"Meine Akte gehört mir!"
Der Kampf um die Öffnung der Stasi-Unterlagen
3. Schutz der Bürger vor ihren Akten und Stasi-Amnestie

Schröter forderte am 5. Juli 1990, "bald ein Gremium aus parteiunabhängigen integren Persönlichkeiten zu schaffen, dem möglichst auch kompetente Vertreter beider großer Kirchen angehören sollten, das die Stürme der Zeit übersteht und ein höchstmögliches Maß an Sicherheit bezüglich des verantwortungsbewussten Umgang mit personenbezogenem Schriftgut des ehemaligen MfS garantiert."[20] Damit gab er der Regierungskommission die Richtung vor. Schröters paternalistische Aussagen offenbarten ein vormodernes Gesellschaftsverständnis, das auch den "vormundschaftlichen Staat" der SED prägte.[21] Wie noch zu zeigen sein wird, stimmten derart lutherisch-obrigkeitsstaatliche Absichten, die Bürger vor ihren Akten zu schützen, durchaus mit den Plänen der Staatssicherheit wie auch der Bundesregierung überein.
An den Beratungen der Regierungskommission nahmen bald bekannte Akteure wie David Gill und Günter Eichhorn teil. Hinzu kam als Vertreter der Bundesregierung Eckart Werthebach aus dem Innenministerium. Am 2. August 1990 erläuterte er laut Protokoll "den Standpunkt der Regierung der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Akten von Bundesbürgern. Er betonte, dass diese vom ehemaligen MfS rechts- und menschenrechtswidrig erarbeitet worden sind, folglich keine Rechtsgültigkeit besitzen und daher zu vernichten seien, um betroffene Bundesbürger von dieser Last zu befreien."[22] Auch die Bundesregierung wollte also zumindest einen Teil der Deutschen vor ihren Akten schützen.
Dieses Ansinnen hatte allerdings keine Chance, umgesetzt zu werden. Es dokumentierte nur jenen "clash of cultures", der die weiteren Auseinandersetzungen um die Stasi-Akten prägte. Denn in Bonn war daran zunächst niemand interessiert. Das änderte sich erst, als durch Überläufer bekannt wurde, dass die Stasi außerordentlich viel über die bundesdeutsche Politik wusste. So war die Kommunikation der Bundesregierung mit den wichtigsten Bundesbehörden ebenso belauscht worden wie 25.000 Telefonanschlüsse von Politikern, Managern und Geheimnisträgern.[23] Kanzler Helmut Kohl regierte noch per Telefon und disziplinierte auf diesem Wege auch seine Partei. Dabei gab er nicht nur Schmeicheleien von sich. Die Barschel-Affäre lag keine drei Jahre zurück, und die Parteispendenaffäre, die 1998 zum Ende der Ära Kohl führte, war längst in vollem Gange. Bonn musste also wirklich alarmiert sein.
Eckart Werthebach hat jetzt erklärt, dass er für die Bundesregierung intensive Verhandlungen mit der Generalität der Staatssicherheit führte. Er wollte damit angeblich die Friedliche Revolution absichern.[24] Tatsächlich dürfte die Stasi aber auch über ein erhebliches Drohpotential gegen die Regierung Kohl verfügt haben. Für ihr Stillhalten wurde eine Amnestie und die Schließung der Akten verlangt. Bonn war dazu bereit. Das Ziel, die Stasi-Akten zu schließen, hatte man sich ohnehin zueigen gemacht. Am 21. Juni 1990 stimmte die Bundessicherheitskonferenz mit Beamten des Innen- und Justizministeriums, des Kanzleramts, der Generalbundesanwaltschaft, des Bundesamts für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamts, des Militärischen Abschirmdienstes und des Bundesnachrichtendienstes einer Amnestie zu.[25]
Die SPD-Fraktion in der Volkskammer jedoch lehnte eine Amnestie für Mitarbeiter der Staatssicherheit rundweg ab. Für die Sozialdemokraten war die Geheimpolizei der SED kein legitimer Verhandlungspartner. Die SPD-Fraktion im Bonner Bundestag folgte dieser Vorgabe ihrer Parteifreunde in (Ost–)Berlin.[26] Neben den Grünen widersprach auch eine kleine Schar von FDP-Politikern um Gerhart Baum und Burkhard Hirsch einer Amnestie. Das Vorhaben war damit gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht stellte 1995 allerdings fest, dass bei Stasi-Mitarbeitern ein Strafverfolgungshindernis bestehe, soweit sie auf DDR-Gebiet agierten.[27] Die praktischen Folgen dieses Urteils entsprachen fast den Amnestieplänen von 1990. Allerdings war die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts im Gegensatz zu den Motiven und Intentionen der Bundesregierung in jeder Hinsicht überzeugend.