Gesundheit im Dienste der Produktion?
Das betriebliche Gesundheitswesen und der Arbeitsschutz im Uranbergbau der DDR
Juliane Schütterle
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Beim Aufbau des Gesundheitssystems der Wismut AG hatten die Funktionsträger des Uranbetriebs nicht nur das Wohl ihrer Beschäftigten im Blick. Bemühungen um Unfall- und Krankheitsreduzierung oder die Einrichtung von Schonarbeitsplätzen standen gleichzeitig im Dienste des sozialistischen Wettbewerbs. Doch Leistungsdruck und Arbeitssicherheit ließen sich nicht immer vereinbaren.
Einleitung
Plakat zur Werbung von Arbeitskräften: "Erz für den Aufbau. Deine Arbeit im Erzbergbau sichert die vorzeitige Planerfüllung und schafft Dir bessere Lebensgrundlagen!", Dezember 1950.
Die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut war einer der größten Betriebe in der DDR und einer der außergewöhnlichsten. Über 40 Jahre lang, von 1947 bis 1990, produzierte und lieferte er Uranerz für die sowjetische Atomindustrie, beschäftigte in dieser Zeit ca. eine halbe Million Menschen und gehörte zu den Sonderversorgungsbereichen in der Volkswirtschaft der DDR. Die Kumpel erhielten nicht nur die höchsten Löhne in der Industriearbeiterschaft der Republik, sie kauften auch in ihren eigenen Läden und Kaufhäusern, besuchten betriebseigene Kulturhäuser, Gaststätten und Ferienheime – und nahmen ein betriebliches Gesundheitswesen in Anspruch, das mit seinen zahlreichen Sanatorien, Kliniken und Kurheimen eine engmaschige medizinische Versorgung bot.
Da der Bergmannsberuf eine höhere Gefahr für Leib und Leben mit sich bringt als andere Professionen, erscheint ein gut ausgestattetes Gesundheitssystem nur folgerichtig. Doch in der gesamten auf "Betriebszentriertheit" ausgerichteten Ideologie der SED-Führung ging es auch um eine Medizin im Sinne der Erhaltung der Produktivkraft und somit einer Indienststellung des Gesundheitswesens in die Produktion. Besonders sinnfällig aber wird dies in einem Unternehmen, das stärker als andere Betriebe auf Leistung und Erfolg ausgerichtet war – lieferte es doch "Erz für den Frieden" und die sowjetischen "Freunde".
1.
Maßgeblich für den Aufbau des betrieblichen Gesundheitswesens in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war der SMAD-Befehl Nr. 234 vom 9. Oktober 1947 "zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten in der Industrie und im Verkehrswesen". Mit diesem Befehl setzte die "Sowjetisierung des Gesundheitswesens" ein. Mobilisierung und Leistungssteigerung der "Werktätigen" prägten den weiteren Ausbau der medizinischen Strukturen. Im Laufe eines Jahres wurden deshalb in der gesamten Besatzungszone beachtliche Fortschritte beim Bau von medizinischen Einrichtungen gemacht: Hatte es 1947 gerade einmal vier Polikliniken und 681 Werksärzte bzw. Sanitätsstellen auf dem Gebiet der SBZ gegeben, waren es 1948 bereits 27 Polikliniken sowie 1.635 Ambulanzen und Sanitätsstellen.
In Anlehnung an den Erlass der Sowjetischen Militäradministration ordnete die Generaldirektion der Wismut AG die Verbesserung des Arbeitsschutzes mit ihrem eigenen Befehl Nr. 239 von 1947 an. Darin wurde nicht nur die Ausgabe guten Werkzeugs und wetterfester Arbeitskleidung geregelt, sondern auch der Bau dreier Polikliniken und mehrerer ärztlicher Stützpunkte, die die bereits existierenden Betriebsambulatorien ersetzen sollten. Hatte das betriebliche Gesundheitswesen zunächst ausschließlich in der Hand der sowjetischen Generaldirektion gelegen, wurde es 1950 der Sozialversicherungskasse (SVK) der Wismut unterstellt, welche wiederum zur im selben Jahr gegründeten Industriegewerkschaft Wismut gehörte. Das erste Bergarbeiterkrankenhaus (BAK) entstand in Schneeberg, bis 1949 kamen fünf weitere Krankenhäuser und sechs Sanatorien hinzu. Zu den ersten Neubauten gehörte das BAK Erlabrunn. Das beeindruckende Gebäude in stalinistischer Architektur besaß über 1.200 Betten und wurde, nach nur einem Jahr Bauzeit, am symbolträchtigen Datum des 8. Mai 1951 eröffnet. 18 Monate später verfügte die SVK über ein weitläufiges Netz von Gesundheits- und Erholungseinrichtungen, das 15 Polikliniken, 13 Krankenhäuser, vier Nachtsanatorien, vier Sanatorien sowie ein Prophylaktorium umfasste. Die ärztliche und medizinische Versorgung konnte nahezu von Anfang an als gut bezeichnet werden. 1953 kam ein Arzt auf 619 Beschäftigte – im staatlichen Gesundheitswesen der DDR hingegen wurden 1952 ca. 1.300 Menschen von einem Mediziner betreut.
Trotz der frühzeitigen Weichenstellungen für den Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens konnte bis in die frühen Fünfzigerjahre hinein von einem wirksamen Arbeits- und Gesundheitsschutz keine Rede sein. Es mangelte an Material und Werkzeug, das Gestein wurde in frühneuzeitlicher Manier mit Hammer und Schlägel abgebaut, die Bewetterung der oftmals nur provisorisch ausgebauten Gänge und Sohlen war schlecht. Aus Mangel an Hunten oder adäquaten Fördermaschinen wurde das Erz am Anfang sogar im Rucksack aus dem Schacht getragen. Da bis Anfang der Fünfzigerjahre trocken gebohrt wurde, war die Staubbelastung zunächst immens. Erst 1951 begann die regelmäßige Ausgabe kostenloser Arbeitskleidung und Körperschutzmittel, wie zum Beispiel Staubschutzmasken. Hinzu kamen, unter dem Rekrutierungsdruck in den Gründungsjahren, die nachlässigen Tauglichkeitsprüfungen. So wurden selbst Menschen mit Magengeschwüren oder Knochenbrüchen zur Arbeit tauglich befunden. Andererseits gab es viele Menschen, die von den Vergünstigungen und Zusatzkarten des Uranbergbaus angelockt wurden und ihre Leiden den untersuchenden Ärzten verschwiegen.
In den frühen Fünfzigerjahren vollzog sich eine Reihe von Neuerungen in der medizinischen Betreuung, die auf ein gewachsenes Bewusstsein für Prävention und Behandlung arbeitsbedingter Krankheiten hindeuten. 1952 wurde bei der SVK eine Abteilung Hygiene gebildet, die einen Hygieneaufseher in jedes Objekt entsandte. Im selben Jahr wurden sowohl der Mobile Röntgenzug als auch die Silikosezentralstelle Erzbergbau ins Leben gerufen. Schließlich begannen Ärzte und Gewerkschaftsfunktionäre zu dieser Zeit über den Umgang mit berufserkrankten und bergbauuntauglichen Beschäftigten und deren Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess nachzudenken. 1953 richtete die SVK Ärztekommissionen ein, die nicht nur eine beratende Funktion gegenüber den Erkrankten inne hatten, sondern gleichzeitig gegen "Arbeitsbummelantentum" und "Krankfeiern" zu Felde zogen.
3.
Das betriebliche Gesundheitswesen der SBZ/DDR sah sich von Anfang an im Dienste von Planerfüllung und Leistungssteigerung. Dafür sprach, dass der Betriebsarzt der "Arzt des Gesunden" sein sollte, Arbeitsschutz wurde als "Pflege und Förderung der Arbeitskraft" verstanden. So betonte man in der Wismut beispielsweise die leistungsmobilisierende Funktion der Schachtambulatorien. Ihre Arbeit bestand nicht vorrangig in der Behandlung und Betreuung der Beschäftigten, sondern diente "der ständigen Erhöhung des Arbeitsvermögens der Werktätigen". Eine ähnlich pragmatische Institution war das Nachtsanatorium. Hier konnten sich Beschäftigte während des Arbeitsprozesses einem Erholungsaufenthalt mit medizinischer Betreuung unterziehen: Nach Schichtende verbrachten sie die Nacht im Sanatorium, am nächsten Morgen gingen sie von dort wieder zur Arbeit. Das war bis zu vier Wochen lang möglich. Das erste Nachtsanatorium entstand 1950 in Niederschlema, und anfangs wurden ganze Brigaden zur Kollektiv-Erholung in die Kliniken eingewiesen. Denn die Einrichtungen dienten nicht nur der Erhaltung der Arbeitskraft, sondern sollten auch die angespannten Wohnverhältnisse im von Urankumpels "überfüllten" Erzgebirge entschärfen. Ende der Fünfzigerjahre wurden sie allmählich abgeschafft.
Planerfüllung und Leistungsanstieg konnten nicht immer mit den Arbeitsschutzbestimmungen korrespondieren. Die Aktivistenbewegung und die Arbeit mit Bestzeitnormativen ("Seifert-Methode" und "Kowaljow-Methode") waren Instrumente der Arbeitsmobilisierung in der gesamten SBZ/DDR, die zur Intensivierung der Leistung beitragen sollten. Die Einhaltung des Arbeitsschutzes war unter diesem Druck nicht immer gewährleistet, was zwangsläufig zu Unfällen, Krankheiten und Arbeitsunfähigkeit führte. Überdies bedingten mangelnde Qualifikation der Beschäftigten und unzureichende Sicherheitsbestimmungen ein hohes Unfallvorkommen vor allem in den frühen Jahren des Uranbergbaus.
Unfall- und Krankenstatistiken existieren erst ab 1955, Angaben für die Zeit davor werden in den Moskauer Archiven vermutet. Eine interne Recherche von 1964 wurde aus Geheimhaltungsgründen vernichtet, die Autoren der Studie hatten 376 tödliche Unfälle für den Zeitraum 1949–1964 geschätzt. Die Verfasser der "Wismut-Chronik" ermittelten eine Gesamtzahl von ca. 800 Toten in über 40 Jahren, Berechnungen der Autorin aus den Unterlagen von SED, Gewerkschaft und Unternehmensleitung ergaben aber, dass allein im Zeitraum 1949–1955 mehr als 900 Tote zu beklagen waren. Doch auch Partei und Gewerkschaft vermochten die Höhe der tödlichen und schweren Unfälle der ersten Jahre nur zu schätzen. Hinzu kommt, dass lediglich Unfälle mit sofortiger Todesfolge registriert wurden. Starb der Verunglückte erst 24 Stunden später, so ging das Vorkommnis lediglich als schwerer Unfall in die Statistik ein.
Noch 1971/72 lag die Gesamtzahl der Arbeitsunfälle bei ca. 2.000. Relativ sei damit der niedrigste Unfallstand seit 20 Jahren erreicht worden, hatte die Abteilung Arbeitsschutz bei der Gewerkschaft ermittelt. Dieser Erfolg durfte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der schweren und tödlichen Unfälle von 1971 auf 1972 zugenommen hatte. Damit war nicht nur menschliches Leid bei Betroffenen und Angehörigen verbunden, sondern auch "die Einschränkung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens und damit [...] ökonomische Verluste", wie ein Gewerkschaftsfunktionär bemerkte. Erst in den letzten Jahren des Uranbergbaus wurde ein signifikanter Rückgang der Unfallzahlen erreicht. 1983 sanken sie von 9,6 je 1.000 Beschäftigte auf neun, die meldepflichtigen Arbeitsunfälle auf 7,8. Fünf Jahre später lag die Quote der meldepflichtigen Arbeitsunfälle bei 7,7 von 1.000 Beschäftigten – das bis dahin beste Ergebnis im Bestehen des Uranbergbaus.
Zu den häufigsten Ursachen für schwere und tödliche Unfälle zählten Steinschlag und Abstürze, mehr als die Hälfte der Verletzungen entfielen auf Hände und Füße. Betroffen waren vor allem Untertagearbeiter. Arbeitsbestimmungen wurden allerdings immer wieder umgangen, wenn es um die Einhaltung der Arbeitsleistung ging, Arbeitsschutzkleidung oder Körperschutzmittel oftmals nicht benutzt, da sie unbequem waren und die Bewegungsfreiheit einschränkten. 40 Prozent aller leichten Unfälle im Februar 1954 waren Handverletzungen, weil die Untertagearbeiter keine Handschuhe trugen. Wie auf zeitgenössischen Fotografien zu sehen ist, verrichteten Kumpel ihre Arbeit untertage oft mit freiem Oberkörper oder nur in Unterhosen, da die Temperatur mit zunehmender Tiefe eines Bergwerkes steigt. Bei Steinschlag oder fallenden Gegenständen musste sich das Fehlen von Schutzkleidung umso verheerender auswirken. Auch in anderen Arbeitsbereichen wurden die Schutzbestimmungen immer wieder ignoriert. So betraten die Bergleute oft schon kurz nach dem Schießen das Ort, um Zeit zu sparen, und setzten sich damit zahlreichen Stäuben aus. Oder sie transportierten schwere Holzstämme zum Ausbau der Schächte allein anstatt, wie vorgeschrieben, zu zweit, um die Arbeitszeit besser auszunutzen.
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Die Generaldirektion machte denn auch die Hauptgründe für das hohe Unfallaufkommen in "subjektiven Faktoren" wie der Missachtung von Verhaltensregeln und in Mängeln der Leitungstätigkeit aus. 99 Prozent aller Unfälle seien auf "eigenes Verschulden, Nachlässigkeit oder Unvorsichtigkeit" zurückzuführen. Viele Bergleute glaubten, so ein Gesundheitsfunktionär auf der 7. Zentralvorstandstagung der Gewerkschaft 1966, dass man die zahlreichen Arbeitsschutzverordnungen ohnehin nicht einhalten könne, wenn man effektiv arbeiten wolle. Überdies verließen sie sich auf ihre Berufserfahrung: "Wir sind schon 15 Jahre Bergmann, uns ist noch nichts passiert."
Doch die eigentlich Verantwortlichen für den Arbeitsschutz in den Betrieben waren die Betriebsleiter. Auf der Gesundheits- und Arbeitsschutzkonferenz der IG Wismut 1964 mussten sie sich daher mit dem Vorwurf der Einseitigkeit konfrontieren lassen. Sie hätten sich zwar ganz richtig auf die Schwerpunkte der Masseninitiative und des sozialistischen Wettbewerbs konzentriert, dabei aber die Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes vernachlässigt. Die Leistungen und die Rentabilität der Betriebe auf der einen sowie das Leben und die Gesundheit der "Werktätigen" auf der anderen Seite müssten eine Einheit bilden. Die Wirtschaftskader dürften nicht "nur die Steigerung der Produktion im Auge" haben, stärker noch als bisher sei dem Gesetzbuch der Arbeit Folge zu leisten. Bei etwa einem Drittel der Arbeitsunfälle liege eine Pflichtverletzung der Betriebe vor.
Die Gewerkschaft machte es sich leicht damit, alle Schuld auf Wirtschaftsleiter und Ingenieure abzuwälzen. Dabei oblag ihr mit den Arbeitsschutzkommissionen formal die Überwachung und Kontrolle des Arbeitsschutzes. Aber auch das Verhalten der Steiger beim nachlässigen Umgang mit den Arbeitsschutzvorschriften spielte eine nicht unbeträchtliche Rolle. Sie waren verantwortlich für die Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen und für die Meldung der Unfälle.
Grobe Verstöße gegen den Arbeitsschutz wurden zwar juristisch geahndet. Doch die Urteile fielen oftmals zu milde aus, beklagte Arbeitsschutzinspektor Max Markstein in den Fünfzigerjahren. Die Steiger würden lediglich mit einer Bewährungsstrafe belegt, überdies erledigten viele ihre Arbeit nur noch vom Büro aus und seien "dauernd besoffen". Bei der Unfallverschleierung zogen Steiger und Arbeiter jedoch nicht selten an einem Strang, hing doch die Quartalsprämie der Brigaden und des Schichtleiters von den Vorkommnissen im Schacht ab. Bagatellunfälle wurden so häufig nicht angezeigt, dem Verletzten bis zur Genesung ein Schonplatz zugewiesen.
Das Konzept des Schonplatzes sah vor, zeitweilig in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit geminderte Beschäftigte auf einen anderen Arbeitsplatz zu setzen. Damit war gleichzeitig die reibungslose Produktionserfüllung gewährleistet, die Arbeitskraft des Rehabilitanden konnte weiter genutzt werden. Die Verordnung über "die Wahrung der Rechte der Werktätigen" vom 27. Mai 1953 legte erstmals eine solche Weiterbeschäftigung bei Zahlung des bisherigen Durchschnittsverdienstes fest. Das Gesetzbuch der Arbeit (GBA) von 1961 bestimmte die Dauer der Schonarbeit mit vier Wochen, im Arbeitsgesetzbuch (AGB) von 1977 wurde diese Zeit auf zwölf Wochen erweitert und die Schonarbeit gleichzeitig als prophylaktische und therapeutische Maßnahme betrachtet. Doch diese sozialistische Errungenschaft diente nach Ermessen der Wismut-Ärzte nicht selten zur Verschleierung von Arbeitsunfällen. Kurz nach einem Unfall, so beschwerte sich ein Mediziner, entwickelten Schachtleiter, Revierleiter und Steiger "ungeahnten Eifer, sich umgehend mit dem behandelnden Arzt des Ambulatoriums oder der Poliklinik in Verbindung zu setzen und sich nach der Art des Unfalles zu informieren, obwohl der Patient manchmal noch gar nicht an der Behandlungsstelle ist."
Ein ähnliches Politikum wie die Bekämpfung der Unfälle und Unfallursachen waren die Bemühungen um Senkung des Krankenstandes, der in den frühen Sechzigerjahren bei sechs bis sieben Prozent lag. Das entsprach einem Mehrausfall von 44.700 Tagen und somit der Monatsproduktion eines mittleren Bergbaubetriebes wie Reust. Die Mittel der Sozialversicherung waren um 400.000 Mark überzogen worden. Mit ca. fünf Prozent lag der Krankenstand in der Wismut AG 1966 sowohl über dem des Bergbaus allgemein (4,7), als auch über dem Republikdurchschnitt (4,9 Prozent). Das bedeutete 650.000 Arbeitsunfähigkeitstage bzw. den Ausfall von 2.500 Arbeitern. Erkältungskrankheiten, Magen- und Darmerkrankungen, Knochen- und Gelenkschäden sowie Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems gehörten zu den häufigsten Gründen für Krankschreibungen.
Auch in den Siebzigerjahren konnte der Krankenstand nicht unter ein Niveau von sechs Prozent gesenkt werden. 1986 war die Zahl der Ausfalltage wegen Arbeitsunfähigkeit auf eine Million angestiegen, was einem Wegbleiben von 4.000 Arbeitern pro Tag entsprach. Die Aufwendungen der Sozialversicherung beliefen sich auf 45 Millionen Mark. Parallel zur Bekämpfung der objektiven Ursachen für den hohen Krankenstand fokussierten die Funktionsträger des Arbeits- und Gesundheitsschutzes immer auch auf das Phänomen des "Krankfeierns". Wie hoch der Anteil unrechtmäßiger Krankschreibungen tatsächlich war, ließ sich nicht ermitteln. Partei und Gewerkschaft hielten sich mit statistischen Angaben zurück. Es verging jedoch keine Sitzung oder Tagung, auf der das Verhalten der "Simulanten" und "Arbeitsbummelanten" nicht angeprangert wurde. Schließlich ging es um die ungerechtfertigte Ausnutzung von Sozialversicherungsleistungen. Ein Teil der "Werktätigen" stand in dem Verdacht, regelmäßig im Jahr die gesetzlich zugesicherten sechs Wochen Krankheit bei Lohnausgleich in Anspruch zu nehmen, vor allem dann, wenn sich ohnehin gerade Grippeepidemien verbreiteten. Arbeitsdirektor Josef Wenig nannte diese Beschäftigten die "Sechs-Wochen-Kranken", die man sich in Zukunft "ein bisschen besser ansehen" werde.
6.
Den Funktionären des Arbeitsschutzes war durchaus bewusst, dass die Unfall- und Krankenstände in einem Kausalzusammenhang mit den Arbeitsbedingungen standen. Neben der medizinischen Prophylaxe galt es demnach, angemessene Konditionen in den Betrieben zu schaffen. Die "Gestaltung des Arbeitsplatzes", so erkannte der Leiter des Betriebsteils Gera, Horst Lewandowski, in den Sechzigerjahren, müsse schließlich auf das Bedürfnis zur Arbeit und auf die Verbundenheit zum Betrieb Einfluss nehmen. Die Schaffung arbeitshygienischer und somit arbeitserleichternder Faktoren werde sich gleichzeitig leistungssteigernd auswirken. Doch die Bemühungen glichen bis zum Ende des Uranbergbaus einem Kampf gegen Windmühlen. Sowohl in den Wohnunterkünften als auch in den Betrieben selbst ließen die sanitärhygienischen Bedingungen oftmals zu wünschen übrig. Wassermangel und fehlende Sanitär- und Duschanlagen im Schachtgelände zeichneten nicht nur die Situation der Nachkriegsjahre aus. Noch 1961 beschwerten sich Arbeiter, sich nach der Schicht in einem Holzfass waschen zu müssen, wollten sie nicht schmutzig und nass nach Hause gehen. Und selbst in den späten Achtzigerjahren existierten noch Wohnunterkünfte mit undichten Dächern, nassen Wänden, defekten Heizungen, Fenstern und Türen.
Bei seiner Auflösung 1990 bestand das Gesundheitswesen der Wismut aus acht Krankenhäusern, zwölf Ambulanzen in den Wohngebieten, 20 Betriebsambulatorien, sieben Sanatorien (davon drei Kindersanatorien), zehn Kinderkrippen, dem Arbeitshygienischen Zentrum (AHZ) in Niederdorf, einem pathologischen sowie einem mikrobiologischen Institut und einem Speziallabor für Keramik und Modellgussprothetik. Die Personalstärke im Gesundheitswesen des Uranbergbaus lag in den Siebziger- und Achtzigerjahren konstant bei etwa 6.000, ein Zehntel davon Ärzte. Bei einer Belegschaftsstärke von ca. 45.000 wurden also 75 Mitarbeiter von einem Arzt betreut. Die Staatssicherheit bezeichnete diese Personalsituation, im Gegensatz zum staatlichen Gesundheitswesen, als "optimal". Zum Vergleich: 1985 war im DDR-Durchschnitt ein Arzt für 439 Einwohner zuständig. Darüber hinaus bewies das medizinische Personal des Uranbergbaus das richtige Bewusstsein bei der Zielrichtung seiner Arbeit. Zufrieden stellte die Gewerkschaft 1987 fest, "daß sich bei unseren Ärzten, Schwestern und anderen Mitarbeitern die Erkenntnis weiter vertieft hat, daß eine gute Qualität der medizinischen Betreuung die Voraussetzung dafür ist, daß die Werktätigen schneller wieder in den Produktionsprozeß eingegliedert [werden] und somit zur Leistungsentwicklung unseres Industriezweiges beitragen können."
Dr., Zeithistorikerin, Berlin.
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