Eingaben im Umbruch
Ein politisches Partizipationselement im Verfassungsgebungsprozess der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tisches 1989/90
In der Umbruchsituation 1989/90 wurde aktive politische Teilhabe für DDR-Bürger wieder möglich. Die Zuschriften an die Arbeitsgruppe Verfassung des Runden Tisches zeigen, wie Bürger sich mit dem Anspruch, das künftige Gemeinwesen mitzugestalten, in den Willensbildungsprozess einbrachten und wie sich zugleich die Praxis des Eingabenschreibens wandelte.I. Einleitung
Als im Zuge der friedlichen Revolution in Berlin der Zentrale Runde Tisch zusammentrat, beschloss dieses Gremium auch die Erarbeitung einer neuen Verfassung für die DDR. Ziel der

Zur Tradition der Petition in Deutschland wie auch zum Eingabenwesen in der DDR sind einige Untersuchungen erschienen. Der Wandel von der Supplikation zur politischen Petition steht dabei ebenso im Vordergrund wie die besondere Ausprägung der Petition als Eingabe in der DDR.[3] Die Arbeiten blenden jedoch die Kultur und die Praxis des Eingabenschreibens in der Umbruchsituation 1989/90 und die damit einhergehenden Fragen des Wandels aus. Deshalb stellt der folgende Beitrag die Wandlungsprozesse dieser spezifischen Form der Bürger, ihre Begehren zu formulieren, ins Zentrum: Auf welche Weise nutzten Bürger das vertraute Instrument der Eingabe um die Jahreswende 1989/90, und lassen sich dabei Veränderungen konstatieren?
Erste Tendenzen eines ansteigenden Selbstbewusstseins der Petenten stellten beispielsweise Ina Merkel und Felix Mühlberg für die 1980er-Jahre fest. Bereits im letzten Jahrzehnt der DDR empfanden Politiker den "Ton der Eingaben" als unduldsam und fordernd. Sie berichteten, dass die Bürger zum Beispiel "Begründungen für die Ablehnung von Reiseanträgen" forderten, "sich nicht mehr so einfach abspeisen" ließen.[4] Auch Patrik von zur Mühlen beobachtete eine Zunahme von Petitionen, "in denen Alternativen zur offiziellen Politik entworfen und kritische Stellungnahmen zu Missständen formuliert wurden". Diese wurden jedoch als "staatsfeindlich" eingestuft.[5] Hier lässt sich bereits die beginnende Ausformung politischer Forderungen konstatieren, welche schließlich die Zuschriften an die Arbeitsgruppe Verfassung prägen sollten.
Die Rolle der Eingaben in der DDR
Das Petitions- bzw. Eingabenwesen hat auf deutschem Gebiet eine lange Tradition. Bereits im 18. Jahrhundert wurde hier das Petitionsrecht als politisches Teilhaberecht wahrgenommen, bevor es in der DDR eine ganz eigene Tradition in Form des Eingabenschreibens ausbildete. Die Eingabe stellte im SED-Staat die einzige Möglichkeit dar, individuell mit den Herrschenden in Kontakt zu treten, und zeigte sich in der Praxis in Form von Bitten und Beschwerden zu alltagsrelevanten Themen. Zugleich wurden elementare Wesenszüge der politischen Petition, wie etwa die Möglichkeit zur Äußerung politischer Kritik und zur Herstellung von Öffentlichkeit, unterbunden. Jonathan Zatlin verglich das System der Eingaben in der DDR mit der Untertanenbitte der vordemokratischen Zeit. Der Bürger wandte sich persönlich an den Herrscher und hoffte darauf, das eigene Anliegen eindrücklich vorgebracht zu haben, sodass diesem auch entsprochen wurde. Dieses "persönliche Gespräch" zwischen Regierenden und Bürgern bewirkte, wie Thomas Lindenberger treffend formulierte, eine Individualisierung der Kommunikation, womit gleichzeitig die autonome Artikulation gesellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse verhindert wurde.[6] Durch das Kanalisieren der Bürgermeinungen in diesem universellen Instrument wurde die Entstehung einer öffentlichen Diskussion gehemmt. Somit war die Staats- und Parteiebene auch nicht dem politischen Druck einer kritischen Öffentlichkeit ausgesetzt.
Dennoch bot die Eingabe dem Bürger der DDR eine unbürokratische Möglichkeit zur Bewältigung von Konflikten mit Verwaltung, Staat und Partei.[7] Für den SED-Staat erfüllte sie zudem die Funktion eines Stimmungsbarometers. Entgegen dem Argument von Felix Mühlberg und Ina Merkel kann sie allerdings nicht als wirkungsvolles plebiszitäres Element, ähnlich einem Bürgerbegehren, verstanden werden.[8] Die zahlreichen Eingaben verschiedener Absender zum selben Thema konnten zwar die Auseinandersetzung auf Partei- und Staatsebene mit dieser Problematik beeinflussen,[9] dies geschah jedoch unabhängig voneinander und unorganisiert. Anders als Bürgerinitiativen oder -begehren bot die Eingabe nicht die Möglichkeit, Öffentlichkeit herzustellen und beispielsweise über öffentliche Aufrufe einer Interessengemeinschaft ein möglichst massenhaftes Aktivwerden von Bürgern zu initiieren. Die Befürchtung, "ein kollektives Eingaberecht könnte die Basis für Zusammenschlüsse politisch-kritischer Bürger abgeben",[10] führte in der DDR stattdessen dazu, dass das Recht der Eingabe gemäß dem Eingabengesetz von 1975 lediglich Zusammenschlüssen im Rahmen von "gesellschaftlichen Organisationen"[11] eingeräumt wurde, nicht aber "Gemeinschaften der Bürger"[12].
Das Eingabenwesen der DDR ist folglich als vielseitiges, aber auch problematisches Instrument zu sehen. Einerseits diente die Eingabe dem Bürger als Kommunikationsmittel, um sich mit Anliegen an den Staat zu wenden. Sie konnte "individuell erfolgreich"[13] sein sowie in der Häufung zu einem Thema als Stimmungsbarometer dienen, andererseits aber keinen nachhaltigen Einfluss auf politische Entscheidungen durch die "Herstellung von Öffentlichkeit" erwirken.[14]