Welche Auswirkungen haben die Kriege in der Ukraine und Nahost auf die Holocaust-Pädagogik und Holocaust-Wissenschaft? Ein Diskussionsprotokoll.
Der fortwährende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die historisch-politische Bildung und insbesondere die Holocaust Education vor neue Herausforderungen. So werden politische Bildnerinnen und Bildner mit der Instrumentalisierung und Verwendung von Narrativen und Begriffen seitens der gegenwärtigen russischen Regierung konfrontiert. Gleichzeitig nutzen ukrainische Behörden die Geschichte und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zur nationalen Mobilisierung in Zeiten existenzieller Bedrohung.
Dies nahmen vor einem Jahr das ukrainische Holocaust Memorial Babyn Yar, das Münchener Institut für Zeitgeschichte, das Eastern Europaen Centre for Holocaust Studies und die Bundeszentrale für politische Bildung zum Anlass für ein Round Table Gespräch. Ziel der Online-Diskussionsrunde war es, die Erfordernisse aus den aktuellen Entwicklungen für die historisch-politische Bildungspraxis zu thematisieren. In diesem Zusammenhang ist eine transnationale Perspektive relevant. Wie ist es möglich, sich weiterhin kritisch mit der Geschichte zu beschäftigen, propagandistische Narrative und Geschichtsumschreibungen zu erkennen und zurückzuweisen?
Das nachfolgend dokumentierte Zeitgespräch vom 23. September 2023 ist zeitlos aktuell geblieben, zumal die Herausforderungen für die politische Bildung seitdem noch gewachsen sind – infolge des Überfalls der palästinensischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem seitdem anhaltenden Verteidigungskrieg Israels in Nahost gegen die Hamas und die libanesische Hisbollah.
Marta Havryshko: Ich freue mich sehr, heute hier zu sein und über ein Thema sprechen zu dürfen, das für mich, als Holocaust-Pädagogin und Holocaust-Wissenschaftlerin aus der Ukraine, die wegen des Krieges fliehen musste, sehr schwierig ist: die russische Aggression gegen die Ukraine.
Dieser Krieg hatte in vielerlei Hinsicht Auswirkungen auf die Holocaust-Education und -Forschung. Viele Holocaust-Überlebende mussten aus der Ukraine fliehen, viele sind schwer davon betroffen. Sie leiden, wie es Vanda Obiedkova tat, die während der Belagerung von Mariupol ihr Leben verlor. Der Krieg rief traumatische Erinnerungen bei ihnen wach. Gleichzeitig sehen wir, dass die russische Aggression nicht nur die lebende Erinnerung an den Holocaust zerstört und schädigt, sondern auch Gedenkstätten wie Babyn Yar in Kiew, Drobytsky Yar in Charkiw sowie verschiedene jüdische Friedhöfe und Synagogen. Pädagogen und Pädagoginnen, die über den Holocaust unterrichten, erleben eine Instrumentalisierung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust durch Putins Regime, um seine brutale Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen und ein Narrativ der Opferrolle zu schaffen. Gleichzeitig versuchen die ukrainische Regierung und die ukrainischen Behörden, die Geschichte und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für die nationale Mobilisierung in Zeiten der existentiellen Bedrohung zu nutzen. Bei unserem heutigen Podiumsgespräch konzentrieren wir uns auf die Herausforderungen, vor denen Pädagogen/-innen und Wissenschaftler/-innen stehen, die in der Ukraine, Europa, Nordamerika und weltweit über den Holocaust unterrichten, erörtern verschiedene Strategien für den Umgang mit Geschichtsfälschung und analysieren die für die Rechtfertigung dieser Aggression verwendete Terminologie.
Beginnen wir unser Gespräch mit ganz allgemeinen Fragen. Wie veränderte sich die Holocaust-Education im Zuge des unter dem Vorwand der Entnazifizierung geführten Aggressionskrieges gegen die Ukraine? Was sind die Herausforderungen und welche Ressourcen stehen zur Verfügung?
Anja Ballis: Ich muss erwähnen, dass meine Ansichten durch meine Perspektive als Dozentin an der Universität, die Studenten zu Lehrer/-innen in Deutschland ausbildet, bestimmt werden. Ich beziehe mich insbesondere auf den deutschen Kontext der schulischen Bildung. Es ist auch sehr wichtig für mich, dass Einrichtungen wie Universitäten und Schulen nicht nur Orte sind, an denen wir akademische Inhalte weitergeben, sondern Orte, an denen wir Kinder großziehen.
Ich möchte mich diesem Thema anhand von drei Fragen nähern. Erstens: Was wissen wir über die Situation an deutschen Schulen? Die Schüler/-innen sind überwiegend in spezielle Überbrückungsklassen eingeschrieben, um Deutsch zu lernen, besuchen aber auch immer mehr den regulären Unterricht, während einige gleichzeitig online an ukrainischen Schulen lernen. Diese Schüler/-innen haben Fluchterfahrung, , sind über Medien vernetzt, sorgen sich um ihre Familien zu Hause und vermissen ihre Freunde und Freundinnen. Während die begrenzte Interaktion zwischen ukrainischen Geflüchteten und den einheimischen Schüler/-innen auf das Fehlen gemeinsamer Erfahrungen zurückgeführt werden kann, unterstreicht sie gleichzeitig die Bedeutung von Bildung als ein Instrument für die Förderung von Verständnis und Empathie. Dies ist besonders wichtig beim Umgang mit Themen wie der Holocaust, gerade in Zeiten dieses Konflikts, in denen die Realität des Krieges bei manchen Erinnerungen an die Heimat weckt, für andere jedoch abstrakt bleibt.
Das bringt mich dazu, über das allgemeine Interesse der Schüler/-innen am Thema Holocaust nachzudenken. Studien haben gezeigt, dass sich junge Menschen in Deutschland immer noch für diese Periode der Geschichte interessieren. Allerdings nehmen sie den Holocaust durch die Brille der Gegenwart wahr. Ihre Fragen beziehen sich oft auf ihre Gegenwart, und sie ziehen häufig Vergleiche zu anderen Fällen von Massengewalt, die sie oder ihre Familienmitglieder erlebten. So sind Krieg und Trauma in unserer gesellschaftlichen Textur präsent. Wir sehen, dass es im Kontext von Migration gewisse Herausforderungen bei der Holocaust-Education gibt, die bisher nicht ausreichend angegangen wurden.
Dies bringt mich zu meiner zweiten Frage: In welchem Ausmaß kann die Bildung von Lehrkräften den Lehr- und Lernprozess an Schulen in diesen komplizierten Zeiten beeinflussen? Die Beschäftigung mit dieser Frage ist entscheidend, da der Klassenraum oft der erste Ort ist, an dem unterschiedliche Narrative zusammentreffen. Aus diesem Grund müssen Lehrkräfte Unterstützung beim Umgang mit diesen Komplexitäten, bei der Überbrückung von Vergangenheit und Gegenwart, von lokalen und globalen Herausforderungen erhalten.
In Deutschland herrscht ein etwas ambivalentes Bild in Bezug auf die Ausbildung von Lehrkräften, die sich mit dem Holocaust und den NS-Verbrechen befassen. Einerseits steht es Studierenden frei, während ihres Hochschulstudiums Kurse zu diesem Thema zu belegen. Aber leider sind nicht alle deutsche Universitäten mit dem vielfältigen Holocaust-bezogenen Lehr- und Medienangebot zufrieden. Sie sind sich jedoch bewusst, dass die Zeit begrenzt ist, was viele dazu veranlasst, Holocaust-Education so früh wie möglich in den Lehrplan zu integrieren. In Deutschland wird das Thema Holocaust meistens in der 8. und 9. Klasse behandelt, wenn die Schüler/-innen zwischen 14 und 15 Jahre alt sind. Die unsystematische Bildung einerseits und der Zeitmangel andererseits führen zu einem komplexen Problem. Dies wird meist dadurch verkompliziert, dass die Lehrkräfte verunsichert sind, wenn sie aktuelle, mit dem Holocaust und dem Antisemitismus verbundene Ereignisse ansprechen. Dies ist eine Herausforderung, die nicht allein durch Änderung des Lehrplanes gelöst werden kann.
Und dies führt mich zu meiner letzten Frage: Welche methodologische Herangehensweise ist am besten geeignet, um in Kriegszeiten zu unterrichten? Ich bin wirklich gespannt, was andere darüber denken. Ich denke, wir brauchen da eine holistische Herangehensweise, die politische Bildung mit Sprach- und Medienanalyse sowie Selbstreflektion zu Vorurteilen und Stereotypen miteinander verbindet. Diese komplexe Herangehensweise ist in einem von digitaler Kommunikation dominiertem Zeitalter besonders einleuchtend, wenn historische Narrative leicht verzerrt, missverstanden oder für Propaganda missbraucht werden. Angesichts dieser Faktoren bietet der von Jörg Brueggemann und Volker Frederking geprägte Begriff „digitale Textsouveränität” ein geeignetes Modell für den Umgang mit aktuellen Konflikten im Schulunterricht.
Meinen abschließenden Gedanken möchte ich entlang dreier Elemente aufbauen: das Digitale, das Textuelle und die Souveränität. Das Konzept des Digitalen ist in hohem Maße auf die Belange und Interessen der Generation Z abgestimmt. Diese Verbindung hilft, einen gemeinsamen Nenner für alle Schüler/-innen zu finden, unabhängig davon, welchen kulturellen oder migratorischen Hintergrund sie haben. Wenn wir das Element des Textuellen hinzufügen, stellen wir fest, dass im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland historisch belastete Begriffe wie „Aggressionskrieg“, „Genozid“ sowie Vergleiche mit dem Nationalsozialismus, oft auch in Verbindung mit Bildern, auftauchen. Diese Kombination von Text und Medien wird für Propagandazwecke missbraucht, und auch, um die Dringlichkeit der Situation zu beschreiben. Für Lehrkräfte und Schüler/-innen ist es besonders relevant, über diese Themen nachzudenken, wenn sie diesen Konflikt in seinem breiteren historischen und medialen Kontext verstehen wollen. Dies führt mich zur Souveränität, dem dritten Element dieses Modells.
Wenn Schüler/-innen auf diese umfassende Weise eingebunden werden, fördern Lehrkräfte damit zweierlei Fähigkeiten. Erstens die Fähigkeit, historischen Kontext und seine Resonanz in der heutigen Welt verstehen, was den Interessen der heutigen Jugend am Thema Holocaust entspricht. Zweitens die Medienkompetenz, um zwischen gut gestützter Information und sensationsheischenden oder irreführenden Narrativen zu unterscheiden. Schüler/-innen lernen also, wie man Information infrage stellt und überprüft, und können somit hoffentlich verantwortungsvoll an diesem Diskurs teilnehmen. Damit werden sie für die verantwortungsvolle digitale Bürgerschaft vorbereitet, die unsere Welt verlangt. Abschließend denke ich, dass durch den anhaltenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine die Holocaust-Education in deutschen Klassenzimmern noch komplexer wird und wir werden dazu gezwungen, historische Grausamkeiten mit der aktuellen Krise in einem Klassenzimmer in Einklang zu bringen, das sich mit Vielfalt und Migration auseinandersetzen muss und mit vielen Orten von Trauma und Gewalt verbunden ist. Vielen Dank.
Thomas Chopard: Zunächst möchte ich sagen, dass sich in Frankreich ein Großteil der Holocaust-Forschung und Holocaust-Education auf Frankreich selbst konzentriert. Seit 2014, jedoch spätestens seit 2022, besteht ein ernsthaftes Interesse an der Geschichte der Ukraine im Allgemeinen, aber insbesondere auch an der Geschichte des Holocaust in der Ukraine.
Dieser Prozess war bereits im Gange, aber der 24. Februar 2022 trug sicherlich dazu bei, dass die Holocaust-Education als europäisches Projekt, und die Ukraine als Hauptort der Vernichtung der Juden einen neuen Fokus bekam. Die öffentliche Debatte konzentrierte sich vor allem auf die Besonderheiten des Holocaust in der Ukraine, insbesondere auf den sogenannten „Holocaust durch Kugeln“, oder auf den besonderen Kontext der West-Ukraine als Konsequenz des deutsch-sowjetischen Pakts. Mit anderen Worten war die Holocaust-Education eine Möglichkeit, die Ukraine auf die Landkarte zu setzen und zu versuchen, eine europäische Geschichte zu weben, was in französischen Klassenzimmern ehrlich gesagt ziemlich schwierig ist.
Was die Holocaust-Forschung anbelangt, hat sich dieser Wandel bereits vor mindestens 30 Jahren vollzogen, aber der französische Kontext steht aus gedenkpolitischen Gründen weiterhin im Mittelpunkt des Interesses der Holocaust-Education. Ein wichtiges Anliegen bei dieser Verschiebung ist auch, dass wir jetzt mehr Zeit darauf verwenden müssen, die Fehlinterpretationen und falschen Behauptungen über die Ukraine zu enthüllen. Der Kampf gegen die Holocaust-Leugnung, Verfälschung und manchmal auch echte Irrtümer standen schon immer im Mittelpunkt des Holocaust-Unterrichts in der Gedenkstätte Memorial de la Shoah, aber auch an Schulen im Allgemeinen. Nun müssen wir uns der Widerlegung von russischen Behauptungen über die Ukraine widmen. Holocaust-Education stand immer schon im Dialog mit unserem unmittelbaren Umfeld und versuchte, aktuelle Anliegen aufzugreifen, Parallelen zu ziehen, und die jüngsten Bilder über die Kriegsverbrechen in der Ukraine, die Beschreibungen über einen von russischen Behörden verübten Genozid spiegeln eindeutig das wider, was wir auch über den Holocaust wissen. Es wurden sehr viele Fragen im Unterricht, an Gymnasien, aber auch an Universitäten gestellt. Eins der aktuellen Anliegen des Memorial e la Shoah und meine aktuelle Arbeit an der EHESS sowie an anderen Bildungseinrichtungen in Frankreich besteht darin, die geeigneten Instrumente für die Analyse von Massengräueltaten im 20. Jahrhundert beziehungsweise in der Neuzeit insgesamt anzubieten. Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine hat wahrscheinlich den Ansatz der „Völkermordforschung“ in Frankreich vorangetrieben, die derzeit noch nicht in institutionalisierter Form existiert.
Ich möchte auch einen negativen Aspekt erwähnen, der besonders durch die russische Propaganda entstanden ist: die Tatsache, dass die russische Propaganda, russische Behauptungen und Verfälschungen der Geschichte des Holocaust unsere Sichtweise auf vielerlei Weise nationalisiert haben. Ich möchte hier nur ein Beispiel nennen, mit dem ich etwas vertraut bin: die Pogrome von 1941 und der allgemeine Antisemitismus der einheimischen Bevölkerung, der Schlüsselaspekt der russischen Propaganda. Obwohl die Auswirkungen der ukrainischen Nationalisten und die lokalen Gewaltmuster zumindest für mich von großem Interesse sind, haben wir vor der umfassenden Invasion gemeinsam damit begonnen, einen vergleichenden Ansatz für antijüdische Gewalt in den von der Sowjetunion zwischen 1939 und 1941 annektierten Gebieten zu entwickeln. Momentan habe ich das Gefühl, dass wir wieder zu einem nationalen Fokus auf diese Themen zurückkehren. Zu einem nationalen Fokus, der sich meiner Meinung nach nicht mit dem Thema lokaler Antisemitismus und mit den Folgen des sowjetisch-deutschen Pakts befassen kann. In vielerlei Hinsicht könnte man dasselbe über die lokalen Kollaborateure während des Holocausts, und möglicherweise auch über andere Themen, sagen.
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass trotz der jüngsten Versuche, die Geschichte des Holocaust und des Antisemitismus in Osteuropa zu nationalisieren, es eine weitere Reaktion gab, nämlich die, einen vergleichenden Ansatz an den Holocaust voranzubringen. Auf diese Weise sollen aktuelle Themen mit Hinblick auf den Holocaust in der Ukraine und den Holocaust im Allgemeinen behandelt werden, aber gleichzeitig bietet diese Lösung auch eine differenzierte und gründliche Methode, mit der die gegenwärtige Gewalt in der Welt, insbesondere in der Ukraine, analysiert werden kann. Zuletzt möchte ich noch erwähnen, dass es in Frankreich weit weniger ukrainische Geflüchtete, insbesondere ukrainische Schüler/-innen gibt als in Deutschland, Österreich und vielen anderen europäischen Ländern. Wir hatten weder besondere Probleme mit Schüler/-innen noch mussten wir bisher mit größeren Gruppen zusammenarbeiten. Daher war unser Ansatz in der Holocaust-Education in Frankreich in erster Linie an die französische Öffentlichkeit gerichtet und enthielt keine spezielle Antwort für ukrainische Schüler/-innen. Wir müssen uns in der öffentlichen Debatte in Frankreich schon auch dieser Frage widmen, aber nicht unbedingt, indem wir die Stimmen der ukrainischen Kollegen und Kolleginnen oder der Menschen aus der Ukraine im Allgemeinen hören.
"Ein Krieg unter dem Deckmantel der Entnazifizierung"
Gabriella Komoly: Zunächst möchte ich erwähnen, dass ich aus dem Bildungsbereich komme. Ich arbeite bei der Zachor Stiftung, einer Bildungs-NGO mit Sitz in Budapest, Ungarn. Wir arbeiten mit Lernaktivitäten auf der Grundlage von Berichten von Zeitzeugen und -zeuginnen unter Verwendung von Materialien aus dem Visual History Archive der USC Shoah Foundation, einem Archiv, das 55 000 Interviews enthält, die mit Überlebenden und Rettern aus dem Holocaust, aber auch aus anderen Völkermorden des 20. Jahrhunderts geführt wurden.
Ich werde hierüber reflektieren und wir werden über die Rolle von Aussagen von Zeugen und Zeuginnen in der Bildung sprechen. Ich denke, dass wir vor einer wirklich komplexen Frage stehen. Wie hat sich das Unterrichten des Holocaust angesichts des von Russland unter dem Deckmantel der Entnazifizierung geführten Krieges verändert? Ich denke, diese Frage enthält wiederum drei weitere Fragen, die ich einzeln behandeln werde.
Die erste Frage, der wir uns stellen müssen, ist, wie sich der Unterricht durch den Krieg verändert hat. Das ist wirklich wichtig. Da ich aus der Bildungspraxis und aus einer Bildungsorganisation komme, war diese die erste Frage, der wir uns stellten und die wir beachten mussten. Es liegt auf der Hand, dass sich die Bildung in der Ukraine grundlegend geändert hat, weil Schulen und Wohnhäuser physisch zerstört, und der Zugang zu allem, was mit Lehren und Lernen zu tun hat, sowohl für Schüler/-innen als auch für Lehrkräfte, völlig unerreichbar wurde. Wir müssen aber auch beachten, dass die gesamte Region betroffen war, und, wie Anja erwähnte, lernen heute Tausende ukrainischer Schüler/-innen in Deutschland, aber auch in Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik und in anderen Teilen Europas.
Es geht also nicht nur um diejenigen, die in diese Länder geflüchtet sind, sondern auch um die Studierenden, die sie empfangen haben und nun mit einer völlig neuen Situation konfrontiert werden. Es gab die Forderung nach einer schnellen Reaktion, und viele Lehrkräfte, Pädagogen und Pädagoginnen fragten nach Hilfsmaterial, um über den Krieg und seine Auswirkungen sprechen zu können. Unsere Zielgruppe sind Studierende und Lehrende in der Ukraine, alle, die Geflüchtete in anderen Ländern aufnehmen, und natürlich auch die Geflüchteten selbst. Als Reaktion darauf haben wir eine Seite auf der Bildungsplattform der USC Shoah Foundation mit dem Namen Externer Link: iWitness eingerichtet. Dies ist eine unserer Antworten.
Wir waren der Meinung, dass in dieser Situation das wichtigste Ziel nicht das Unterrichten der politischen oder ideologischen Hintergründe der Ereignisse sei, sondern das Schaffen von Aktivitäten und zeugnisbasierten Lernmodulen, mit deren Hilfe Schüler/-innen und Studierende die nötige Resilienz erlernen können, oder wie man mit schwierigen Situationen im Allgemeinen umgeht. Diese Seite und die verfügbaren Aktivitäten sind auf Tschechisch, Polnisch, Ungarisch und Ukrainisch zugänglich. Sie sind auf die lokalen Bedürfnisse zugeschnitten und enthalten Aussagen von Zeitzeugen und -zeuginnen mit lokaler Relevanz.
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Die Aktivitäten beziehen sich auf Fragen wie: Was kann dir beim Umgang mit Herausforderungen und Schwierigkeiten des Lebens helfen? An wen kannst du dich wenden, wenn du Unterstützung brauchst? Wen kannst du unterstützen? Welche Rolle spielt die Gemeinschaft beim Umgang mit Herausforderungen? Mithilfe der Geschichten von Überlebenden und Zeugen und Zeuginnen des Holocaust wird ein einfühlsames Umfeld geschaffen, in dem man sich mit diesen Geschichten identifizieren und auf diese bauen kann, insbesondere in schwierigen Situationen.
Nun komme ich zum zweiten Teil unserer großen Frage, und zwar wie der Krieg den Unterricht über den Holocaust verändert hat. Ich würde sagen, es ist immer noch eine sehr schwierige Frage, wie wir über den Holocaust unterrichten, vor allem in einem bestimmten Kontext. Die umfassendere Frage ist, inwieweit wir die Holocaust-Education auf aktuelle Themen beziehen können, und wenn wir mit Berichten von Zeitzeugen und -zeuginnen arbeiten, ist es wichtig, das Ziel der Interviews im jeweiligen Kontext zu sehen. Dies bezieht sich auf das, was Thomas über die Bedeutung der Einbeziehung von Holocaust-Education in aktuelle Themen, wie zum Beispiel der Krieg in der Ukraine, sagte, und wie dies unsere Herangehensweise an diese Themen verändert, beziehungsweise wie wir über sie diskutieren.
Ich möchte Ihnen nur eine ganz kurze Geschichte erzählen. Letzten Sommer organisierten wir in Polen ein Wohltätigkeitskonzert für geflüchtete ukrainische Kinder. Wir haben eine ukrainische Kollegin, die dabei war und von ihren Erfahrungen berichtete. Sie unterrichtete seit Jahren mit Berichten von Zeitzeugen und -zeuginnen, und als der Krieg ausbrach, fielen ihr sehr viele dieser Geschichten ein und wurden plötzlich relevant für die Bewältigung und für den Aufbau von Resilienz auf Grundlage von Geschichten über Menschen, die frühere Kriege überlebten.
Hier möchte ich hervorheben, wie wichtig es ist, dass sie bereits seit langem mit Berichten von Zeitzeugen und -zeuginnen unterrichtete, und wir sollten die Empfehlungen der IHRA (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) berücksichtigen und Vereinfachungen und historische Vergleiche vermeiden. Ich bringe dieses Beispiel nicht, um einen simplen Vergleich anzustellen, sondern vielmehr, um aufzuzeigen, dass die Geschichten der Überlebenden eine starke Wirkung haben und wir sie in der Bildung mit Bedacht einsetzen können. Um auf die letzte und dritte Frage einzugehen, die eigentlich die gesamte Frage umfasst: Wie hat sich das Lehren des Holocaust durch den von Russland unter dem Deckmantel der „Entnazifizierung“ geführten Krieg geändert? Ich hoffe, Sie verstehen inzwischen, wie wichtig es ist, die Gesamtfrage zu dekonstruieren, um zu verstehen, dass wir für eine informierte Antwort auf diese erst alle vorangegangenen Fragen angehen müssen, und auch, um in der Lage zu sein, kritisch zu denken, denn das Unterrichten des Holocaust fördert kritisches Denken und hilft dabei, sich dieser Frage nuanciert nähern zu können. Vielen Dank.
Patrick Siegele: Vielleicht sage ich zunächst ein paar Worte über meinen Hintergrund als Redner. Das Programm Externer Link: „erinnern.at“ Holocaust-Education gehört zur Österreichischen Agentur für Bildung und Internationalisierung, OeAD. Wir sind eine vom Bildungsministerium beauftragte staatliche Agentur. Unsere Hauptaufgabe ist, den Unterricht über den Holocaust und den Nationalsozialismus in Österreich professioneller und besser zu gestalten, deshalb legen wir großen Wert auf die Weiterbildung von Lehrenden in Zusammenarbeit mit Universitäten und Bildungseinrichtungen, kombiniert mit Studienreisen nach Israel, Polen, Deutschland und in andere Länder, sowie die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien zusammen mit Partnern wie der USC Shoah Foundation. Dies ist die Perspektive, die ich mit einbringe. Als ich meinen heutigen Beitrag vorbereitete, dachte ich mir, „Wie soll ich das angehen?”, da ich ja momentan eigentlich nicht als Lehrer an einer Schule arbeite. Also habe ich eine ganze Reihe an Telefonaten mit Kollegen und Kolleginnen aus unserem riesigen Netzwerk in Österreich geführt, und ich stellte ihnen die gleichen Fragen, die Sie mir gestellt haben.
Ein paar allgemeine Informationen über die Holocaust-Education in Österreich. Wie auch in Deutschland, ist der Unterricht über den Holocaust und den Nationalsozialismus in Österreich Pflicht und im Lehrplan enthalten. Sofern man nicht schon im Religionsunterricht, Ethik oder in der deutschen Literatur vom Holocaust gehört hat, wird man sich damit spätestens in der 8. Klasse, in der Mittelstufe, und später im Gymnasium und in der 11. oder 12. Klasse auseinandersetzen. Eine Besonderheit in Österreich ist, dass wir sehr viele berufsbildende Schulen haben, und ein Drittel der Schüler/-innen besuchen diese. In diesen Schulen widmet man dem Geschichtsunterricht weniger Zeit als an den Gymnasien. Außerdem wird Geschichte in Österreich nicht als eigenständiges Schulfach unterrichtet. Meistens wird es mit politischer Bildung, Staatsbürgerkunde, manchmal mit Soziologie oder Geografie kombiniert, was sowohl Vor- als auch Nachteile hat. Für unser heutiges Thema jedoch sind es eher Vorteile.
Zweitens möchte ich einige Einblicke und theoretische Überlegungen zum Geschichtsunterricht und Geschichtsdialektik in Österreich anstellen. Wie Sie bereits wissen, besteht Geschichtsunterricht heute aus viel mehr als nur der Vermittlung von reinem Faktenwissen. Lehrpläne in Österreich basieren auf dem Prinzip der Kompetenzen und Fähigkeiten, die sich Schüler/-innen aneignen sollen, wie Medienkompetenz, erzählerische Fähigkeiten, die Fähigkeit, zwischen Tatsachen und Fiktion zu unterscheiden, um nur einige Beispiele zu nennen.
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Geschichtsunterricht folgt immer gewissen Prinzipien: Er sollte zum Beispiel immer multiperspektivisch sein, sich auf die Gegenwart, auf die Lernenden und ihr Arbeitsleben beziehen, Lösungen für die Gegenwart aufzeigen, mit Beispielen und persönlichen Geschichten arbeiten und sich immer so nah wie möglich an den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnissen bewegen.
Peter Gautschi, Geschichtsdidaktik-Professor in der Schweiz, Vorsitzender unseres wissenschaftlichen Vorstandes, fasst es treffend zusammen, wenn er sagt, dass der Geschichtsunterricht Schüler/-innen in die Lage versetzen soll, erstens geschickt und kompetent mit Geschichte umzugehen, zweitens, über die Gegenwart zu reflektieren, und drittens, dies verantwortungsvoll für die Zukunft zu tun. Warum gehe ich etwas ausführlicher darauf ein? Weil ich glaube, dass es eine wichtige Rolle für das Thema dieser Diskussion spielt:
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Ich würde sagen, guter Geschichtsunterricht beginnt immer mit Fragen über die Gegenwart. Tatsächlich sagten alle Lehrkräfte, mit denen ich sprach, „natürlich haben wir den Krieg behandelt“, und es gab sehr viel Unsicherheit und geschichtsbezogene Fragen wie „Ist Putin wirklich der neue Hitler?“ und „Warum gibt es ukrainische Nazis?“. Ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin nutzt diese Fragen als Ausgangspunkt. Aber oft erzählten sie mir, dass sie diese Fragen nur im Allgemeinen behandelten und nicht in Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust.
Glücklicherweise reagierten das österreichische Bildungsministerium und das Schulsystem am Anfang des Krieges ziemlich schnell und wir haben auch das Glück, auf deutschsprachige Materialien zurückgreifen zu können, zum Beispiel von der Bundeszentrale für Politische Bildung, die auch sehr viele Materialien für Lehrende in Österreich zur Verfügung gestellt hat.
Wenn wir uns konkret die Frage stellen, welchen Einfluss der Krieg in der Ukraine auf den Geschichtsunterricht hat, würde ich die Antwort auf zwei Ebenen einordnen. Die erste ist die persönliche Ebene. Als ich mit den Lehrern und Lehrerinnen sprach, gab es keine, die keine ukrainischen Schüler oder Schülerinnen in ihren Schulen und Klassen hatten. Sie sagten mir, dass die Herausforderungen eher allgemeiner Natur waren. Es ging um die Situation, in der sich die Schüler/-innen befanden. In Österreichs Schulen gibt es ungefähr 13.000 ukrainische Schüler und Schülerinnen, davon ein Drittel in Grundschulen, ein Drittel in der Mittelstufe und ein Drittel in der Oberstufe. Das Lernen war für sie zunächst wegen ihrer Ängste, ihrer Sorge um ihre Familien und Verwandten sehr schwer, und es brauchte einige Zeit, bis diese Schüler/-innen ins Schulsystem integriert werden konnten. Viele Lehrkräfte sagten mir aber auch, dass sie sehr gute Erfahrungen gemacht haben und viele dieser Schüler/-innen nun Teil der Schulgemeinschaft und gut in der Schule seien.
Die älteren Lehrkräfte erzählten auch, dass die Situation sie an den Anfang der neunziger Jahre erinnerte, als viele bosnische Schüler/-innen in das österreichische Schulsystem kamen. Zweitens, und das sollten wir nicht vergessen, gibt es auch eine Auswirkung auf die russischen Schüler/-innen in österreichischen Schulen. Viele Lehrkräfte erzählten mir, dass der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland auch auf der persönlichen Ebene in die Klassenzimmer getragen wird. Es gibt ein breites Spektrum: Manche Schüler/-innen kommen aus Familien, die dem Krieg nicht kritisch gegenüberstehen oder sogar Putin-freundlich sind. Auf der anderen Seite gibt es wiederum Schüler/-innen, die für ihr Russischsein angegriffen wurden und aus Angst vor der Reaktion der anderen nicht mehr Russisch sprachen. Einige Lehrkräfte berichteten, dass sie sich mit so praktischen Dingen auseinandersetzen mussten, wie Visaeinschränkungen für russische Schüler/-innen, die keine Sprachreisen unternehmen konnten, et cetera. Es gibt also viele Ebenen, und das wirkt sich natürlich auch auf die österreichischen Schüler/-innen aus. Wie Gabriella sagte, gab es sehr viel Solidarität und Wohltätigkeit an den Schulen, die zeigten, dass die Schüler/-innen etwas bewegen und so gut es ging, ihre Unterstützung anbieten wollten.
Es ist interessant und möglicherweise etwas überraschend für Sie, dass die meisten Lehrkräfte sagten, dass der Krieg keine Auswirkung auf ihren Unterricht über den Holocaust und den Nationalsozialismus hatte. Einer erzählte mir, dass er über Zwangsarbeitslager sprach und dabei persönliche Geschichten von ukrainischen Zwangsarbeiter/-innen verwendete, um dieses Thema zu behandeln und es auf die heutige Ukraine zu beziehen, aber im Großen und Ganzen werde der Holocaust in der Ukraine und der Holocaust im Allgemeinen immer noch sehr länderbezogen und national unterrichtet. Im Lehrplan steht, dass wir eine europäische Perspektive auf den Nationalsozialismus und den Holocaust haben sollen, aber in der Praxis ist das eher selten der Fall. Die Lehrer und Lehrerinnen sagten, dass der Holocaust in der Ukraine selbst vor dem Krieg nicht wirklich Thema war, und das habe sich nach dem Krieg nicht geändert. Sie sehen sich mit den Herausforderungen der Holocaustverfälschung konfrontiert, zum Beispiel auf TikTok oder auf anderen Kanälen. Doch mit diesen Herausforderungen mussten sie sowieso schon seit vielen Jahren umgehen, und das habe sich, zumindest nach Aussagen der Lehrkräfte, mit denen ich sprach, nicht geändert. Dies bedeutet nicht, dass Holocaustleugnung und -verfälschung als allgemeines politisches und gesellschaftliches Problem nicht wichtig für das Unterrichten über den Holocaust wäre, aber wie wir damit umgehen und welche Antworten wir auf diese Bedrohung, auf diese Herausforderung geben, könnte vielleicht etwas sein, auf das wir in der jetzigen Diskussion etwas tiefer eingehen können.
Marta Havryshko: Wenden wir uns der zweiten Fragerunde zu. Patrick stellte eine sehr wichtige Frage über die Marginalisierung der ukrainischen Geschichte. Wer sich mit der Geschichte der Ukraine nicht so gut auskennt, fällt leicht auf die russische Propaganda, Putins Propaganda herein. Aus diesem Grund denken wir darüber nach, wie wir die Ukraine sichtbar machen, wie wir Licht in die Komplexität der ukrainischen Geschichte bringen können, und welche Aspekte der ukrainischen Geschichte einen Platz in unseren Lehrplänen der Holocaust-Education erhalten sollen. Anja, könnten Sie vielleicht etwas auf diese Frage eingehen?
"Während der Krieg andauert, ist es sehr schwer für Lehrkräfte, 'das Richtige' zu tun"
Anja Ballis: Wenn wir mit dem deutschen Lehrplan beginnen, und diesen Punkt möchte ich hervorheben, kann ich die Ergebnisse von Patrick bestätigen: Ich erlebte dasselbe und erhielt auch gleiche Ergebnisse. Lehrkräfte stehen vor einer Herausforderung, wenn sie das Thema Holocaust in Verhältnis mit aktueller Politik setzen sollen, insbesondere mit Hinblick auf solche Diskussionen in einem Klassenraum mit Kindern mit Migrationshintergrund.
Ich denke, wir sollten auf die Schüler/-innen in den Klassen hören. Und, hier beziehe ich mich auf Gabriella: einige der Schüler/-innen wollen einfach nur über ihre Traumata sprechen, darüber nachdenken, während andere ganz normal behandelt werden wollen. In dieser besonderen Situation, während der Krieg andauert, ist es sehr schwer für Lehrkräfte, „das Richtige“ zu tun. Meiner Meinung nach können hier Autobiographien und Aussagen von Zeitzeugen und -zeuginnen Wegbereiter sein. Ich lese zum Beispiel gerade das Buch von Donia Rosen, „Mein Freund der Wald“, das auch in deutscher Übersetzung verfügbar ist. Sie lebte in einem Gebiet, das im Zweiten Weltkrieg an die Ukraine fiel. Sie erlebte dort verschiedene Formen der Verfolgung durch deutsche Truppen, Polizei und die örtliche Bevölkerung. Ihre einzige Zuflucht war der Wald, in dem sie sich jahrelang versteckt hielt.
Diese Geschichte enthüllt die Komplexität der Verfolgung außerhalb der Lager, und, wie die weiterführende Lektüre zeigt, auch die Auswirkung von Traumata auf ihr Leben. Es ist möglich, Texte über Verfolgung durch die Brille von einzelnen Lebensgeschichten zu betrachten. Es ist eine traurige Geschichte voller Gewalt, die klar zeigt, wie verwoben Geschichte ist.
Um auf den Schulunterricht zurückzukommen: Die verschiedenen Fächer sollten gut ineinandergreifen und nicht nur die Verfolgung während der NS-Zeit behandeln, sondern auch über die langanhaltenden Auswirkungen von Geschichte und Kulturerbe reflektieren. Ich möchte also das Thema eröffnen. Es ist weniger die Frage des Lehrplans als vielmehr eine Frage der Inhalte und ob man sich diesen Inhalten widmen möchte. Deshalb sollten Inhalte so aufbereitet werden, dass der Zusammenhang zwischen Geschichte und Gegenwart deutlich wird. Zusätzlich zu diesen Inhalten brauchen Lehrende die richtigen Fähigkeiten, um ihre Arbeit selbstsicher auszuüben, die Bedürfnisse der Schüler/-innen zu erfüllen, die Traumaerfahrungen oder unterschiedliche Migrationshintergründe haben. Das wäre mein Schwerpunkt. Und in den Literatur- und Sprachunterricht würde ich die Auseinandersetzung mit der Kunst mit einbeziehen, was neben dem Besuch von Gedenkstätten und anderen Orten des Gedenkens dazu beitragen könnte, sich mit schwieriger Geschichte zu beschäftigen. Und schließlich haben wir sinnvolle Möglichkeiten, wie die Verwendung von digitalisierten Materialien und virtueller Realität, um verschiedene Orte zusammenzuführen und über das kulturelle Erbe und die Rolle des Gedenkens zu reflektieren.
Marta Havryshko: Meine nächste Frage geht an Thomas: Ich habe gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem Memorial de la Shoah gemacht und bin dieser Einrichtung sehr dankbar für die Organisation von Fortbildungsmaßnahmen für ukrainische Lehrkräfte. In diesen Seminaren sah ich, dass einige ukrainische Lehrer und Lehrerinnen noch mit ihrer nationalen Loyalität und einem universellen, auf den Menschenrechten basierenden Ansatz für die ukrainische Geschichte kämpfen. Können Sie bitte Ihr Wissen mit uns teilen und erläutern, wie sich das durch den Krieg in der Ukraine geändert hat? Hat das Zentrum seinen Lehrplan und die Methoden geändert, um zum Beispiel mit ukrainischen Lehrern und Lehrerinnen umzugehen, die, wie Sie wissen, die Terminologie des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust verwenden, wenn sie ihren Schülerinnen und Schülern die aktuellen Ereignisse erklären, und wie haben sich die Ansätze in Ihrer Arbeit und im Allgemeinen im Memorial de la Shoah durch den Krieg in der Ukraine verändert?
Thomas Chopard: Sie haben Recht, das Memorial de la Shoah bietet diese Partnerschaft in der Ukraine, aber auch in anderen Teilen Europas, sogar in Nordafrika an. Gleichzeitig bieten wir einen allgemeinen Lehrplan an, der für alle gleich ist und sich mit der vergleichenden Geschichte von Massengräueltaten in Europa beschäftigt. Dieser Lehrplan konzentriert sich hauptsächlich auf die Begriffe Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit usw., wobei wir versuchen, diesen Ansatz an die örtlichen Begebenheiten anzupassen.
Kürzlich war ich mit Studierenden der Schewtschenko Universität in Kiew, und wir versuchten, uns an den lokalen Kontext anzupassen und besondere Veranstaltungsreihen über Zusammenarbeit in der Ukraine und den Holocaust in der Ukraine anzubieten sowie einen komparativen Ansatz mit dem Holodomor zum Beispiel, sowie andere Veranstaltungsreihen über den aktuellen Krieg und andere Massengräueltaten in der Ukraine. Die Lehre und das Wissen über den Holocaust können hier angewendet werden, um Vergleiche anzustellen, und um Kontexte im Allgemeinen richtig zu verstehen. Das ist die Agenda, die das Memorial de la Shoah verfolgt. Wenn wir solche Vergleiche anbieten, reagieren Lehrkräfte und Schüler/-innen der Gymnasialstufe meiner Ansicht nach besser, weil sie nicht nur ausländischen Spezialisten und Spezialistinnen begegnen, die ihnen etwas von oben nach unten erklären, sondern es wird auch ein Dialog innerhalb des lokalen Kontexts angestoßen, bei dem spezielle Hilfsmittel und Ansätze verwendet werden, die wir überall in der Welt brauchen, um Massengräueltaten im Allgemeinen zu verstehen.
Manchmal können der nationale Kontext, nationale oder sogar nationalistische Reflexe ein Problem darstellen. Wenn wir aber Vergleiche anstellen, erreichen wir bessere Ergebnisse. Um abzuschließen, möchte ich eine Veranstaltung erwähnen, bei der es um Kollaboration ging. Kollaboration während des Holocaust in der Ukraine ist mit Sicherheit eine Frage von besonderer Bedeutung. Es war bereits vor 2014 ein bedeutendes Thema und ist es seit dem 24. Februar noch viel mehr. Doch durch einen Vergleich von Kollaboration in der Ukraine mit Kollaboration in Frankreich – und Kollaboration ist eigentlich ein französisches Wort – sowie in anderen europäischen Ländern konnten wir mit den Schüler/-innen einen fruchtbaren Dialog anstoßen.
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Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, dass zum Tango immer zwei gehören. Man muss etwas auf den Tisch legen, aber man muss auch die Schüler/-innen in die laufende Diskussion einbeziehen. Dies ist meiner Meinung nach das Wichtigste, dass man kein starres Wissen anbietet, sondern eine Diskussion anstößt, die noch fortbesteht, wenn man selbst nicht mehr dabei ist.
Marta Havryshko: Ich wende mich jetzt an Gabriella: Könnten Sie bitte darlegen, wie man am besten das Propagandaschlagwort „Entnazifizierung“ widerlegen kann? Wir wissen, dass einige russische Soldaten tatsächlich glauben, dass sie Teil eines „heiligen Krieges“ gegen die Nazis sind. All diese patriotischen Gefühle verbreiten sich immer mehr unter den Soldaten in Russland, weil sie wirklich glauben, dass es ihre Aufgabe sei, das Böse aus Europa und von seinen Grenzen zu verbannen. Wie sollen wir mit dieser Verzerrung und den unbegründeten Behauptungen umgehen, die dazu missbraucht werden, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in der Ukraine durch Russland zu rechtfertigen?
Gabriella Komoly: Zur Vorbereitung dieser Frage habe ich sie in ChatGPT eingegeben, da KI aktuell eine sehr bedeutende Rolle bei der Erstellung verfälschter Inhalte spielt, und Schüler/-innen und Studierende damit immer mehr zu tun haben. Ich glaube, wir müssen es als Werkzeug zu unserem Vorteil nutzen und dürfen nicht zulassen, dass es in eine Waffe verwandelt wird. ChatGPT gab recht interessante Antworten darauf, wie der propagandistische Slogan entschärft werden kann. Ich bekam zehn Punkte, von denen ich die wichtigsten fünf hier erwähnen möchte. Als erstes muss der Begriff „Entnazifizierung” definiert werden. Zweitens muss ein Kontext angegeben und dann die Verallgemeinerung infrage gestellt werden. Der vierte Punkt ist die Widerlegung von Falschinformationen, wie die Überprüfung von Behauptungen und die Bereitstellung von glaubwürdigen Quellen, und fünftens die Ermutigung zum kritischen Denken. Diese fünf Punkte möchte ich hervorheben, aber die anderen sind auch relevant. Diese Punkte mögen selbstverständlich scheinen, da wir aus der Forschung kommen und eine akademische Perspektive einnehmen, aber um sie in die Perspektive von Bildung und Praxis zu setzen, müssen wir die bisherige Herangehensweise zur Beantwortung solcher Fragen dekonstruieren.
Dieselbe Technik wird angewendet, wenn in der Bildung ein Bild analysiert werden soll, oder wenn wir Inhalte der sozialen Medien konsumieren. Dann müssen wir uns mit diesen Fragen auseinandersetzen und versuchen, das, was wir sehen, zu definieren und zu kontextualisieren, oder wir müssen uns sogar die Frage stellen, wer, was, wo, wann und warum. Wer schuf das Bild? Warum wurde „Entnazifizierung” gesagt? Wer sagte das? Wir müssen herausfinden, was alles dahintersteht, was auch das Denken fördert. In dieser Hinsicht hat uns ChatGPT eine ziemlich gute Antwort gegeben, um den Rahmen für das Verständnis dieser Verfälschung und Relativierung des Holocaust zu setzen, denn die Verwendung des Begriffes „Entnazifizierung“ ist eindeutig ein Fall von Holocaustverfälschung.
Nun möchte ich zu den anderen IHRA-Empfehlungen zum Umgang mit Verfälschung zurückkehren, die ich bereits zuvor erwähnt habe.
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Wir müssen uns Wissen über den Holocaust aneignen und sicherstellen, dass die historischen Tatsachen und das individuelle Verständnis und Kenntnisse akkurat sind. Für das Lernen über den Holocaust und über die Verfälschung des Holocaust muss ein verbindliches Umfeld geschaffen werden. Wir müssen die Fähigkeit zum kritischen und reflektiven Denken über den Holocaust unterstützen, so auch die Fähigkeit gegen Verfälschung vorzugehen. Was wir tun können, ist, das Verständnis von Verantwortung in Kontext zu setzen: Wer sind die Akteure, warum haben sie getan, was sie getan haben, was bedeutet Mitschuld, was bedeutet die Täterschaft der Opfer, und auch die Relevanz des Holocaust für gegenwärtige Fragen bzw. der Umgang damit.
Die meisten von uns stellten sich diese Frage im Fall der Ukraine, und wie man ukrainische Geschichte selbst in den Lehrplan aufnehmen kann. Auch die Frage nach der Relevanz und nach der Herangehensweise an dieses Thema ist wichtig. Ich habe einen Kurzfilm über einen Bericht von Ruzica Breyer , einer kroatischen Überlebenden, mitgebracht, die gefragt wurde, was sie dazu motiviert hat, einen Zeuginnenbericht abzugeben. Sie sagte: „Am meisten motivierte mich die Tatsache, dass wir heute leider wieder sehr viel davon sehen, was wir durchgemacht haben. So viele Menschen erleben heute das Gleiche – sie werden vertrieben, getötet, gefoltert und so weiter.” Dies ist eine relevante Verbindung und ein wichtiger Ansatz beim Umgang mit dem Holocaust, während man diesen mit aktuellen Themen verbindet, da sie die Geschichte ja auf Grundlage ihrer eigenen Erlebnisse erzählt. Wir selbst sollten keine vereinfachten Vergleiche anstellen, aber da sie über ihre eigenen Erfahrungen spricht, können Schüler/-innen und wir ebenfalls darüber nachdenken. Ich glaube, wir können uns mit dem Begriff „Entnazifizierung” auseinandersetzen und diesem verfälschten Narrativ entgegenwirken, indem wir die tieferen Bedeutungsebenen verstehen, und so unser Verständnis nuancieren.
Marta Havryshko: Patrick, Sie erwähnten, dass gute Historiker/-innen immer eine Verbindung zur Gegenwart herstellen. Wir versuchen aktuelle Themen auf den Tisch zu bringen und darüber zu diskutieren, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst. Wir verstehen, dass wir angesichts des aktuellen Krieges vor neuen Herausforderungen stehen. Unsere Holocaust-Bildner/-innen und Lehrer/-innen begegnen neuen Herausforderungen. Sie müssen gegen die Verfälschung, den Missbrauch und die Instrumentalisierung der Holocaust-Geschichte und des Gedenkens kämpfen Wir wissen von Lehrkräften und von der persönlichen Erfahrung von Schüler/-innen, dass sie feindselig behandelt und in verschiedenen europäischen Ländern sogar als Nazis beschimpft werden. Die Schüler/-innen verstehen die Bedeutung dieser Worte nicht. Welche Rolle spielen Erzieher/-innen und Lehrer/-innen dabei, und was sollten sie heutzutage tun, um gegen diese Feindseligkeit vorzugehen und das Wissen unserer Jugend über den Holocaust in Zeiten von Massengräueltaten zu vertiefen?
"Geschichte beginnt immer mit der Gegenwart"
Patrick Siegele:
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Ich möchte klarstellen, dass die Verbindung von Geschichte und Gegenwart immer einen bestimmten Aspekt hat. Geschichte beginnt immer mit der Gegenwart. Wir müssen Schüler/-innen bewusst machen, dass egal, wie wir Geschichte betrachten, sie nie selbstverständlich ist. Geschichte wird immer unter einem bestimmten Gesichtspunkt behandelt, der mit politischen und anderen Umständen der Gegenwart zu tun hat. Wenn wir also über den Nationalsozialismus und den Holocaust unterrichten, müssen wir immer Entscheidungen treffen. Wir werden nie mit der gesamten Komplexität von Geschichte umgehen können.
Als Lehrer stehe ich immer vor der Frage, was kann ich und was kann ich nicht tun. Deshalb sind Schulbücher so wichtig, weil sie mir diese Entscheidung abnehmen. Und nur professionelle Geschichtslehrer/-innen können Abstand von den Vorgaben der Schulbücher nehmen und eine andere Entscheidung treffen.
Heidemarie Uhl, die im August 2023 viel zu früh verstorben ist, war eine der führenden Historikerinnen im Bereich des kulturellen Gedenkens in Österreich. Sie sagte ungefähr ein Jahr vor ihrem Tod, dass wir manchmal glauben, die Vergangenheit helfe uns, die Gegenwart besser zu verstehen, aber sie glaube, dass es manchmal genau andersherum sei. Ich hielt das für einen sehr interessanten Gedanken, weil uns die Ereignisse der Gegenwart eine andere Perspektive auf die Ereignisse der 20er oder 30er Jahre geben. Aufgrund der Ereignisse der Gegenwart betrachten wir Geschichte aus einem anderen Blickwinkel und durch eine andere Brille.
Wir haben Anja Ballis gefragt, was im Lehrplan geändert werden soll. Ich glaube, dass nicht die Lehrpläne das Problem sind, jedenfalls nicht die der Schulen. Wenn man sich die in Österreich ansieht, gibt es so viele Dinge, die Schüler/-innen lernen sollen. Es ist sogar vorgeschrieben, dass sie lernen sollen, welche Auswirkungen der Zweite Weltkrieg auf Afrika und Asien hatte. Es gibt so viele Themen, mit denen sich Lehrkräfte auseinandersetzen müssen, aber ich denke, am wichtigsten wäre, sich das Curriculum der Lehrekräfteausbildung anzuschauen, denn, wie Anja Ballis auch sagte, Lehrer/-innen sind nicht darauf vorbereitet, sich mit diesen Themen in der Schule auseinanderzusetzen.
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Aber wie ich sagte, müssen wir auch realistisch sein. Was ist in den wenigen Stunden möglich, in denen Lehrende Zeit haben, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen? Was sollen sie tun, besonders wenn es um die Ukraine geht? Hier stehen wir einem Dilemma gegenüber. Es gibt immer mehr Tendenzen im Geschichtsunterricht, Geschichte zu lokalisieren, damit sie für Schüler/-innen relevant wird. Geschichte für Schüler/-innen relevant zu machen bedeutet, sich ihre Schulen anzusehen: Was wissen sie über jüdische Schüler/-innen, die der Schule verwiesen wurden? Die Opfer des Holocaust wurden? Was wissen sie über Konzentrationslager, die sich in der Umgebung oder im selben Dorf befanden?
Die Lehrkräfte müssen das Umfeld berücksichtigen, und gleichzeitig stehen sie vor der Herausforderung, den Holocaust immer noch aus der europäischen Perspektive zu erklären. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Visual History Archive der Shoah Foundation gab es ein Interview mit einem ukrainischen Zwangsarbeiter. Er wurde zur Arbeit in einer sehr abgelegenen Gegend Österreichs gezwungen, und er beschloss, nach dem Krieg dort zu bleiben. Dies ist eine sehr lokale Geschichte, aber gleichzeitig hat sie einen Bezug zu Europa, zur Ukraine. Solche Geschichten bieten eine Chance, im Geschichtsunterricht der Herausforderung von „lokal handeln, global denken“ zu begegnen.
Wir müssen Lehrende und Programme wie das der Shoah Foundation und des Memorial de la Shoah unterstützen. Wir haben auch an einem internationalen Programm mit dem Titel „Der Holocaust als Ausgangspunkt“ teilgenommen. Es ist gut, dass es solche internationale Austauschprogramme für Lehrende gibt, damit sie auch neue Perspektiven kennenlernen. Es ist eine komplizierte und schwere Aufgabe. Schließlich stehen wir auch vor dem Dilemma der Erfüllung digitaler Anforderungen. In Österreich ist Medienkompetenz ein Pflichtfach in Schulen. Das begann diesen Herbst. Ich glaube, das ist eine wichtige neue Entwicklung, denn die Verwendung digitaler Medien für den Geschichtsunterricht ist entscheidend, und gleichzeitig brauchen Schüler/-innen die entsprechende Medienkompetenz, damit sie sich kritisch mit den Medien auseinandersetzen können, die sie verwenden. Wenn man dazu in der Lage ist, kann man ruhig auch mit TikTok und Instagram oder anderen Kanälen arbeiten. Sie müssen sich dessen aber bewusst sein, und Schüler/-innen beibringen, womit sie es da zu tun haben und unter welchen Umständen sie diese verwenden.
Anja Ballis: Es ist wichtig, dass sich Lehrkräfte im Geschichtsunterricht, vor allem in Deutschland, immer auf den Inhalt konzentrieren und darauf, wie dieser Inhalt den Schüler/-innen vermittelt wird. Ich möchte hervorheben, was auch Patrick Siegele sagte, dass es entscheidend ist, mit Lehrenden und Lernenden an verschiedenen Programmen teilzunehmen und Wege zu finden, auf die Bedürfnisse der Schüler/-innen in den Klassenzimmern einzugehen. Dies ist eine große Herausforderung für die Lehrenden, und sie brauchen viel Unterstützung dabei.
Marta Havryshko: Eine Frage zur Yahad-In-Unum-Webseite und die dort befindlichen Materialien: Verwenden Sie oder Ihre Schüler/-innen diese Materialien? Und wie reagieren Schüler/-innen auf diese lokale Dimension, auf das, was in ihrer Heimat passiert ist? Setzen sie sich mit dieser Frage auseinander?
Thomas Chopard: Ich möchte beginnen, weil dies ein französisches Projekt ist. Die Antwort ist eigentlich sehr einfach: nur sehr wenige verwenden die Materialien von Patrick Desbois im Klassenzimmer. Nur Historiker/-innen arbeiten damit. Marie Moutier-Bitan zum Beispiel, die früher mit Patrick Desbois an diesem Projekt arbeitete, ist eine von ihnen. Sie hat an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris promoviert und veröffentlichte kürzlich auf Grundlage dieser und anderer Zeugen- und Zeuginnenberichte ein Buch über den Holocaust in der West-Ukraine. Leider sind sie meiner Meinung nach schwer im Schulunterricht anwendbar. Wir verwenden eher Materialien, die vom Memorial de la Shoah zur Verfügung gestellt werden, und die eher „typische“ Holocaust-Berichte von Überlebenden sind, die während des Holocaust noch Kinder waren. Reine Beobachter/-innen stehen bei den Präsentationen nicht im Mittelpunkt.
Marta Havryshko: Viele von Ihnen erwähnten die vergleichende Perspektive. Wie sollten strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Beispiel zwischen dem Holocaust und dem Holodomor hervorgehoben werden? Ist es überhaupt möglich, diese beiden Fälle von Massengrausamkeiten und extremer Gewalt miteinander zu vergleichen?
Gabriella Komoly: Ich glaube nicht, dass wir sie vergleichen können. Um auf die Zeugnisse zurückzukommen, Berichte der Shoah Foundation sind Interviews über Lebensgeschichten, die in den 90er Jahren geführt wurden. Die Befragten erzählen von ihrem Leben vor dem Krieg. Aber auch von Gräueltaten während des Krieges und über das Leben nach dem Krieg. Das bedeutet, dass ein und dieselbe Person viele Grausamkeiten erlebt hat, weil in Osteuropa nach dem Krieg strenge kommunistische Regime unter der Sowjetunion an die Macht kamen. Aus den Aussagen von Zeugen und Zeuginnen erhalten wir einen Einblick in diese Aspekte, da die Überlebenden darüber sprechen, wie sich ihr Leben nach dem Krieg verändert hat. Ich glaube, dass das vergleichbar ist. Aber sonst denke ich das eher nicht.
Marta Havryshko: Wir erleben in Europa einen Aufstieg von rechtsextremen Gruppen und nationalistischen Geschichtsauffassungen, so dass wir mit dem Problem eines ethnozentrischen Geschichtsnarrativs konfrontiert sind. Unsere spezielle Frage bezieht sich auf Deutschland und auf den Einfluss der Alternative für Deutschland (AfD) auf die Köpfe der Jugend in Deutschland. Aber ich möchte diese Frage ausweiten, weil wir in vielen anderen Ländern das gleiche Problem haben, dass rechtsextreme Gruppen unbequeme Geschichte reinzuwaschen versuchen, um bestimmte Themen auszugrenzen oder den Mantel des Schweigens darüber auszubreiten. Wie sollen wir damit umgehen? Wie sollen wir mit Verfälschung durch politisch motivierte und ideologisch aufgeladene Gruppen umgehen?
Anja Ballis: Diese Frage zielt direkt auf die Ausbildung von Lehrkräften ab: auf Studierende, die Lehrer/-innen werden und in den Unterricht gehen. Und, das sage ich aus der Perspektive einer Sprachlehrerin, wir müssen unsere Student/-innen mehr einbinden und kennenlernen. Das ist nicht immer möglich. Ich denke, in den meisten Debatten fehlt der Kontakt und der Dialog mit unseren Student/-innen, die Geschichte, Sprache oder andere Fächer lernen. Manchmal bringen sie ihre Ideen und Ideologien mit in die Veranstaltungen, was ziemlich schädlich ist, und wir haben keine Möglichkeit, dies zu korrigieren oder darüber zu reden.
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Wir müssen intensiv darüber nachdenken, was Lehrkräfteausbildung heutzutage bedeutet. Wir konzentrieren uns auf den Inhalt und wie dieser zu den Studierenden gelangt. Aber es fehlt die Selbstreflektion, und wir müssen auch die Relevanz der Demokratie viel stärker in die Ausbildung von Lehrkräften in Deutschland einbeziehen. Für mein Fach bedeutet das vor allem zu lernen und zu lehren, wie über schwierige Themen gesprochen werden kann und wie wir mit Falschinformation und Verschwörungstheorien umgehen. Diese Themen und Ansätze sollten wir hervorheben, sodass wir sie in Gruppen diskutieren und zusammenarbeiten können, um über diese Themen kritisch zu reflektieren.
„Wie konnte das geschehen?“
Marta Havryshko: Eine der Schlüsselziele von Holocaust-Education ist, Menschen zu motivieren, entschieden zu handeln, nicht wegzuschauen, wenn sie Unrecht sehen, wenn Menschen leiden. Aber wir wissen, dass viele Menschen sich aus unterschiedlichen Gründen immer noch wie Zuschauer/-innen oder Zaungäste verhalten. Wie können wir Menschen dazu motivieren zu handeln? Wie können wir sie dazu motivieren, Menschenrechte zu verteidigen und aktive Bürger dieser Welt werden? Was denken Sie?
Patrick Siegele:
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Für mich ist das eins der zentralen Themen im Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust. Wenn wir das auf den Lehrplan zurückführen, sollte selbst da eine der Hauptfragen sein, mit der sich Studierende auseinandersetzen: „Wie konnte das geschehen?“ Das ist auch eine der häufigsten Fragen, die Schüler/-innen stellen. Deshalb muss die Geschichte auf die persönliche Ebene gebracht, mit den persönlichen Geschichten der Opfer, aber auch der Helfer, Beobachter, Täter gearbeitet werden, um zu zeigen, dass man selbst in einer Diktatur wie das NS-Regime einen gewissen Handlungsspielraum hatte und jeder etwas bewirken kann. Bei der Arbeit mit Schüler/-innen hatte ich immer den Eindruck, dass sie, sobald sie dies erkennen, leicht eine Brücke in die Gegenwart schlagen können. Natürlich ist die Situation heute eine ganz andere als damals, das müssen sie verstehen. Im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen und Menschenrechtswerte ist es in einer Demokratie leichter zu handeln, und nicht nur Beobachter/-in zu sein.
Wir wissen aus der Geschichte, besonders aus der NS-Geschichte, dass der Handlungsspielraum der Opfer, aber auch der Beobachter/-innen, in einer Diktatur immer kleiner wird, bis es schließlich zu spät ist. Bei erinnern.at heißt eins der erfolgreichsten Unterrichtsmaterialien, die wir zusammen mit Lehrkräften entwickelt haben, „Wer ist schuld am Tod von Edith Winkler?“. Edith Winkler war ein achtjähriges jüdisches Mädchen aus Wien. Ihre Schwester konnte nach Palästina fliehen, wo sie überlebte. Edith blieb bei ihren Eltern, wurde deportiert und in Kulmhof ermordet. Wir haben biographisches Material gesammelt, das nachvollziehen ließ, wer in diesen Prozess verwickelt war, der schließlich dazu führte, dass das achtjährige Mädchen aus Wien sterben musste.
Die Schüler/-innen erkennen, dass es eine Person gab, die den Zug fuhr, eine, die im Rathaus von Wien die jüdischen Bürger Wiens registrierte, eine, die den Juden und Jüdinnen alles nahm und so weiter. Man kann dies auf eine ganz persönliche Ebene herabbrechen, und da können wir unser Bestes tun, damit die Schüler/-innen daraus eine Schlussfolgerung für die Gegenwart ziehen.
Marta Havryshko: Wie wird die bevorstehende Klimakrise und die daraus resultierende verstärkte Migration und gemischte Bevölkerung die Bildung beeinflussen? Als Folge des Krieges gibt es ungefähr 6 Millionen ukrainische Geflüchtete. Wie bereits erwähnt, gibt es Geflüchtete in ganz Europa. Wie beeinflusst ihre Anwesenheit die Holocaust-Education und wie können verschiedene Bedrohungen, wie die Klimakrise, unsere heutige Holocaust-Education ändern?
Patrick Siegele Die Frage möchte ich mit Jonathan Safran Foer beantworten, der sagte, dass seiner Ansicht nach die wichtigste Vorkehrung für die zukünftige Klimakrise gute Demokratien sind, in denen Menschenrechte geachtet werden. Die Klimakrise wird uns vor immer mehr Herausforderungen, Migration und Geflüchtete stellen. Manchmal glaube ich, dass Bildung uns rüstet, uns die Fähigkeiten verleiht, auf die zukünftige Welt, die wir noch nicht kennen, vorbereitet zu sein. Ich denke, dass Holocaust-Education, die sich mit Gräueltaten der Vergangenheit beschäftigt, dazu beitragen wird, unsere demokratischen Werte und unsere Demokratien zu schützen. Menschen in der Ukraine wissen, was für eine Herausforderung das alles ist.
Marta Havryshko:
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Bei meiner letzten Anmerkung geht es um ethische Bedenken und um die Retraumatisierung oder Traumatisierung unserer Schüler/-innen. Wenn wir sie traumatischen Fakten über traumatische Ereignisse wie Tod und Verrat aussetzen, wenn wir ihnen verstörende visuelle Materialien zeigen, tragen wir Verantwortung. Diese Verantwortung hängt mit dem Trauma zusammen, das wir ihnen möglicherweise zufügen können. Wie gehen wir mit dieser Frage um? Wie können wir berücksichtigen, dass wir einen großen Einfluss auf unsere Schüler/-innen haben können, auch auf negative Weise, wenn wir sie diesen negativen Informationen und Bildmaterial aussetzen? Oder sollen wir diese doch verwenden? Wie können wir das richtig tun?
Gabriella Komoly: Es steht in den IHRA-Leitlinien für Bildung, dass Schülern und Schülerinnen keine Bilder von Leichen, toten Körpern aus dem Holocaust gezeigt werden sollen, weil dies sie vom Thema distanzieren und sie ablenken würde, außerdem ein mögliches Trauma neu auslösen könnte, von dem wir nichts wissen. Wir können persönliche Geschichten verwenden, wir dürfen die Ereignisse aber nicht zu bildlich beschreiben, weil dies nicht zum Lernfortschritt beiträgt, sondern eher dazu führt, dass die Schüler/-innen abschalten.
Patrick Siegele: Dem stimme ich absolut zu, und würde noch hinzufügen, dass Bildung und Lehrkräfte auch ihre Grenzen haben. Es ist auch vollkommen in Ordnung, wenn Lehrer/-innen nicht immer wissen, wie sie mit bestimmten Themen umgehen sollen. Das österreichische Bildungsministerium bietet zum Beispiel traumatisierten Schüler/-innen aus der Ukraine und ihren Eltern psychologische Hilfe an. Sie und auch die Lehrkräfte können sich darauf stützen, weil die Herausforderungen enorm sind. Wir können von Lehrkräften nicht erwarten, dass sie mit diesen Traumata umgehen. Sie brauchen Hilfe von außerhalb der Schulen.
Marta Havryshko: Diese professionelle Unterstützung ist sehr wichtig. Ich bin dankbar für Ihre Einblicke und Ihr Fachwissen sowie dafür, dass Sie ihr Wissen mit uns teilen. Ich danke auch allen Teilnehmenden, die unser Gespräch heute ermöglicht haben.
Zitierweise: Anja Ballis, Zélie Dauli, Marta Havryshko, Natalii Ivchik, Gabriella Komoly, Patrick Siegele, "Holocaust-Pädagogik im Schatten der Kriege", in: Deutschland Archiv, 30.09.2024, www.bpb.de/552607. Erstveröffentlichung in englischer Sprache in der Zeitschrift Externer Link: Eastern European Holocaust Studies. Bearbeitung der deutschen Fassung: Florian Zabransky (bpb). Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen sowie Diskutanten und Diskutantinnen. Sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk).