Irina Scherbakowa: Die gestohlene Erinnerung
80 Jahre Weltkriegsende. Über das Gedenken am 8. und 9. Mai 2025 in Russland.
Irina Scherbakowa
/ 3 Minuten zu lesen
Link kopieren
80 Jahre Weltkriegsende. Über das Gedenken am 8. und 9. Mai in Russland. Wladimir Putin nutzt den lang als stillen Gedenktag gefeierten 9. Mai für Sowjetpropaganda, Stalinverklärung und Militarismusshows. Mit welchem Nutzen? Ein Kommentar von Irina Scherbakowa. Sie ist Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial und wurde 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Jahrzehnte lang blieb der 9. Mai im sowjetischen Alltag der einzige Gedenktag, dem die Menschen eine tiefe persönliche Bedeutung beimaßen. In meiner Umgebung sprach niemand von einem „Feiertag“. Es war ein stiller Tag des Erinnerns und der Trauer. Zumal Stalin den 9. Mai zu einem Arbeitstag erklärt hatte – erst unter Breschnew wurde er 1965 zum offiziellen Feiertag erhoben.
Mein Vater und seine Freunde – wie er Frontkämpfer – trafen sich an diesem Tag nicht, um Siege zu feiern, sondern um derer zu gedenken, die gefallen waren. Das Erlebte lastete schwer auf ihnen. Schon als Kind verstand ich: Ihr Krieg war nicht von Triumph geprägt, sondern von blutiger, schmerzhafter Erfahrung. Sie hatten nichts gemein mit den bronzenen Soldaten, die Nazi-Standarten zu Füßen des Mausoleums warfen, auf dessen Tribüne Stalin thronte.
Mein Vater trug seine Orden nie. Er sagte: „Zu viele sind gefallen, bevor sie überhaupt einen Orden erhalten konnten.“ Er selbst hatte überlebt – eine schwere Verwundung im August 1943 rettete ihm das Leben, machte ihn aber bereits mit 19 Jahren zum Kriegsinvaliden. Wie viele seiner Freunde – auch sie Literaten – widmete er sein weiteres Leben dem Kampf um die Wahrheit über den Krieg: eine Wahrheit aus den Schützengräben, fernab vom offiziellen sowjetischen Geschichtsbild.
Dieses blendete all die dunklen Kapitel aus: die Säuberungen in der Roten Armee, bei denen die fähigsten Kommandeure vernichtet wurden; den zynischen Hitler-Stalin-Pakt, der den Feind an die sowjetischen Grenzen brachte; die katastrophalen Niederlagen der Roten Armee, in deren Folge Millionen sowjetischer Soldaten in deutsche Gefangenschaft gerieten. Erst mit der Perestroika begann eine zaghafte Befreiung vom verordneten Gedächtnis. Die Zahl der sowjetischen Kriegstoten wurde auf 28 Millionen korrigiert – viermal so hoch wie bislang offiziell zugegeben.
Das Schweigen über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung auf sowjetischem Boden wurde gebrochen; andere Opfergruppen rückten ins Bewusstsein: Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, die nach ihrer Rückkehr in die Heimat stigmatisiert wurden. Endlich kamen lange verdrängte Wahrheiten ans Licht: über Gewaltverbrechen, Plünderungen und Übergriffe der Roten Armee in Osteuropa und besonders in Deutschland, über Repressionen in der sowjetischen Besatzungszone, über NKWD-Speziallager.
Mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums, der Entstehung unabhängiger Staaten und der Demokratisierung Osteuropas wurde ausgesprochen, was lange nicht gesagt werden durfte: Die sowjetische Armee hatte Osteuropa vom Nationalsozialismus befreit – doch keine Freiheit gebracht. Jahrzehntelang blieben die befreiten Länder in neuen Fesseln – denen einer anderen Diktatur.
Es schien, als würde mit dem Ende des Kalten Krieges der Große Vaterländische Krieg endlich als Teil des gesamten Zweiten Weltkriegs verstanden werden – als würden der 8. und der 9. Mai symbolisch miteinander verschmelzen.
Doch mit Putins Machtantritt setzte eine neue Wende ein. Patriotismus wurde verzerrt, Nationalstolz zum Dogma erhoben, der Sieg über Nazi-Deutschland zur heiligen Quelle der neuen Staatsideologie. Leere Rituale und sowjetische Propaganda-Symbole wurden wiederbelebt, Stalin als großer Sieger verklärt, der 9. Mai zur Manifestation eines neuen Militarismus.
Mit der Annexion der Krim, der Aggression im Donbass und schließlich dem Krieg gegen die Ukraine wurde das wahre tragische Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg in Russland nicht nur untergraben – es wurde entstellt. Kriegslieder und Gedichte, einst Ausdruck von Schmerz und Erinnerung, werden heute auf Kundgebungen zur Rechtfertigung eines aggressiven Krieges gegen die Ukraine missbraucht. Das Verbrechen, das sich heute abspielt, soll unter einem neuen ideologischen Konstrukt verborgen werden: einer falschen Rekonstruktion der Geschichte im Dienst einer endlosen Kriegsvorbereitung.
in: Deutschland Archiv, 9.5.2025, erstveröffentlicht am 5. Mai 2025 in der Externer Link: taz, www.bpb.de/561951. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Die Publizistin und Übersetzerin Irina Scherbakowa Irina Scherbakowa ist Germanistin und Historikerin. Sie forscht zu Oral History, Totalitarismus, Stalinismus, Gulag und sowjetischen Speziallagern auf deutschem Boden nach 1945, Fragen des kulturellen Gedächtnisses in Russland und der Erinnerungspolitik. Ende der 1970er Jahre begann Scherbakowa ihre Sammlung von Tonbandinterviews mit Opfern des Stalinismus. Seit 1991 forscht sie in den Archiven des KGB. Nach ihrer Arbeit als Redakteurin für die Zeitschriften Sowjetliteratur, Literaturnaja gaseta und Nesawissimaja gaseta war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, am Institut für die Wissenschaft vom Menschen Wien, Gastprofessorin an der Universität Salzburg und von 1996–2006 Dozentin am Zentrum für Oral History der Russischen Staatsuniversität für Geisteswissenschaften in Moskau.
Bis zu deren endgültigem Verbot im Februar 2022 war Scherbakowa Mitarbeiterin der Internationalen Gesellschaft für Historische Aufklärung, Menschenrechte und Soziale Fürsorge Memorial (Moskau), die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie war außerdem Projektleiterin des allrussischen Schülerwettbewerbs »Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert«. Scherbakowa ist Mitglied des Kuratoriums der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar, der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und Vorstandsmitglied der Marion-Dönhoff-Stiftung. 1994 wurde sie mit dem Deutschen Katholischen Journalistenpreis, 2005 mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und 2014 mit dem Carl von Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik ausgezeichnet. 2022 erhielt sie den Marion Dönhoff Preis für internationale Verständigung und Versöhnung, 2024 den Hambacher Freiheitspreis 1832. Seit 2010 ist Irina Scherbakowa Honoray Member des Leibniz-Zentrums für Kultur- und Literaturforschung, sessen website auch dieser Biografie-Text entnommen ist (https://www.zfl-berlin.org/person/scherbakowa.html).
Am 15. Mai 2025 erscheint in München von Irina Scherbakowa, Filipp Dzyadko und Elena Zhemkova (Hrsg.) das Buch: „Memorial – Erinnern ist Widerstand“.