaubten sie tatsächlich, der Westen würde einen Großangriff starten". Der ausführliche Text ist ein subjektiver Zeitzeugenbericht, der erst jetzt in Studienunterlagen des 1993 verstorbenen Geologen aufgefunden wurde, dem Vater eines Mitarbeiters des Deutschland Archivs.
Von den Protesten in Ost-Berlin hatte er, seinem Protokoll zufolge, am Morgen des 17. Juni 1953 im Radio gehört und war mit seinem Fahrrad ins das noch nicht abgesperrte Stadtzentrum gefahren. In Ost-Berlin verfolgte er den Tag über das Geschehen im Bereich zwischen Brandenburger Tor, Potsdamer Platz und Friedrichstraße: "Man sah nur Kopf an Kopf und es wurden immer mehr". Auch Auseinandersetzungen zwischen schießwütigen und beschwichtigenden Soldaten beobachtete er - und Gewalt von Demonstrierenden.
Anbei das Originalmanuskript zum Nachlesen als


Der vergleichsweise unvoreingenommene Augenzeugenbericht fand sich in einem alten Hefter mit Zeugnissen, Studienbescheinigungen und Meldeunterlagen des im Dezember 1996 verstorbenen Geologen und befindet sich mittlerweile in Besitz des Stadtmuseums Korbach in Nordhessen, wo der Geologe später auch als Heimatforscher tätig war.
Der damals 22-jährige stammte ursprünglich aus Neuruppin in der Mark Brandenburg. Er hatte seit 1950 an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Geologie studiert, verlor dort aber im Spätsommer 1952 seinen Studienplatz, weil er in West-Berlin Fahrradersatzeile für seine Neuruppiner Geschwister erworben hatte. Auf der Rückfahrt mit der S-Bahn war er in eine folgenreiche Kontrolle durch die DDR-Transportpolizei geraten. Für DDR-Studierende war das Einkaufen im Westen verboten und führte zur sofortigen Streichung von Stipendien und zur Exmatrikulation. Auch dies ergibt sich aus den aufgefundenen alten Studien-Unterlagen. Aus Angst vor weiterer Bestrafung flüchtete er anschließend aus der DDR und setzte sein Studium in West-Berlin und später Göttingen fort.
Als Flüchtling anerkannt wurde er allerdings nicht, ergibt sich aus einem Bescheid des Flüchtlingsamts Göttingen vom 31. Juli 1956. Begründung, Der Ausschluss vom Studium sei "keinesfalls politisch bedingt", sondern "eine Folge Ihres Verstosses gegen die sowjetzonalen Bestimmungen". Er "hätte wissen müssen, daß bei dem Versuch, Fahrradteile von West- nach Ost-Berlin zu bringen, Schwierigkeiten entstehen könnten..." (Quelle:

Die DA-Redaktion hat sich entschieden, das eng beschriebene, siebenseitige Manuskript über den 17. Juni 1953 als ein seltenes Zeitzeugnis unverändert zu lassen, auch Orthografie und die teilweise saloppe Ausdrucksweise wurden nicht redigiert. Hier der

Zitierweise: "Wie im Krieg war es“, Jens Kulick, in: Deutschland Archiv, 17.6.2020, Link: www.bpb.de/292657 und www.bpb.de/292658 (PDF)
- Der Aufstand vom 17. Juni 1953 - Ein Schwerpunkt des Deutschlandarchivs aus dem Jahr 2013
- 17. Juni 1953 - Ein Hintergrund-Dossier der bpb
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Interaktive Karte über das Geschehen in der DDR am 17. Juni 1953