"Die Mauer wurde durch den Westen errichtet"
Auszüge aus den Erinnerungen von Egon Krenz. Und zwei Kritiken.
Egon Krenz
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Der letzte Generalsekretär der SED hat seine Memoiren verfasst. Nachfolgend Ausschnitte aus dem zu Sommerbeginn 2022 erschienenen Buch, unter anderem über frühe ideologische Prägungen, Stalin, den Mauerbau, den Stasi-Spion im Kanzleramt Guillaume und auch über Russlands Krieg gegen die Ukraine. Im Anschluss zwei Buchkritiken - vom DDR-Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ("Geschichtsklitterungen") und vom Nachfolger von Egon Krenz als Vorsitzender der FDJ, Eberhard Aurich ("Plaudereien").
Persönliches
24. Dezember 1989. Das Wetter ist mies. Meine Stimmung auch. Zum ersten Mal erlebe ich Weihnachten ohne Arbeit, ohne Amt, ohne erkennbare Zukunft. Als ich nach der Bescherung und dem traditionellen Entenbraten in Gedanken versinke, höre ich die Hausklingel. Wer, verdammt, stört die Weihnachtsruhe? Widerwillig gehe ich zur Haustür. Am Gartentor im Majakowskiweg 9 in Berlin-Pankow steht ein Mann. »Krätschell«, ruft er. »Superintendent.« In einer Hand hält er eine Kerze, in der anderen ein Ge - schenk für mich: »Grundrechte des deutschen Volkes« aus der Revolution von 1848 – eine gute Grundlage für eine neue DDR-Verfassung, wird er später erklären, als er mir die Banderole überreicht.
Die Kerze hat er vermutlich bewusst ausgewählt. Sie ist rot. Er komme vom Gottesdienst, sagt er. Und er wolle mir Beistand leisten, in schwieriger Zeit.
Mir ist keineswegs nach Besuch zumute. Dass aber ein Pfarrer mir, einem Kommunisten, Beistand leisten will, macht mich denn doch neugierig. Ich bitte ihn ins Haus. Er, der Christ, der Kirchendiener, und ich, der Marxist, bis vor kurzem noch Parteidiener, beginnen ein Gespräch über Gott und die Welt. Und das am Heiligen Abend.
Familiäre Wurzeln
Mich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren hatte mir meine Mutter beigebracht. Nun, als ich mit mir und der Welt uneins war, als ich versuchte, Antworten zu finden, was über die DDR gekommen war und welche Verantwortung mir dabei zukam, erhielt ich »Post« aus Heidelberg. Er sei mein Onkel, behauptet ein mir unbekannter Mann. Sein Bruder Ernst wäre mein Vater. In Kolberg habe der eine Schneiderwerkstatt betrieben. 1943 sei er ums Leben gekommen. Jude sei er gewesen … Nichts von dem hatte meine Mutter mir je erzählt. Sie war 1975 verstorben. Ich konnte sie also nicht mehr fragen. Mich trieb nun der Gedanke um, in meinem Leben könne es doch etwas geben, von dem ich keine Ahnung hatte. .
Kriegsende
Am 8. Mai 1945 wurde auch in der sowjetisch besetzten Zone kein neues Volk geboren. Die Nazizeit und ihre Ideologie hatten ihre Spuren hinterlassen. Was einmal falsch im Kopf war, brauchte seine Zeit, um aus ihm wieder zu verschwinden. Aber: Der Staat, in dem ich groß geworden war, duldete keinen Antisemitismus. Die DDR war von Anfang an eine Barriere gegen die Verbreitung faschistischer Ideologie…. Als ich 1976 ins Politbüro gewählt wurde, war ein Jude mein Nachbar: Herrmann Axen. An warmen Sommertagen trug er mitunter ein kurzarmiges weißes Polohemd. Dann konnte ich seine ihm von der SS eingebrannte Häftlingsnummer auf dem Unterarm erkennen: 58787. Sie erinnert mich noch heute an seine Leidenszeit in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald. Axen teilte das Schicksal von Millionen Menschen, die einzig deshalb verfolgt, vertrieben und getötet wurden, weil sie von einer jüdischen Mutter geboren worden waren. Dass es dennoch gelegentlich Vorkommnisse mit Jugendlichen gab, die faschistisches Gedankengut offenbarten, hatte verschiedene Ursachen. Über kein Ärgernis aber sah der Staat hinweg. Das nimmt man heutzutage gern zum Anlass, der DDR einen »verordneten Antifaschismus« vorzuhalten. Ob »verordnet« oder nicht, ist hier nicht die Frage. Schon im Potsdamer Abkommen hatten die Alliierten dem deutschen Volk den Antifaschismus »verordnet«: Denazifierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. Sie nannten das die 4 D... Diese antinazistische Haltung wurde von Jahr zu Jahr stärker von den DDR-Bürgern verinnerlicht. Dass sich ihr Staat an das Potsdamer Abkommen hielt und die Bundesrepublik nicht, kann man der DDR nicht negativ ankreiden.
Prügel
Krenz Buchcover
Das Cover von Teil I der Krenz-Memoiren, das der ehemalige SED-Generalsekretär am 7. Juli 2022 in Berlin vorgestellt hat. Das Buch ist erschienen in der Edition Ost der Eulenspiegel Verlagsgruppe Berlin. Den vermeintlichen Aufkleber "SPIEGEL Bestsellerautor" hat der Verlag schon vor Erscheinen des Buches auf das Cover gedruckt.
Das Cover von Teil I der Krenz-Memoiren, das der ehemalige SED-Generalsekretär am 7. Juli 2022 in Berlin vorgestellt hat. Das Buch ist erschienen in der Edition Ost der Eulenspiegel Verlagsgruppe Berlin. Den vermeintlichen Aufkleber "SPIEGEL Bestsellerautor" hat der Verlag schon vor Erscheinen des Buches auf das Cover gedruckt.
Wegen des Krieges wurde ich gleich drei Mal eingeschult: erst in Kolberg, dann 1944 in Damgarten und schließlich im Herbst 1945 endgültig. Mit acht Jahren saß ich als Erstklässler in einer der kleinen Bänke. In Erinnerung blieb, dass ich zwei Mal mit dem Rohrstock Bekanntschaft schloss: für Schwatzen im Unterricht setzte es Hiebe auf die ausgestreckte rechte Hand. Das war sehr schmerzhaft. Froh war ich daher, dass bei meiner dritten Einschulung im Herbst 1945 der Rektor, so nannte sich der Schulleiter damals noch, verkündete: Der Russenkommandant hat befohlen, dass nicht mehr geprügelt werden darf. Das war das erste Gute, was ich von oder über einen Russen hörte. Die Mitteilung scheint mir deshalb erwähnenswert, weil in der Bundesrepublik Deutschland die Prügelstrafe erst 1973 offziell abgeschafft wurde.
Stalin
In Erinnerung geblieben aus jener Zeit ist mir auch ein riesiges Plakat, das die Besatzungsmacht überall kleben ließ. Es hatte nichts mit Vergeltung, sondern viel mit Zukunft zu tun. Auf ihm stand: »Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt bestehen.« Der, der das postuliert hatte, hieß Josef Stalin. Zum ersten Mal sah ich sein Bild und hörte seinen Namen. Dass er in den Folgejahren einen enormen Einfluss auf mein Denken und Handeln, auf mein bewusstes Leben ausüben würde, ahnte ich damals nicht.
Nachkrieg
Bald gab es wieder Parteien. So auch die CDU. Eines Tages sprach mich ihr Ortvorsitzender namens Bayer an. Ob ich bereit sei, Botengänge für ihn zu machen, fragte er. Fünf Mark monatlich würde ich verdienen. Für mich damals ein Vermögen. Ich übernahm die Aufgabe, trug Einladungen zu Versammlungen aus, sammelte Spenden, kassierte Mitgliedsbeiträge, stellte die Stühle zurecht, wenn die CDU-Gruppe im Hotel »Deutsches Haus« ihre Zusammenkünfte abhielt. Am 20. Oktober 1946 sollte der Landtag gewählt werden. Die ein halbes Jahr zuvor aus KPD und SPD gebildete SED stand auf Listenplatz 1. Bayer nahm mich zur Seite. »Hast du zuverlässige Freun- de?«, fragte er. Als ich bejahte, zeigte er mir einen Topf mit Kleister und Wahlplakate der CDU. »Die kannst du dir nach Einbruch der Dunkelheit holen. Ihr klebt über jedes SED-Plakat den Streifen: ›Wählt CDU!‹« Wir taten es und wurden dabei erwischt. Als ich Bayer über mein Unglück berichten wollte, ließ er mich nicht einmal in sein Büro. Er bestritt, mich zum Überkleben der Plakate angestiftet zu haben. So viel Verlogenheit hatte ich noch nicht erlebt….
SED
Der Mann, der mich beim Plakatkleben für die CDU erwischt hatte, war der Vater eines meiner Schulfreunde. Ich hatte ihn schon auf Versammlungen gesehen, die im »Haus der Einheit« stattfanden. Dort war im Frühjahr die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands in Damgarten gegründet worden. Als sie den Zusammenschluss feierten, waren die Leute ausgelassen und froh: Jetzt haben wir die Einheit der Arbeiterbewegung, jetzt wird alles besser, sagten sie. Endlich sei der Bruderkrieg vorbei. So habe ich die Stimmung in Erinnerung. Wenn später aus dem Westen kam, KPD und SPD seien »zwangsvereinigt« worden, habe ich das immer als verzerrte Wahrnehmung empfunden. In Damgarten habe ich von Zwang nichts bemerkt….
Regelmäßig las ich nun auch Schulungshefte der SED, die im Haus der Einheit kostenlos zu erhalten waren. Eine Broschüre beschrieb die Geschichte des 1. Mai. Ein gewisser Wolfgang Leonhard hatte sie verfasst. Sie ist mir auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil die Sprache einfach und der Inhalt verständlich waren. Später hieß es, dass der Autor in den Westen geflüchtet sei. Dort veröffentlichte er das Buch »Die Revolution entlässt ihre Kinder«. Ein Briefpartner aus Bremen schickte es mir. Ich war inzwischen Lehrerstudent in Putbus. Er lobte Leonhard über Gebühr und bat mich, ihm meine Meinung über das Buch zu schreiben. Ich las es binnen weniger Tage mit wachsendem Groll auf den Autor. Mir missfiel, dass ein Mann, der mich einst durch seine Schriften in meinem Denken beeinflusst hatte, über Nacht das Gegenteil von dem behauptete, was er jahrelang zuvor propagiert hatte. Fast ein halbes Jahrhundert später sollte dieser Wolfgang Leonhard, inzwischen Professor und in der BRD als »Kremlastrologe« regelmäßig zitiert, vor meiner Haustür in Berlin- Pankow stehen. Einen Dialog über die gewesene DDR wolle er mit mir führen, sagte er. Ich zögerte. Was sollte ich mit jemandem besprechen, der mich als Kind politisch mitgeprägt hatte, dann aber zum Klassenfeind überlief ? Vermutlich wollte er im Alter genießen, dass er nun zu den vermeintlichen Siegern gehörte. Ich zögerte, ließ mich dann auf ein Treffen mit ihm ein… Solche Gespräche waren für mich eine wichtige Erfahrung in Sachen politischer Toleranz. In den vierziger und fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich erst begann, mich politisch zu betätigen, waren mir solche Differenzierungen noch fremd.
Selbstverständnis
Seit ich selbst politischen Einfluss auf andere nahm, fragte ich mich oft, wo endet für Politiker oder generell für Personen der Öffentlichkeit die Verantwortung für ihr Wort, mit dem sie auf andere wirken? Können sie nach persönlichen Enttäuschungen oder politischen Niederlagen ihr Fähnchen einfach nach dem Wind drehen? Für mich habe ich entschieden: Nein. Als Ideengeber für andere kann ich mich nicht plötzlich um die eigene Achse drehen und verkünden: War halt nur so eine Idee, entschuldigt bitte! Wer auf andere wirken will, muss für seine Überzeugung auch Verantwortung übernehmen und darf, wenn es mal schwierig wird, die Flinte nicht ins Korn werfen.
Mauerbau West
Im Potsdamer Abkommen hatten die Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkriegs vereinbart, Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu behandeln. Doch am 18. Juni 1948 um 18 Uhr verkündeten die Militärgouverneure der USA, Großbritanniens und Frankreichs in ihren Zonen die Einführung einer neuen Währung. Sie dehnten den Geldumtausch auch auf Westberlin aus. Damit wurde die deutsche Hauptstadt nun endgültig in zwei Teile gerissen. Die Westsektoren erhielten die D-Mark und im östlichen Teil war die – in Westberlin nun wertlose – Reichsmark noch weiter offzielles Zahlungsmittel. Zwei Währungen in Deutschland und Berlin bedeutete die Spaltung. Der ökonomische Nachteil für die Ostdeutschen war gewaltig. Die sowjetische Besatzungsmacht musste Gegenmaßnahmen einleiten... Ich wusste auch nicht, dass die Sowjetunion in diesem Zusammenhang das erste Mal von einer »Mauer« sprach. Die separate Währung errichte »eine Mauer zwischen dem Westteil Deutschlands und dem übrigen Deutschland«, hatte es in einer am 24. Juni 1948 vom sowjetischen Außenministerium verabschiedeten Erklärung geheißen. Daher wurde nicht am 13. August 1961 »die Mauer« errichtet. Das erfolgte bereits dreizehn Jahre zuvor, am 18. Juni 1948. Und nicht durch den Osten, sondern durch den Westen. Die Einführung der D-Mark markierte das Datum der eigentlichen Spaltung Deutschlands und seiner Hauptstadt Berlin. 1961 wurde durch die Warschauer Vertragsstaaten lediglich befestigt, wofür die Westmächte 1948 den Grundstein gelegt hatten.
Mauerbau Ost
…Es gibt keinen Grund, den Bau der Mauer schönzureden. Sie war sicher das hässlichste der zeitgenössischen Bauwerke, aber leider auch das notwendigste, erzwungen von den historischen Umständen. Unbestritten: Die Politik der Spaltung Deutschlands und Berlins brachte für viele Menschen Tragik und Leid. Familien wurden getrennt, Menschen getötet oder verletzt. Jeder Tote und jeder Verletzte waren einer zu viel. Wohl auch deshalb sprachen fünfzig Jahre später führende Politiker der Partei Die Linke davon, dass »kein Ideal und kein höherer Zweck« die Mauer und ihre negativen Folgen rechtfertigen würden. Ein schöner Gedanke. Ein sehr menschlicher. Ich würde ihm gern zustimmen. Aber: Er berücksichtigt nicht den Widerstand des anderen deutschen Staates. Er blendet aus, dass 1961 die Alternative zum Mauerbau Krieg gewesen wäre, der ein viel größeres Leid über unser Volk gebracht hätte. Bundeskanzler Adenauer verfolgte eine Politik, die er in einem Interview mit dem Rheinischen Merkur 1952 klar formuliert hatte: »Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung. Das Wort Wiedervereinigung soll endlich verschwinden. Es hat schon zu viel Unheil gebracht. Befreiung ist die Parole.«
Stalinnote
Irgendwann im März 1952 veröffentlichte das »Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« eine sowjetische Note zu Deutschland. Im Westen wurde sie verkürzt Stalin-Note genannt. Darin ging es um einen Friedensvertrag mit Deutschland. Ich notierte mir die Stichworte: deutsche Einheit, Abzug aller Besatzungstruppen, keine Beschränkungen für die Friedenswirtschaft, Festlegung der Grenzen auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens, keine Beteiligung an Militärbündnissen, Bildung einer gesamtdeutschen Regierung, die aus freien Wahlen hervorgehen sollte … Logisch und vernünftig, dachte ich. Unklug empfand ich dagegen, was Adenauer im »Bulletin« am 5. März 1952 dazu gesagt hatte: Man sei angetreten, um »nicht nur die Sowjetzone, sondern das ganze versklavte Europa östlich des Eisernen Vorhangs zu befreien«. In meiner Umgebung kannte ich niemanden, der sich »versklavt« fühlte. Auch niemanden, der von Adenauer »befreit« werden wollte.
Nach der Absage des Westens lud Stalin Pieck, Grotewohl und Ulbricht zu sich nach Moskau ein. Stalin eröffnete die Aussprache mit dem Gedanken: Der westdeutsche Separatstaat solle »eine gebührende Antwort« erhalten. Adenauer müsse spüren, dass die von ihm betriebene Spaltung zum Schaden der Deutschen sei. Die deutsche Grenze dürfe nie wieder so dicht an der sowjetischen liegen, wie an jenem 22. Juni 1941, als Hitlerdeutschland sie überschritt. »Betrachten Sie deshalb«, habe Stalin verlangt, »die bisherige Demarkationslinie zu Westdeutschland als gefährliche, stark zu sichernde Grenze«. Die Sowjetunion werde ihre militärstrategische Verteidigungslinie von Oder und Neiße an Elbe und Werra verlegen.
Und: Stalin forderte von der DDR-Führung, die Kasernierte Volkspolizei in eine nationale Streitkraft umzubauen und eine wirksame Grenzsicherung vorzunehmen. Pieck, so Honecker mir gegenüber, habe bei der Auswertung im SED-Politbüro gesagt: »Die pazifistische Periode ist nun vorbei. Wir bauen jetzt eigene Streitkräfte auf. Das belastet unseren Staatshaushalt beträchtlich.« Als Strategie habe Stalin angeregt, in der DDR den Sozialismus aufzubauen. Das sei mündlich vereinbart worden. Um sicher zu gehen, dass man sich auch richtig verstanden habe, fasste Ulbricht die Ergebnisse der Aussprache in einem Brief am 2. Juli 1952 an Stalin zusammen.
Erfurt
Zum Jahreswechsel 1969/70 schien das Verhältnis zwischen Ulbricht und Honecker wieder einigermaßen zu stimmen. Dies änderte sich schon bald mit dem Treffen von Stoph und Brandt in Erfurt. Dieses Treffen der beiden deutschen Regierungschefs nannte Honecker eine »gesamtdeutsche Dusselei« – für Ulbricht war es der »Anfang der Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik«. Am 19. März 1970, ich feierte mit Freunden meinen 33. Geburtstag, reichte mir meine Sekretärin eine Eilmeldung von ADN. Bei der Ankunft Brandts in Erfurt, hieß es dort, hätten Bürger »Willy, Willy, Willy« und »Willy ans Fenster« gerufen. Natürlich war uns bewusst, dass Brandt auch in der DDR Sympathisanten hatte. Doch wir zweifelten an der Organisationsfähigkeit der Erfurter Staats- und Parteiorgane. Wir besaßen doch durchaus Erfahrungen bei der Organisation von Treffen und großen Zusammenkünften. Dass man in Erfurt nicht in der Lage gewesen sein sollte, auf dem Hotelvorplatz ein »staatstreues« Publikum zu organisieren, das die Brandt-Jubler hätte übertönen können verstanden wir nicht. Erfurt war ja auch ausgewählt worden, weil der Weg des Bundeskanzlers vom Zug bis zum Hotel sehr kurz war und man diesen Kräften keine Entfaltungsmöglichkeiten geben wollte.
Man musste schon sehr naiv sein um anzunehmen, dass die Beifallsbekundungen für den westdeutschen Gast spontan und die Rufer zufällig dort gewesen wären. Ulbricht war es nicht und glaubte an eine Provokation aus den eigenen Reihen. Zumal mehr als zweihundert Studenten der Bezirksparteischule und etwa fünfhundert operative Einsatzkräfte der Staatsicherheit auf dem Platz waren. Wer hatte da provoziert? Ulbricht verlangte Aufklärung. Das Sekretariat des ZK prüfte auf seine Weisung hin in zwei Sitzungen, welche Umstände zu den »ernsten politischen Vorkommnissen am 19. 3. 1970 in der Zeit von 9.30 bis 10.40 auf dem Bahnhofsvorplatz führten«. Die Minister für Staatssicherheit und des Innern wiesen jede Verantwortung von sich. Wer sie hatte, sagten auch sie aber nicht. Später erfuhr ich von Mielkes Stellvertreter, Bruno Beater, dass die »Freunde aus Karlshorst« den Zwischenfall gewollt hätten. In Karlshorst hatte die Vertretung des KGB in der DDR ihren Sitz. Sie wünschte augenscheinlich Ulbricht eine Lektion zu erteilen. Die Botschaft hieß: Die Zeit ist nicht reif für »gesamtdeutsche Dusseleien«. Und: Nicht die DDR, sondern die Sowjetunion ist für Deutschland als Ganzes zuständig. Es lag also auf der Hand, dass die Initiative für diese Aktion in Erfurt von Moskau ausgegangen war.Anmerkung der Redaktion: Mehrere Sichtweisen von Krenz aus seinem Buch stoßen bei Historikern auf Widerspruch, auch seine Passage über Erfurt. Vgl. hierzu Jan Schönfelder,
Im April 1974 fand in Moskau der Kongress des sowjetischen Jugendverbandes Komsomol statt. Dort traf ich auch Wolfgang Roth, den Ex-Bundesvorsitzenden der Jusos, den ich seit den Weltfestspielen im letzten Sommer persönlich kannte. Auf dem Berliner Bebelplatz hatte er eine viel beachtete Rede über die Entspannungspolitik seines Parteivorsitzenden Willy Brandt gehalten. Nun freute ich mich auf das Wiedersehen, wir hatten uns zu einem Essen am 25. April verabredet. Doch Roth kam nicht. Das war ungewöhnlich für einen Mann, der als verlässlich galt. Als wir uns Stunden später auf einem Empfang begegneten, wirkte er erregt. »Herr Krenz«, redete er mich an, obwohl wir uns bislang geduzt hatten, »Sie sind verantwortlich, wenn die Entspannungspolitik Schaden nimmt«. Er redete von Spionage und Diffamierung Willy Brandts. Nur allmählich begriff ich, dass er offenkundig etwas wusste, wovon ich keine Ahnung hatte. Dann erfuhr ich: In der bundesdeutschen Botschaft in Moskau war er informiert worden, dass Günter Guillaume, Brandts persönlicher Referent, in Bonn als DDR-Spion verhaftet worden war. »Wie konnte man überhaupt auf die Idee kommen, einen Mann wie Brandt zu bespitzeln?«, empörte sich der Chef der Jungsozialisten. Unter solchen Bedingungen würden die Jusos ihre Beziehungen zur FDJ beenden.
Noch wusste ich nichts von der Existenz eines DDR-Aufklärers im Bundeskanzleramt. Ich versuchte dies durch eine legere Bemerkung zu kaschieren: »Wolfgang«, sagte ich, »für die Personalpolitik der SPD seid ihr doch selbst verantwortlich. Wenn ihr unseren Mann als persönlichen Referenten von Brandt ausgewählt habt, dann war dies doch eure Entscheidung, nicht die der DDR.« Der Zufall wollte es, dass wir mit dem gleichen Flugzeug von Moskau nach Berlin flogen. Roth überschüttete mich weiter mit Vorwürfen. Er schloss nicht aus, dass Brandt über die Affäre stolpern könnte. Unser Abschied in Berlin war sehr kühl. Nur zwölf Stunden später klingelte in meinem Büro im FDJZentralrat der WTsch-Apparat des internen, abhörsicheren Telefonnetzes, an das in der DDR etwa achtzig Personen an - geschlossen waren. »Du bist gestern Abend mit Wolfgang Roth aus Moskau gekommen. Was hat er zu Guillaume gesagt?«, fragte mich Honecker. Ich erkannte ihn an seiner Stimme, denn seinen Namen hatte er nicht genannt. Detailliert berichtete ich von Roths Bestürzung. Wobei ich vermutete, dass Honecker gewusst hatte, dass die DDR in Brandts Vorzimmer saß, und darauf auch stolz war. Honeckers Reaktion verblüffe mich. »Recht hat der Roth! Da hat uns Mischa« – womit er den Chef unserer Auslandsaufklärung Markus Wolf meinte – »einen Bärendienst erwiesen. 238 239 Selbst Mielke will nichts gewusst haben. Ich glaube ihm das aber nicht.« Das mit dem Glauben war so eine Sache. Vor allem, wenn man es mit Geheimdiensten zu tun hat. Bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, klingelte mein Telefon erneut. Diesmal war Erich Mielke dran. »Was wollte Honecker von dir?« Eigentlich hätte ich fragen sollen: »Was geht dich das an?« Und: »Woher weißt du das überhaupt?« Doch ich entschloss mich zur Sachlichkeit. Ich gab den Inhalt des Gesprächs wieder, ohne jedoch zu erwähnen, was Honecker über ihn und seinen Stellvertreter Markus Wolf gesagt hatte. Mielke hatte offensichtlich Angst vor Honeckers Tadel wegen des Bonner Betriebsunfalls und bat mich, ihn zu informieren, wenn ich Neues erfahre. Wie sich die Dinge entwickelten, ist allgemein bekannt: Willy Brandt trat am 5. Mai 1974 als Bundeskanzler zurück. Breshnew kritisierte dafür Honecker. Honecker war deshalb sauer auf Wolf und Mielke.
In einem Punkt aber waren sich alle einig: Guillaume war nicht die Ursache, sondern nur der Anlass für den Rücktritt Willy Brandts. Irgendwann fragte mich Honecker: »Hast du mit jemandem darüber gesprochen, was ich dir am Telefon über Mielke und Wolf gesagt habe?« Als ich verneinte, meinte er: »Belassen wir es dabei. An Brandts Sturz sind andere schuld: Schmidt und Genscher.« Aus internen Quellen, so Honecker, wisse er inzwischen, dass Innenminister Genscher Informationen über Guillaume gesammelt und so lange zurückgehalten habe, bis diese Brandt schaden mussten. Die SPD- und FDP-Spitze hätten schon lange daran gearbeitet, Brandt als Kanzler abzusägen. Er war ihnen zu zahm.
Der Unwille des Westens, die Sicherheitsinteressen der anderen Seite oder deren historische Erfahrungen zu bedenken, begleitet mich seither. Ich erinnerte mich beim Schreiben in diesem zeitlichen Kontext daran, dass ich damals eine ganze Reihe sowjetischer Bücher las, darunter Alexander Fadejews »Die junge Garde«. Obwohl es ein ziemlich dickes Buch war, habe ich es in wenigen Tagen und Nächten regelrecht verschlungen. Höchst spannend wurde darin beschrieben, wie ein sechzehnjähriger Komsomolze viele Gleichgesinnte im ukrainischen Donbass um sich scharte und mit ihnen gegen die faschistischen Okkupanten kämpfte. Etwa vier Monate setzten sie sich mutig zur Wehr, geführt vom tapferen Oleg Koschewoi und in Erwartung, dass die Rote Armee bald Krasnodon befreien würde. Die Stadt im Oblast Lugansk wurde im Januar 1943 auch befreit, doch vier Wochen zuvor war die »Junge Garde« durch Verrat aufgeflogen. Von den 103 tapferen Komsomolzen überlebten nur acht, Koschewois verstümmelten Leichnam fand man erst im März …
Vierzig Jahre später, im Herbst 1983, fand in der Ukraine ein deutsch-sowjetisches Jugendfestival statt. Die Mutter von Oleg Koschewoi lud unseren Fliegerkosmonauten Sigmund Jähn und mich zu sich nach Krasnodon im Donbass ein. Ein wenig aufgeregt waren wir beide schon, denn Siggi trug eine deutsche Uniform. Zwar die eines Oberst der Nationalen Volksarmee der DDR, dennoch. Wie würde diese hochbetagte Frau darauf reagieren? Es waren schließlich Deutsche, die ihren Sohn gefoltert, verstümmelt und ermordet hatten. Als wir in ihre Wohnung kamen, umarmte sie uns. Stellvertretend für ihren Sohn, wie sie sagte. Sie hatte gehört, dass der Name Oleg Koschewoi in der DDR bekannt sei, dass Jugendbrigaden, Schulen, Straßen und Betriebe seinen Namen trügen. Uns liefen die Tränen über die Wangen, wir waren gerührt von der Warmherzigkeit dieser einfachen russischen Frau.
Dieses Bild kam mir Jahrzehnte später wieder vor Augen, als Ukrainer und Russen, die jahrzehntelang friedlich miteinander gelebt hatten, in dieser Region plötzlich aneinandergerieten. In Kiew hatten Kräfte, vom Westen unterstützt, die Macht an sich gerissen. Sie betrachteten die Russen in der Ukraine als Fremdkörper und unternahmen alles, sie ihrer Sprache und Kultur zu berauben, sie zu bevormunden und zu unterdrücken. Ukrainische Nationalisten und Kollaborateure deutscher Faschisten wurden jetzt gefeiert, allerorts formierten sich Naziorganisationen, der Rechte Sektor und wie sie sich nannten breitete sich überall im Lande aus.
Die neue Macht schleifte Denkmale sowjetischer Befreier und errichtete an ihrer Stelle Monumente für Verbrecher wie Stepan Bandera oder Roman Schuchewytsch. Diese galten fortan als »Nationalhelden«. Die »Banderisten« marschierten einst mit ihren Bataillonen »Nachtigall« und »Roland« an der Seite der Wehrmacht gegen die Sowjetunion, und die »Melnykisten«, angeführt von Andrij Melnyk, stellten seinerzeit die Freiwilligen für die Division »Galizien« der Waffen-SS. Sie wollten die Ukraine von Juden, Russen und Polen säubern. Diese Mörder hob die neue Macht jetzt auf den Schild. Der Kiewer Stadtrat unter Bürgermeister Klitschko beispielsweise beschloss 2017, den Watutin-Prospekt in Schuchewytsch-Prospekt umzubenennen. Armeegeneral Watutin befehligte die 1. Ukrainische Front der Roten Armee, die im November 1943 Kiew von den deutschen Besatzern befreite. Watutin wurde von der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) unter Führung von Roman Schuchewytsch ermordet. Der Sohn von Schuchewytsch sitzt heute im ukrainischen Parlament … Ich bin mir sicher: Koschewois Mutter, lebte sie noch, würde die Machthaber in Kiew fragen: »Schämt ihr euch nicht, den Widerstand der Ukrainer gegen den deutschen Faschismus mit dem Erbe solcher Faschisten wie Bandera und Schuchewytsch zu überschreiben?«
Alle Auszüge stammen aus dem Buch: Egon Krenz, "Aufbruch und Aufstieg", Berlin 2022. Zitierweise: Egon Krenz, "Die Mauer wurde durch den Westen errichtet", in: Deutschland Archiv, 27.06.2022, Link: www.bpb.de/509805. Veröffentlichte Texte im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Eine DA-Rezension finden Sie unter folgendem Externer Link: Link.
Egon Krenz wurde am 17. Oktober 1989 Nachfolger von Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der DDR. Am 6. Dezember 1989 trat er von allen Funktionen zurück. Zuvor leitete er von 1974 bis 1983 die DDR-Jugendbewegung Freie Deutsche Jugend (FDJ). Seit 1973 war er ZK-Mitglied und ab 1983 Mitglied im Politbüro der SED.