Welche Zukunft liegt in Halle?
Gedanken zum geplanten Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in der Händelstadt, das 40 Jahre nach dem Untergang der DDR eröffnet werden soll
Elske Rosenfeld
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Zwei Jahre nach der Wahl des Standorts Halle am 23. Februar 2023 fiel am 30. April 2025 die Entscheidung über die künftige architektonische Hülle des "Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation". Es soll mit Investitionen in Höhe von über 200 Millionen Euro bis zum 3. Oktober 2030 entstehen, also 40 Jahre nach der Deutschen Einheit eröffnet werden. Doch mit welchen Inhalten?
Die architektonischen Grundlagen sind nun beschlossen, aber noch nicht die genaue inhaltliche Ausprägung und auch nicht, wer personell zum Motor der von der Bundesregierung beschlossenen Einrichtung wird, die "inhaltlich unabhängig agieren soll", wie der scheidende Ostbeauftragte der rot-grünen Bundesregierung, Carsten Schneider, bei der Präsentation des Siegerentwurfs am 30. April 2025 in Halle beteuerte.
Präzise Festlegungen stehen noch aus, bisher weiß man nur, dass eine Mischung entstehen soll, aus Schauraum Ost, zeitgeschichtlichem Forschungslabor, Ausstellungs-, Denk- und Debattenraum über die ost-westdeutsche Transformationsgeschichte sowie eine Zukunftswerkstatt mit europäischem Blick. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und die Universität Halle sollen bei der inhaltlichen Gestaltung und der Personalauswahl eine prägende Rolle spielen.
Die Ende 2020 von der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ vorgeschlagene Einrichtung sollte Ihrem Urkonzept nach dazu dienen, "ostdeutsche Transformationsleistungen" nach 1990 zu würdigen und zu nutzen. Aber wie und woran müsste eine solche Einrichtung arbeiten, wie in die Öffentlichkeit hineinwirken und hätte sie eine ernstzunehmende Poitikberatungskompetenz? Unsere Autorin Elske Rosenfeld hat schon 2023 angeregt, Potenziale, aber auch Gefahren breiter als bisher zu diskutieren, nicht nur auf nationaler Ebene sondern auch im gesamteuropäischen Rahmen. Denn die ursprüngliche Konzeption wirft noch Fragen auf - und ließ Skeptiker und Skeptikerinnen von Anbeginn an auch einen kontraproduktiven Zentralismus künftiger Geschichtsdeutung befürchten, von Politik und Ministerialbürokratie gesetzt.
Wie eine Einheit feiern, deren Erfolg seit einigen Jahren durch unüberhörbaren Unmut in Ostdeutschland zumindest diskussionswürdig erscheint? Vor dieser Aufgabe stand 2020 eine noch unter Horst Seehofer (CSU) vom Bundesinnenministerium eingesetzte Expertenkommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit”. Die Idee der Kommission, die damals bevorstehenden Jahrestage vor allem auch zum Anlass einer Untersuchung der Stimmungslage in Ostdeutschland zu nehmen und auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung zu entwickeln, war darauf sicher nicht die schlechteste Antwort. 22 Mitglieder aus Politik, Kultur und Wissenschaft gehörten dem Gremium bis Ende 2020 an, 65 Millionen Euro umfasste der Etat für zwei Jahre, geplant wurden unter anderem Debatten, Bürgerdialoge und Werbekampagnen.
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In ihrem Abschlussbericht, den sie am 7. Dezember 2020 in der Bundespressekonferenz vorgestellt hat, bezeichnet die Kommission die Deutsche Einheit als zumindest unabgeschlossen. Die Autor*innen machen sich stark dafür, „Defizite und Fehlentwicklungen“ im Einheitsprozess zu benennen und „die Debatte über Stand und Zukunft der inneren Einheit unseres Landes auf eine neue Grundlage“ zu stellen. Sie konstatieren, dass Folgeprobleme der Einheit, wie Arbeitslosigkeit und Abwanderung, unter Ostdeutschen zu „Aussichts- und Hoffnungslosigkeit“, politischer und gesellschaftlicher „Verdrossenheit“ und „Entfremdung“ geführt haben. Sie problematisieren die fehlende Sichtbarkeit und Würdigung der Lebensleistungen Ostdeutscher und ihre Unterrepräsentanz in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Führungspositionen.
Mit ihren Handlungsempfehlungen wollte die Kommission diesen Missständen gegensteuern. Ein Kernstück der Externer Link: Empfehlungen, die am 8. Dezember 2020 auch online öffentlich zugänglich publiziert wurden, ist die Einrichtung eines „Zukunftszentrums für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“ in Ostdeutschland, als Ort der „praxisorientierten Auseinandersetzung mit Geschichte.“ In einem interdisziplinären Kompetenzzentrum, eingerichtet in einem „identitätsstiftenden“ Gebäude in Ostdeutschland, sollen die Leistungen und Erfahrungen der Ostdeutschen in der Transformation verarbeitet und für die Zukunft nutzbar gemacht werden. Das Zentrum soll ein wissenschaftliches Institut, ein Dialog- und Begegnungszentrum und ein Kulturzentrum umfassen, Preise und Stipendien vergeben, Konferenzen und Ausstellungen ausrichten und Formen des Austauschs im und jenseits des Zentrums organisieren.
Das Bundeskabinett griff die Handlungsempfehlungen der Kommission im März 2021 auf und setzte neben einer am Bundesinnenministerium angesiedelten Lenkungsgruppe eine achtköpfige Arbeitsgruppe ein, die schon bis Ende Juni 2021 ein „detailliertes Konzept“ zu den Aufgaben und Arbeitsweisen eines solches „Zukunftszentrums für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“ erstellen sollte.
Zu Mitgliedern dieser AG wurden seinerzeit berufen: Brandenburgs ehemaliger Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD), der parlamentarische Staatssekretär und Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), die SPD-Politikerin Katrin Budde aus Sachsen-Anhalt, der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Mazière (CDU), der Görlitzer Soziologe Raj Kollmorgen, die Demokratieforscherinnen Astrid Lorenz aus Leipzig und Gwendolyn Sasse aus Berlin sowie der Leiter des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig, der Politologe und Publizist Basil Kerski.
Der Bericht der Arbeitsgruppe wurde am 16. Juni 2021 vorgelegt. Das Zentrum solle "in einer ostdeutschen Stadt mit universitärer Anbindung entstehen, bis zu 200 Millionen Euro kosten und möglichst in sechs Jahren seine Arbeit aufnehmen". Der Standort werde in einem Wettbewerb ermittelt und müsse nicht zentral gelegen, aber für internationale Gäste gut erreichbar sein, hieß es bei der Vorstellung des Berichts.
Die im September 2021 neu gewählte Bundesregierung hat dann an diese Planungen angeknüpft und machte die Kriterien für den Standortwettbewerb am 17. Oktober 2022 öffentlich:
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"Geplant ist ein Gebäude mit einer herausgehobenen modernen Architektur. Das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ ist ein Ort, an dem die Erfahrungen und Leistungen der Menschen aus und in Ostdeutschland in den letzten 30 Jahren sichtbar gemacht werden. Hier sollen die Bedingungen für eine Transformation von Wirtschaft und Gesellschaften erforscht und Lebensleistungen gewürdigt werden. Das Zentrum bietet Raum für Kultur, Dialog und lebendige Diskussionen."
Erste Interessensbekundungen gab es daraufhin unter anderem aus Jena in Thüringen, Leipzig & Plauen im Verbund in Sachsen, Halle und Magdeburg in Sachsen-Anhalt, außerdem aus den thüringischen Städten Eisenach und Mühlhausen (letztere in Kooperation mit der hessischen Stadt Eschwege) und aus Frankfurt (Oder) in Brandenburg, das sich gemeinsam mit dem polnischen Słubice als "Europäische Doppelstadt" versteht. Eisenach entwickelte sich dabei lange Zeit als ein Geheimtipp der Jury, weil die Stadt viele der formulierten Anforderungen erfüllte, noch überzeugender gelang das aber letzten Endes dem besonders zentral im Osten Deutschlands gelegenen Halle.
Die Jury-Entscheidung fiel nach intensiven Standortchecks am Abend des 14. Februar 2023 in weitgehendem Konsens auf die sachsen-anhaltinische Universitätsstadt.
Halles Bewerbungsflyer aus dem August 2022 für das vom Bund geplante Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation, als ein Zentrum für Begegnung, (Erinnerungs-)Kultur, (Transformations-)Wissenschaft und zur "Stärkung von Demokratie und Zusammenhalt in Europa".
Lange Zeit galten auch Jena, Leipzig und Frankfurt (Oder) als Favoriten. Abhängig war die Ortswahl aber auch davon, wo kann ein für ein markantes Gebäude geeignetes, bebaubares Grundstück zur Verfügung gestellt werden, dass später bis zu 200 Mitarbeitende fasst? Jährlich soll das Zentrum dafür mit einem 40 Millionen-Euro-Etat ausgestattet werden.
In Halle erwies sich der zentrale Riebeckplatz direkt vor dem Hauptbahnhof als geeignetster Standort. Der bisherige Verkehrsknotenpunkt zwischen Bahnhof und Innenstadt soll entsprechend attraktiv umgestaltet werden und BesucherInnen der Stadt gleich mit dem markanten Gebäude zum Durchspazieren empfangen; Halles Stadtplaner haben dabei gleich an ein Hochhaus gedacht, über das 2024 ein Bauwettbewerb entscheiden soll. Die größte Stadt in Sachsen-Anhalt sei ein typischer Ort "für gelingende Transformation seit der Wende", habe mit der Nationalen Akademie Leopoldina und der Martin-Luther-Universität gute wissenschaftliche Andockmöglichkeiten und ein "herausragendes kulturelles Umfeld", betonten Jurymitglieder. Zudem ist Halle ICE-Knotenpunkt. Eine eigene Website dokumentiert die siegreiche Bewerbung und die weiteren Planungsschritte: Externer Link: https://zukunftszentrum-halle.de.
Auch erste Hearings von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen fanden mittlerweile statt, so Mitte September 2023 an einem "Round Table" in der Hallenser "Leopoldina" im Beisein des Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider. Dessen Stab koordiniert die Aufbauarbeit bevor im nächsten Jahr eine Geschäftsführung eingerichtet werden soll, sowie ein wissenschaftlicher Beirat und eine Art Aufsichtsgremium berufen werden.
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Auch Prominenz aus dem Ausland wirbt inzwischen für das Projekt, so am 9. November 2023 aus Warschau der Kopf der Solidarność-Bewegung und Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa, der als Gastredner in Halle das Externer Link: Solidarność-Zentrum in Danzig als ein Vorbild für das Zukunftszentrum in Halle bezeichnete .
Insgesamt 250 Millionen Euro sind mittlerweile für das Projekt im Gespräch, das 2028 bereits arbeitsfähig sein soll, dazu sollen vier Professuren eingerichtet, eine Dauerausstellung konzipiert, ein Medienkonzept und Wechselausstellungen entwickelt werden. Das Projekt soll, so die breite Wunschliste bei Wissenschaftsdebatten vor Ort, mindestens dreierlei Aufgaben bündeln: Museum, Labor und Futurium zugleich. Ziel ist also gewissermaßen ein Ort der Geschichte erzählt, Forschung und Debatten darüber ermöglicht und darauf eine Zukunftswerkstatt aufbaut, ohne anderen schon bestehenden Lehrstühlen oder Einrichtungen mit vergleichbaren inhaltlichen Zielsetzungen das Wasser abzugraben. Diese Sorge wird in Expertenkreisen gelegentlich laut.
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Entstehen soll also eine Art Ost-West-Think Tank der Deutschen Einheit, aber auch über die Zukunft von Demokratie und Europa, mit zusätzlicher Dynamik durch das beunruhigende Anwachsen des demokratiefeindlichen Populismus europaweit.
Die Wunschzettel der bisher an der Diskussion Beteiligten sind lang: Das Zukunftszentrum soll einerseits regional starke Ausstrahlung haben und so attraktiv werden, dass es jährlich rund eine Million Besucher und Besucherrinnen zum Riebeckplatz zieht, es soll aber auch seine internationale Aufgabe nicht vernachlässigen, die Transformation (Ost)europas zu beschreiben und sich daher auch mehrsprachig aufstellen und vernetzen. Angesichts des Krieges von Russland gegen die Ukraine (und gewissermaßen die ganze westliche Welt) wird dies eine stetig wachsende Herausforderung, die bei der Konzeption des Zentrums noch nicht absehbar war. Sie lehrt, dass Transformation kein Ende kennt.
Enttäuschung in Frankfurt (Oder) und Leipzig
Besondere Hoffnungen hatte sich allerdings schon früh vor allem Frankfurt (Oder) als Brückenstadt nach Osteuropa gemacht, hier aber sahen mehrere Jurymitglieder schon die Universität Viadrina als aktiven Brückenbauer vor Ort und empfanden die Nähe zu Berlin als zu groß.
Im Juli 2021 erfolgte die Zustimmung der vormaligen (schwarz-roten) Bundesregierung zu dem Gesamt-Konzept. Im Koalitionsvertrag vom 24.11.2021 hielt die nachfolgende, rot-grün-gelbe Koalition daran fest. Dort heißt es auf S. 130: "Die Erfahrungen der Ostdeutschen im Wandel und die Bedingungen für gelingende Transformation sollen im neuen „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ für zukünftige Herausforderungen erforscht und besser vermittelt werden". Zügig wurde zunächst die nun entschiedene Standortausschreibung auf den Weg gebracht.
Der stellvertretende Jury-Vorsitzende Basil Kerski, er ist Politikwissenschaftler und leitet das Europäische Solidarność-Zentrum in Danzig, begründete gegenüber dem Deutschlandarchiv die Entscheidung für Halle wie folgt: Die Saalestadt sei besonders zentral in Ostdeutschland gelegen und "prädestiniert als künftiger Forschungs- und Dialogort ein besonderes Zeichen für Deutschland und Europa zu setzen.
Halle veranschauliche die Epochen Europas und die der deutsch-deutschen Transformation auf vielfältige Weise, vom Mittelalter bis hin zu den Bausünden aus der DDR-Zeit und dem inzwischen modernisierten Stadtteil Halle-Neustadt, wo auch viele Geflüchtete gut aufgenommen worden seien. Außerdem habe sich Halle konzeptionell von vornherein "in die Region und den ganzen Osten hinein gedacht" und sich dabei nicht nur auf sich selbst bezogen. Diese Aufgeschlossenheit mache "die Stadt Händels" auch für viele Zuwanderer, Studierende aus aller Welt und ausländischen Gäste attraktiv. Dass ausgerechnet das benachbarte Leipzig als einer der Ausgangspunkte der Friedlichen Revolution nicht zum Zuge kam, lag wohl daran, dass die Kombination mit Plauen als vergleichsweise unpraktikabel erachtet wurde und sich auch baulich keine idealen Voraussetzungen fanden.
Potenziale und Fallstricke
Aber nun zu den inhaltlichen Aspekten des künftigen Zukunftszentrums, das der derzeit amtierende Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), als eines "der wichtigsten Projekte für die Festigung der Deutschen Einheit und des Zusammenhalts in Europa in den kommenden Jahren" bezeichnet. Es ist aber kein Geheimnis, dass inmitten aller bundespolitischen Sparzwänge derzeit prominente politische Lobbyisten für das ehrgeizige Projekt fehlen, so wie es der Brandenburger SPD-Politiker Matthias Platzeck für den Standort Frankfurt (Oder) war. Das verunsichert zunehmend auch Sachsen-Anhalts Landesregierung, die dem Vernehmen nach 45 Millionen Euro für einen zeitnahen Umbau des in Halle vorgesehenen Standorts zur Verfügung stellen will.
Mein nachfolgender Text soll die Potenziale, aber auch mögliche Fallstricke einer solchen Einrichtung aufzeigen, wenn an dem Projekt festgehalten wird. Auf welche geschichts- und diskurspolitische Situation reagiert eigentlich der Vorschlag für dieses Zentrum? Auf welche Defizite in der bisherigen Aufarbeitung ostdeutscher Transformationsgeschichte will, kann oder müsste es reagieren? Welche Formen der Umsetzung des Vorschlags wären einer solchen Aufgabe angemessen? Welche Fehler in der bisherigen staatlichen Aufarbeitungspolitik gilt es zu vermeiden?
Ich nähere mich diesen Fragen im Folgenden aus der Perspektive meiner eigenen langjährigen forschenden und künstlerischen Beschäftigung mit der Geschichte der Revolution von 1989/90 und ihrer Vor- und Nachgeschichte und verstehe diesen Text als Anregung und Beitrag zu einer hoffentlich regen Diskussion zu dem vorgeschlagenen Zentrum und seinen Themen.
Zwischen Currywurst und Spitzelstaat: Darstellungen von DDR-Geschichte und -biographien bis 2014
Der durch die Coronapandemie in den Medien weitgehend untergegangene Bericht der Kommission war und ist zunächst Zeugnis und sicher auch Produkt einer Öffnung und Diversifizierung des Umgangs mit ostdeutscher Geschichte und ostdeutschen Biographien. Noch die Feierlichkeiten des letzten größeren Jubiläums von „Mauerfall und deutscher Einheit“ in den Jahren 2014/15 bewegten sich irgendwo zwischen „Trabbi, Mauer und Currywurst“ auf der einen und Unrechtsstaat und Diktatur auf der anderen Seite und verdeutlichten damit auch den Stand der Debatte zur DDR-Geschichte.
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Wenn über die DDR gesprochen oder zur DDR geforscht wurde, geschah dies ab 1990 entlang eines aus dem Kalten Krieg übernommenen binären Erzählmusters: hier der freiheitliche Westen als Normalität, dort der totalitäre, repressive Staatsozialismus als historischer Irrweg, der 1989 glücklich und endgültig überwunden wurde. Viele Ostdeutsche – von denen zu diesem Zeitpunkt laut Umfragen 74 Prozent den Sozialismus für „eine gute Idee, die nur schlecht umgesetzt wurde“ hielten – fanden sich in einer solchen Erzählung aber nicht wieder.
Ihre Lebensleistungen ließen sich in einer auf Repression und Widerstand reduzierten Geschichte weder würdigen noch überhaupt erst einmal erzählen. In den westdeutsch dominierten Medien tauchten ostdeutsche Leben als Klischees auf – oder gar nicht. Es entstand der „Eindruck” – wie es die Kommission zurückhaltend formulierte –, dass die Ostdeutschen in der öffentlichen Debatte nicht angemessen vorkämen. Und wer meint, durch den starken Fokus auf das Thema Stasi wäre wenigstens die Aufarbeitung dieses einen Themas gelungen, sei an den heftig geführten Streit um die Ernennung Andrej Holms zum Staatssekretär für Wohnen in Berlin 2017 erinnert, der eindrücklich zeigte, dass der gegenwärtige Stand der Debatte sich eher für tagespolitische Instrumentalisierungen als für eine tatsächliche Verständigung jenseits simpler Opfer-Täter-Schemata eignet.
Es ist bitter, dass es scheinbar erst die ab 2015 von Pegida und AfD betriebene Skandalisierung und Funktionalisierung ostdeutscher Fehlentwicklungen brauchte, um eine breitere Debatte zu und Neubewertung der Transformation in Ostdeutschland zu erzwingen, wie sie aktuell auch zunehmend von von WissenschaftlerInnen eingefordert wird. Es ist daher ein wichtiger Schritt nach vorne, dass sich die Kommission mit ihrem Bericht und ihren Vorschlägen der ostdeutschen „Entfremdung und Verdrossenheit“ jetzt angenommen hat und diese „klar zu benennen und ihnen möglichst umfassend entgegenzuwirken“ als eine zentrale gesamtgesellschaftliche und staatliche Aufgabe verstanden wissen möchte.
Eine solche Neubewertung müsste aber notwendigerweise mit einer kritischen Befragung der bislang verwendeten Begriffe und Narrative anfangen. So erweist sich, wie ich im Folgenden kurz ausführen möchte, schon das Reduzieren des Umbruchs und der Transformation in Ostdeutschland ab 1989 auf den Begriff der „Deutschen Einheit“ für eine Würdigung der, auch demokratischen, Leistungen der Ostdeutschen und eine Bewertung ihres politischen Engagements und Interesses als unzureichend.
Transformationsgeschichte ist Revolutionsgeschichte: Die Revolution von 1989/90 als unvollendete demokratische Ermächtigung erzählen
Im April 2019 sprach die Bundesregierung in ihrem Einsetzungsbeschluss zur „Durchführung der Feierlichkeiten 30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit davon, dass diese „Jubiläumsjahre“ auch dazu dienen sollten, ein „Bewusstsein“ dafür zu schaffen, „dass die Deutsche Einheit ein Prozess ist, der noch nicht abgeschlossen ist. Die Jubiläumsjahre sollen das gemeinsame und gegenseitige Verständnis für die Leistungen fördern, die zur Wiedervereinigung geführt haben und für das Zusammenwachsen von Ost und West erbracht wurden“.
Doch damit blieben erneut all jene Aspekte und Hoffnungen des Umbruchs von 1989/90 unerwähnt, die über die Übernahme der „real existierende[n] Demokratie vom Rhein“ hinausgingen, wie sie Joachim Gauck einmal definierte. Eine solche Erzählung der Revolution von 1989/90 entlässt deren Akteur*innen nicht als Träger einer radikalen und alle gesellschaftlichen Bereiche ergreifenden kollektiven Selbstermächtigung in die Post-Revolution, sondern als „Lehrlinge“ oder – buchstäblich – als Kinder. Sie setzt so den Ton für genau jene eigentlich kritisierte Herabwürdigung von Ostdeutschen, welcher die Kommission mit dem geplanten Zentrum entgegenwirken möchte. Es ist insofern ein gutes Zeichen, dass sich die Kommission 2019/20 entschied, die Liste der zu feiernden Ereignisse um eine Reihe weiterer „Meilensteine”, darunter auch das Gründungstreffen des Neuen Forums im September 1989 und die Interner Link: Montagsdemonstrationen am 9. Oktober 1989, zu ergänzen.
Ein solches erweitertes Verständnis der Revolution von 1989/90 sollte sich entsprechend auch in der von der Kommission vorgeschlagenen Würdigung der Transformationsleistungen der Ostdeutschen niederschlagen. Forschung und Dialog im geplanten Zentrum sollten sich, neben der Geschichte von 1989/90 als Einheitsgeschichte, auch dessen annehmen, was aus dem Umbruch von 1989/90 an uneingelösten Versprechen und vergessenen emanzipatorischen Praxen liegengeblieben ist. Viele der Vorschläge der damals Engagierten für eine ökologische Neugestaltung der Wirtschaft, für eine gerechtere globale Ordnung oder für die in der DDR behauptete, aber nicht erzielte Geschlechtergerechtigkeit, sind auf dem eher westdeutsch dominierten Weg in die deutsche Einheit auf der Strecke geblieben – erscheinen aber 30 Jahre später so aktuell wie hellsichtig.
Kein Gejammer: Ostdeutsche Protestgeschichte ab 1989
Mit einem solchen erweiterten Ansatz ließe sich anerkennen, dass die post-DDR-Bürger*innen ihre Transformationsleistungen nicht nur unter dem Vorzeichen des Verlustes der politischen, kulturellen und sozialen Koordinaten ihres bisherigen Lebens, sondern auch jenes Möglichkeitsraums erbracht haben, den sie sich im Herbst und Winter 1989/90 erkämpft hatten, in Halles Zentrum übrigens am 7. Oktober 1989 noch mit Polizeiketten und Gummiknüppeln auseinandergetrieben von der DDR-Volkspolizei.
Die massive ostdeutsche Protestbewegung der frühen 1990er Jahre ließe sich, statt sie als typisches „Jammerossitum“ abzutun, in Kontinuität mit einem demokratischen Selbstbestimmungsanspruch untersuchen, der nach dem 3. Oktober 1990 nicht erlosch, sondern nun vielmehr auf die neuen Verhältnisse angewendet wurde. Circa 150 bis 200 Streiks, Betriebsbesetzungen und andere Proteste pro Jahr zwischen 1991 und 1994 müssten in diesem Sinne nicht als eine „zweite Revolution im Osten“, sondern als Fortsetzung der ersten analysiert werden.
Die Enttäuschung vieler Ostdeutscher nach 1990 entspringt auch der großen Fallhöhe zwischen ihrem 1989 erlernten demokratischen Anspruch und der damals von der Treuhand propagierten Politik wirtschaftlicher Sachzwänge. Statt die begonnenen demokratischen „Experimente“ zu verstetigen, wurde der Osten nun zu einem Labor einer so in Europa noch nie gesehenen Privatisierung und Liquidation einer Volkswirtschaft, die – teils bis heute – als alternativlos deklariert wird. Die demokratischen Defizite einer solchen „Transformation von oben“ müssen in dem geplanten Zentrum diskutierbar werden, wenn die von der Kommission gewünschte Anerkennung ostdeutscher Enttäuschungen und Verletzungen gelingen soll.
Der für das Zentrum vorgeschlagene osteuropäische und transnationale Rahmen könnte sich hier als hilfreich erweisen. Die Geschichten der oft erfolgreicheren osteuropäischen Alternativen sind gut geeignet, die behauptete Unumgänglichkeit der ostdeutschen Schockprivatisierung zu überprüfen.
Auch die Frage nach der Politverdrossenheit der Ostdeutschen und ihrem vermeintlich fehlenden politischen Engagement, dem „geringe[n] Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen“, die den Bericht und die Vorschläge der Kommission durchzieht, ließe sich so jenseits abwertender Stereotype noch einmal anders und produktiver darstellen.
Die signifikante Protesterfahrung der Ostdeutschen, die sich nach 1990 nicht nur in Anti-Treuhandprotesten (1991-94), sondern auch in Montagsdemonstrationen gegen den Irakkrieg (2003) und gegen Harz IV (2004) manifestierte, könnte als Zeichen eines durchaus vorhandenen, aber als wenig wirkmächtig erlebten, spezifisch ostdeutschen politischen Engagements untersucht und gewürdigt werden. So ließe sich auch der 2014 begonnenen Aneignung ostdeutschen Protests durch Rechtspopulisten und Rechtsextremisten begegnen.
Gegen eine rechte Vereinnahmung: Nationale Narrative feiern oder hinterfragen?
Es ist gut, dass die Kommission diese Aneignung und Mobilisierung ostdeutscher Frustrationen problematisiert und ihr mit ihren Vorschlägen und in dem geplanten Zentrum entgegenwirken möchte. In Zeiten, in denen gerade im Osten zivilgesellschaftliches Engagement oft mittels einer kruden Rechts-Links-Gleichsetzung diskreditiert und finanziell eher entwertet als gefördert wird, könnte das Zentrum so tatsächlich gegensteuern und ein wichtiges Zeichen setzen.
Der Bericht der Kommission wirft aber Fragen auf, wenn er seine Vorschläge, auch die für das Zukunftszentrum, mit einem Aufruf zu einem stärkeren deutschen Nationalbewusstsein, einem „positiven demokratischen Patriotismus“ (im Bericht auf S. 30), einem "heiteren Feiern" (S. 23) des Nationalen verbindet. Hier zeigt sich ein zentrales Problem eines Handlungskonzeptes, dem sein ursprünglicher Auftrag, das nationale Projekt Deutsche Einheit vor allem positiv zu würdigen, noch überdeutlich anzumerken ist.
So leisten der Bericht und seine Vorschläge aus meiner Sicht einem Feiernationalismus Vorschub, der schon in den 1990er Jahren nicht als harmloses Wohlfühldispositiv funktioniert hat. Westdeutsche mit türkischen Wurzeln und Schwarze (Ost)deutsche haben damals erleben müssen, wie sie aus dem gemeinsamen Feiern der Revolution im Osten in dem Maße ausgeschlossen wurden, wie daraus das nationale Projekt der "deutschen Wiedervereinigung" wurde. [20] Der Bericht erweckt den Eindruck, als wiederhole die Kommission diese Ausschlüsse nun in Inhalt und Form. Die nahezu „biodeutsche“ Zusammensetzung der Kommission zieht auch inhaltliche Schieflagen nach sich. So fehlt mir im Bericht die Anerkennung der Tatsache, dass sich auch Deutsche mit ausländischen Wurzeln und Vertragsarbeiter*innen, wie jene, die der Einigungsvertrag aus bilateralen Abkommen der DDR mit Mosambik, Vietnam und Angola in die Ungewissheit entließ, in der post-DDR ein neues Leben aufbauten.
Ihre Lebensleistungen gehören ebenso zur ostdeutschen Transformationsgeschichte, wie auch ihre Erfahrungen mit Rassismus und Neofaschismus, der von dem mit der Einheit verbundenen Aufschwung des Nationalen befördert und von drastischen Einschränkung des deutschen Asylrechts flankiert wurde. Diese Zusammenhänge zwischen dem Wiedererstarken nationaler Narrative ab 1990 und dem, was in den letzten Jahren unter dem Hashtag „Baseballschläger-Jahre“ diskutiert wurde, gehören unbedingt in das Themen- und Forschungsspektrum des geplanten Zentrums, finden aber in Bericht und Vorschlägen keine angemessene Berücksichtigung.
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Die fehlende Sensibilisierung und Expertise zu migrantischen Perspektiven schlägt im Bericht leider noch an anderen Stellen negativ zu Buche. So werden Forderungen für mehr Engagement gegen „Fremdenfeindlichkeit“ in den Handlungsempfehlungen mit der Notwendigkeit begründet, (ausländische) „Talente“ nicht zu verprellen. So knüpft man das Recht von Menschen, nicht rassistisch beleidigt oder angegriffen zu werden, an das Erbringen wirtschaftlicher Leistungen.
Und wenn die Notwendigkeit, „Zugewanderte“ mit den kulturellen Aktivitäten des Zukunftszentrums zu „erreichen“, damit begründet wird, für diese sei „die Verinnerlichung der europäischen Werte von hoher Bedeutung”, unterstellt das implizit, dass ihnen diese Werte prinzipiell fremd oder äußerlich wären. Solch eine Formulierung ist besonders problematisch, wenn man bedenkt, dass Geflüchtete Europa und seinen praktizierten Werten aktuell häufig als allererstes in Form eines gewaltvollen und oft tödlichen europäischen Grenzregimes begegnen. Hier sollte sich die Bundesregierung bei der weiteren Planung des Zentrums dringend sensibilisieren und die nötige Expertise einholen.
Die Bewertung der deutschen Einheit und Transformation sollte also in einem Forschungszentrum nicht bereits auf die im Bericht anklingende positive Weise festgeschrieben werden, sondern Inhalte und Ziele sollten eine in alle Denkrichtungen offene und kritische gesellschaftliche Auseinandersetzung ermöglichen.
Wi(e)der eine Geschichtspolitik von oben? Zur Form des Zentrums und seiner Planung
Das wirft die grundsätzlichere Frage auf, was es heißt, die vorgeschlagene staatliche Förderung von Forschen und Erinnern an eine zentrale Einrichtung und einen repräsentativen Auftrag zu binden.
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Die Kommission sieht den Vorteil des geplanten zentralen Ansatzes in der Bündelung von Kompetenzen und Aufgaben und der so möglichen Intensivierung des Austauschs. Es ist nachvollziehbar, dass sie so zwischen den sehr unterschiedlichen, teils antagonistischen Narrativen zum und im Osten vermitteln möchte. Aber eine solche Zentralisierung und staatliche Lenkung des Erinnerns birgt auch Gefahren.
Die Sensibilität gegenüber Versuchen einer staatlich gelenkten Geschichtsdeutung oder gar Belehrung oder Umerziehung ist aus meiner Sicht im Osten zu Recht groß.
Die Transformationsleistungen, die im Zentrum gewürdigt werden sollen, sind von Ostdeutschen von unten und oft entgegen staatlicher Politiken erbracht worden. Dem gilt es, auch in der Form ihrer Aufarbeitung Rechnung zu tragen. Das Bemühen darum ist dem Vorschlag an vielen Stellen anzumerken. Aber es gerät in Konflikt mit dem bereits erwähnten Primat einer prinzipiell positiven Bewertung der Deutschen Einheit.
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Was passiert mit Stimmen, die ihre Kritik nicht in ein solches Narrativ vereinnahmt wissen wollen? Kritischen Stimmen innerhalb der Arbeit des Zentrums Raum zu geben, ist nötig und wichtig, aber es braucht auch eine kritische und gleichberechtigte Auseinandersetzung zwischen dem Zentrum und anderen Ansätzen, Akteur*innen und Institutionen. Letztendlich geht es um ein breites, auch widerspruchsvolles Mosaik.
Wenn das Zentrum das Erinnern und die Forschung zur Transformation auf die im Bericht anklingende Weise an einen staatlichen Auftrag bindet, dann könnte es im Hinblick auf die geforderte größere Vielfalt möglicherweise mehr Schaden anrichten als helfen.
Fatal wäre zum Beispiel, wenn anderen Akteur*innen im Zuge der Einrichtung des Zentrums Gelder zur Bearbeitung vergleichbarer Themen entzogen oder Projektanträge bei anderen, offeneren Förderungen mit Verweis auf dessen Existenz abgelehnt würden.
Genau diese Wirkung ist in den vergangenen Jahren aber bereits einem prominenten ostdeutschen Erinnerungsprojekt vorgeworfen worden: der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Ihre Geschichte bietet ein wichtiges Beispiel für die Probleme, die mit an einen staatlichen Auftrag geknüpften Aufarbeitungsprojekten einhergehen können. Die Stiftung wurde 1998, ebenfalls aufgrund der Empfehlungen zweier von der Bundesregierung eingesetzter (Enquete-)Kommissionen, gegründet. Sie stellt seither Gelder zur Erforschung der DDR-Geschichte bereit, bindet diese aber aus Sicht ihrer Kritiker*innen auch an die Lesart, die ihr bereits im Namen eingeschrieben ist.
Sie hat so maßgeblich zu der oben beschriebenen, von vielen Ostdeutschen als zu eng empfundenen Ausrichtung der DDR-Geschichtsschreibung beigetragen. Der DDR-Bürgerrechtler und Historiker Thomas Klein hat im Herbst 2020 beschrieben, wie kleinere und prekärere nicht-staatliche Akteure der Aufarbeitung aus bürgerbewegten Kreisen, die andere Ansätze der Historisierung verfolgen hätten können und auch wollten, sich entweder in Antizipation „der Erwartungen der fördernden Einrichtung“ oder unter politischem Druck den Vorgaben dieses wichtigsten Geldgebers beugten.
Auch der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – eine der bekanntesten Stimmen der bisherigen DDR-Aufarbeitung und zeitweise Mitglied der Kommission – hat der Stiftung 2016 am Beispiel einer Buchproduktion "Geschichtspolitik" im Sinne einer Monopolisierung und Verstaatlichung der DDR-Forschung vorgeworfen. Problematisch ist hier also nicht der inhaltliche Fokus auf Repression und deren Opfer an sich, sondern dass dieser durch die privilegierte Stellung der Stiftung den Platz einer breiter gefächerten DDR-Aufarbeitung einnimmt. Die Bundesregierung und die mit der Planung des Zentrums Beauftragten sollten auf diese Vorerfahrungen achten und deutlicher als im vorliegenden Bericht erklären, wie man vergleichbaren Prozessen in Bezug auf das geplante Zentrum vorbeugen und eine diverse und kontroverse Debatte zur Aufarbeitung der Nachwende innerhalb und jenseits des geplanten Zentrums gewährleisten möchte.
Fazit: Von der Aufarbeitung in die Debatte
In einem Interview anlässlich seiner Amtseinsetzung 2017 lehnte der seinerzeitige Berliner Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Tom Sello, die Forderung nach einer Aufarbeitung der Verwerfungen der Nachwendezeit noch mit der Begründung ab, dies sei nicht Aufgabe eines Beauftragten, sondern Gegenstand der „politischen Auseinandersetzung“ und einer „demokratisch legitimierte[n] politische[n] Willensbildung und Entscheidungsfindung“. Doch was ist Aufarbeitung, wenn sie letzteres nicht ist? Und was heißt es, wenn nun doch auch die Geschichte ab 1990 zum Gegenstand vergleichbarer staatlicher Erinnerungspolitiken gemacht wird?
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Im Idealfall könnten neu ausgerichtete Fördermechanismen dazu beitragen, Ostdeutsche, aber auch OsteuropäerInnen endlich vom Objekt zum Subjekt von Geschichtsschreibung und Zukunftsplanung werden zu lassen. Forschung und kulturelle Programme könnten die Erfahrung von Revolutions- und Transformationserfahrungen zum Ausgangspunkt einer kritischen Befragung des krisenbehafteten Heute machen, insbesondere nachdem es nach der Zeitenwende 1989/90 im Februar 2022 mit dem Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine zu einer ganz neuen Geschichte(n) schreibenden Zeitenwende nach der Zeitenwende gekommen ist.
Um der Idee einer Einrichtung gerecht zu werden, die nah an den Lebenserfahrungen der Ostdeutschen und OsteuropäerInnen in all ihren Facetten angesiedelt wäre, sollte die Debatte zur Ausrichtung und Gestaltung eines solchen Zentrums allerdings nicht, wie aktuell geplant, nur von einer kleinen, vom Bundesinnenministerium „gelenkten“ eingesetzten Arbeitsgruppe, sondern von einer breiten Öffentlichkeit geführt werden. Dem Zentrum, das von nun an in Halle wachsen soll, eine Form zu geben, die ihrem inhaltlichen Fokus, der Transformationsleistung der Ostdeutschen und auch OsteuropäerInnen, entspräche, hieße, seine Planung und das Gespräch zu den damit verbundenen Wünschen und Befürchtungen möglichst öffentlich, möglichst ergebnisoffen und möglichst auch „von unten“ zu gestalten. Studiert man den Externer Link: Internetauftritt des geplanten Zukunftszentrums ist erfreulicherweise einiges davon mittlerweile in Gang.
Dieser Text versteht sich als Beitrag – auch Anregung – zu einem intensiven solchen Austausch über ein Zukunfts-Debattenzentrum, bei dem als Grundfrage auch bleibt: Warum entsteht es eigentlich erst jetzt mit so immensem Aufwand, mit voraussichtlicher Fertigstellung fast 40 Jahre nach der Vereinigung? Als Argumentationsbrücke mag da bislang nur helfen: Dann ist quasi die Zeitspanne vorüber, in der die erste Generation nach dem Mauerfall die Mitte ihrer Lebenserwartung erreicht hat und Halbzeitbilanz zieht: was hat mir meine Entwicklung bislang gebracht, was haben die Umstände erschwert oder ermöglicht? Und wie sieht die Zukunft voraussichtlich aus?
Die Diskussion wird vom Deutschlandarchiv weiterhin begleitet, Anfang Mai 2025 folgt hier ein Interview mit dem scheidenden Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider, über Details der bisherigen Planung.(hk)
Zitierweise: Elske Rosenfeld, „Die Zukunft liegt in Halle“, in: Deutschland Archiv, Erstfassung am 21.06.2021, zunächst unter dem Titel "Geschichtspolitik von oben", zuletzt ergänzt am 30.04.2025 von Holger Kulick. Link: www.bpb.de/334869. Weitere Beiträge zu diesem Thema werden nach und nach folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Elske Rosenfeld (geboren 1974 in Halle/S.) forscht als Künstlerin, Autorin und Kulturarbeiterin zur Geschichte der Dissidenz in Osteuropa und zu den Ereignissen von 1989/90. In ihrem aktuellen künstlerischen Forschungs- und Buchprojekt „A Vocabulary of Revolutionary Gestures” untersucht sie den Körper als Austragungsort und Archiv politischer Ereignisse.