Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor! Hell aus dem dunklen Vergangenen leuchtet nun Zukunft hervor.
Leonid Petrowitsch Radin (1895), dt. Fassung: Hermann Scherchen (1918)
Es darf schon auffallen, wenn das Ende der ersten Diktatur auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert als Befreiung bezeichnet wird und der Zusammenbruch der zweiten Diktatur unter dem Begriff einer Wende in die Geschichte eingeht. Letzteres auch im Motto unserer Tagung, 35 Jahre nach den Ereignissen. Nicht in Parenthese, sondern offensichtlich mit größter Selbstverständlichkeit. Als handele es sich um einen historisch korrekten, abgesicherten Begriff. Dabei hatte den der damals frisch gekürte Generalsekretär der ostdeutschen Einheitspartei, Egon Krenz, geprägt, und zwar im Oktober 1989, als er wohl noch meinte, die Herrschaft von seinesgleichen wäre auf ewig gesichert. Nachdem derselbe Krenz kurz zuvor, Ende September 1989, noch demonstrativ seine Genossen Panzerfahrer vom Tiananmen-Platz in Peking besucht hatte, vermutlich, um sich über das Know-how für drastische Maßnahmen gegen Aufständische zu informieren.
Jedenfalls winkte der Generalsekretär der KpdSU, Michail Gorbatschow, am 7. Oktober 1989 ab und überließ die Entscheidungen über den weiteren Verlauf der Angelegenheiten den deutschen Genossen und deren Polizei, Militär und Geheimdienst – mit der berühmten, gut gemeinten Warnung, wer zu spät komme, den bestrafe das Leben. Dieses „Leben“ war dann die ostdeutsche Bevölkerung, die des ganzen sogenannten Überbaus so überdrüssig war, dass sie sich endlich weigerte, weiter als dessen sogenannte Basis zu funktionieren, und denselben Überbau, schön von der Basis her, hinwegfegte. Die entscheidende Mitteilung übrigens, die damals über diplomatische Kanäle verbreitet wurde, hieß: Die sowjetischen Truppen bleiben in den Kasernen!
Befreiung = Freiheit?
Nun sitzen wir aber auf mit dieser zweierlei Begrifflichkeit. Einmal hat die sowjetische Besatzung den Begriff der Befreiung implementiert, ein anderes Mal hat sie die sogenannte, die ganz große Wende, den Fall des Eisernen Vorhangs in Europa, nicht verhindert. Beide Male entstand ein Raum, der jeweils Freiheit verhieß. Wenn Sie das Wort gestatten: Freiheit. Hören Sie? Es ist ja längst ein ungewohntes in unserem Sprachraum: Freiheit. Auch wenn von 1920 an dieses Lied erklang, gesungen von Arbeiterchören, von Kommunisten, von Nazis, später bei offiziellen Aufzügen in der DDR, bei der Nationalen Volksarmee, aber auch auf Demonstrationen am 17. Juni 1953. Wie es heißt, war es sogar im Jahr 1989 aus gegebenem Anlass noch einmal zu hören: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit".
In den westlichen Besatzungszonen, in der späteren Bundesrepublik, tat man sich mit dem Begriff der Befreiung bekanntlich schwer. Gängig waren dort die alten Vokabeln von Zusammenbruch und Kapitulation oder vom Ende der Hitlerei. Erst die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Bundestag am 8. Mai 1985 aus Anlass des 40. Jahrestags des Kriegsendes setzte den Begriff der Befreiung auch im Westen in sein Recht. Der kluge Mann, selbst ehemaliger Offizier der Wehrmacht, sagte wörtlich: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
In der sowjetischen Besatzungszone, die sich ab 1949 als Deutsche Demokratische Republik bezeichnete, war selbstverständlich und von Anfang an von Befreiung die Rede, wenn es um das Kriegsende ging. Hier wurde unmittelbar und ohne allzu viel Reflexion die Sprachregelung des Siegers, der Stalinschen Sowjetunion übernommen. Das Problem der Bezeichnung des Ereignisses als Befreiung wurde nie benannt.
Man könnte es etwa so darstellen: Ein unklarer sozialer Korpus, ungefähr identisch mit dem deutschen Volk, auch mit dessen kämpfenden Teilen, also Wehrmacht, SS, Volkssturm, auch mit dessen nationalsozialistisch begeisterter und bis zum „totalen Krieg“ überzeugter ziviler Masse, zuzüglich einiger kriegsmüder Bewohner und Deserteure –dieser Korpus erlebte die Befreiung. Genaugenommen wurde also Deutschland von Deutschland befreit.
Was in der DDR, was für einen Burschen wie mich, der von 1964 bis 1976 die allgemeinbildende Schule absolvierte, noch so zu verstehen und für den eigenen Gebrauch zu übernehmen war: dass nämlich die ruhmreiche Sowjetarmee erst die deutsch besetzten Teile Osteuropas befreit hatte und in dem Zuge eben gleich das deutsche Volk, jedenfalls die östlichen Volksteile, zu denen auch die zählten, die später meine Urgroßeltern, Großeltern und Eltern wurden.
Dass der Begriff der Befreiung genauer nur auf die von Deutschen besetzten Gebiete sowie auf die Überlebenden der Konzentrationslager, der Todesmärsche, der Arbeitslager für Zwangsarbeiter und der Militärgefängnisse in Torgau anzuwenden war, sei wenigstens erwähnt. Aber auf unserer Seite der innerdeutschen Grenze blieb es dabei: Das deutsche Volk war von sich selbst befreit worden. Dass es sich für die Ostdeutschen real so verhielt, durfte ich später bei Reisen nach Westdeutschland erfahren: Ich blieb immer DDR, also ein DDR-Bürger, während ich dort immer umgeben war von Deutschen, von Angehörigen aller Generationen, die für sich selbst gar keine andere Bezeichnung kannten. Das, muss ich Ihnen sagen, bedeutete Fremdheit, grundsätzliche, zeigte mir die bei uns etablierte Entfremdung von der eigenen Geschichte und die habituelle Fremdheit in der Welt.
Diese Fremdheit und die daraus folgende Unbeholfenheit ist das Gegenteil von Freiheit. Das wusste ich schon, bevor ich bei Alexander Sinowjew las, was ein Homo sovieticus ist,
Ein Alltag aus Unfreiheiten
Die hatte sich eben nicht aus der Befreiung Ostdeutschlands ergeben. Ich lernte früh, dass die Welt, in der ich lebte, die Freiheit weder als staatliche Organisation noch als persönliche Erfahrung zu bieten hatte. Und ich erspare uns hier die Liste der alltäglichen Unfreiheiten, der Einschränkungen, der Bedrohungen individueller Freiheit. Lasse auch die Namen von politischen Häftlingen der berüchtigten Haftanstalt Bautzen II weg, darunter Namen von Personen, denen ich begegnet bin, deren Freund ich mich nennen durfte oder darf, die aus politischen Gründen inhaftiert waren. Es würde den Rahmen sprengen.
Erwähnenswert sind allerdings die sogenannten Sonntagsreden, die in Westdeutschland aus wechselnden Anlässen, vor allem jeweils zur Feier des Arbeiteraufstands vom 17. Juni zu hören waren. Diese Reden wurden nicht nur vom SED-Zentralorgan Neues Deutschland, sondern auch von der maßgeblichen westdeutschen Linken abgelehnt und diffamiert. Der Begriff der Freiheit war in die Fronten geraten zwischen konservativen und liberalen Kräften einerseits, die sich zum Beispiel für politisch Verfolgte in der DDR einsetzten, und andererseits der anschwellenden marxistisch-maoistisch-antikapitalistischen Strömung auf der Straße und zunehmend in der Politik, von den Zeiten des Vietnamkriegs bis über den NATO-Doppelbeschluss hinaus.
Für die Linke galt ein Begriff von Freiheit überwiegend dort, wo der Kapitalismus als Unterdrücker auszumachen war, in Kuba, in Vietnam, in Nicaragua, in Mosambik zum Beispiel, aber gern auch zuhause in der Bonner Republik, deren demokratischer Bestand als System, oft genug sogar als „faschistisches“ oder „Schweinesystem“ angegriffen wurde. Damit stimmte die westdeutsche Linke zu 99 Prozent mit der Propaganda der Einheitspartei im Osten überein.
Es ist ja nicht so, dass wir Schüler einer 7. Klasse in Berlin-Pankow im Sommer 1972 nicht gern stundenlang auf Fidel Castro gewartet hätten. Auch nicht so, dass er von einem großen Teil der Ostberliner Bevölkerung nicht über das verordnete Maß hinaus gefeiert und deshalb so lange aufgehalten worden war auf seiner Fahrt vom Flughafen Schönefeld bis zum Gästehaus der Regierung. Der Beifall für den bärtigen Mann in der Uniform mit der riesigen Pistolentasche an der Seite, wie er in der langgestreckten, offenen Limousine stand und uns zulächelte, war absolut echt.
Das Wort Freiheit benutzte keiner. Vielleicht rief jemand „Libertad“? Für uns Kinder stand da einer als Symbol für eine Revolution, wie wir sie hier ersehnten, wie wir sie uns hier vorstellten, hier wünschten. Wie gesagt fand dieses Ereignis im Jahr 1972 statt, Che Guevara war schon eine Weile tot, und wir blenden hier die weitere Geschichte Kubas aus. Übrigens wären wir später auch gern nach Nicaragua gegangen, um Ernesto Cardenal zur Seite zu stehen, oder nach Portugal zu den Nelkenrevolutionären. Leider war das dem gewöhnlichen DDR-Bürger verwehrt. Auch wenn er sich noch Illusionen über Revolutionen gemacht hätte. Stattdessen waren ja sowieso genug ostdeutsche Geheimdienstler und westdeutsche Genossen jeweils vor Ort.
Freiheit hieß Einsicht in die Notwendigkeit
Was ich damals in der sozialistischen Oberschule gelernt hatte, lautete schlicht: Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. So kam das Rudiment einer ehrwürdigen philosophischen Anschauung auf uns. Ideologisch war alles klar: Die Freiheit war erreicht in der Herrschaft der Arbeiter und Bauern, deren Organisationsform war die kommunistische Partei, in unserem Fall die SED. Mehr Freiheit brauchte es nicht. Siehe den Aufstand vom 17. Juni 1953, wo die ostdeutschen Arbeiter kurz zu sich selbst kamen, kurz ihre eigene Herrschaft anmahnten, die von der Einheitspartei usurpiert war und von sowjetischen Panzern in die Schranken gewiesen, ihre Freiheit, auch wenn sie „nur“ freie und geheime Wahlen forderten. Und wohl auch dieses Lied des 20. Jahrhunderts sangen: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit".
Ideologisch war alles bereinigt. Alle gemeinsam schritten wir auf dem breiten Weg zur klassenlosen Gesellschaft voran, logische Konsequenz aus der Geschichte der Klassenkämpfe. Und eine andere Geschichte hatte es nie gegeben: Sklaven kämpften um ihre Freiheit, Leibeigene kämpften um ihre Freiheit, sogar das Bürgertum tat es früher einmal, schließlich aber und endlich die Arbeiterklasse… Und nun, hier und heute in der DDR, musste sich niemand mehr um die Freiheit kümmern, der nicht dafür zuständig war. Der sogenannte historische Materialismus gab das banale Unterfutter zur banalen herrschenden Lüge.
Auf die Vergangenheit bezogen, war allzeit gut Reden von der Freiheit. Da referierte man gern über das 18. Jahrhundert. Und 1917 hatte Lenins Oktoberrevolution die Französische Revolution beerbt. In Deutschland 1848 und 1918 war es noch nicht gut ausgegangen, doch nun, nach 1945 fanden endlich gleich zwei Revolutionen statt in Folge der Befreiung: die bürgerlich-demokratische und etwa anderthalb Jahre danach die sozialistische oder so ähnlich. Enteignung und Kollektivierung und damit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, fraglos in Idealform und Permanenz. Wie gesagt, ich hatte es so in der Schule gelernt, und das saß.
In einem Theatersessel in Berlin-Hauptstadt-der-DDR sitzend, sah ich 1981 die spannendere, die ungeschminkte Variante eines wirklich revolutionären Geschehens auf der Bühne: Es handelte sich um „Dantons Tod“ von Georg Büchner. Christian Grashof spielte Robespierre und Danton in einer Doppelrolle, das war genial. Als Robespierre brachte er die historische Notwendigkeit des revolutionären Massenmords bis her zu Lenin, Stalin und Pol Pot auf den Punkt: „Die Unterdrücker der Menschheit bestrafen, ist Gnade; ihnen verzeihen, ist Barbarei.“ Als Danton kam aus seinem Mund der gültige Satz zur Lage der Dinge im 20. Jahrhundert: „…die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.“ Den Satz kannten wir inzwischen in Variation auch von Wolfgang Leonhard
Ich war vierundzwanzig Jahre alt und wusste hier im Deutschen Theater, ich war nicht allein mit meiner Sehnsucht nach dem freien Gespräch, nach dem Ende der Lüge. Obwohl das Verbot der Klaus-Renft-Combo 1975, der einzigen DDR-Rockband, die ich mochte, und die Ausbürgerung des kommunistischen Kommunismus-Kritikers
Der Exodus eines guten, eines sehr guten Teils der künstlerischen Elite des Ostens im Nachgang dieser Ausbürgerung und des eigentlich recht kleinlauten, vorsichtigen Protests dagegen hatte die DDR verändert. Von Jurek Becker bis Reiner Kunze, von Klaus Schlesinger und Bettina Wegner bis Sarah Kirsch und Günter Kunert, von Erich Loest bis Manfred Krug waren sie weg. Und das hieß für ihre Leser oder Zuschauer in der DDR, dass sie hier nicht mehr existierten. Den wilden Künstler A. R. Penck nicht zu vergessen, der nach vielerlei Schikanen 1980 in den Westen gegangen war.
Viele mussten übrigens gar keinen Ausreiseantrag stellen, darunter auch eben genannte, und reisten trotz Mauer und Schießbefehl in den Westen und wieder zurück in die DDR. Das galt neben Sportlern und Sportlerinnen, neben Orchestern und Tanzensembles vor allem für die individuell westreisenden Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Zum Beispiel auch für den deutsch-deutschen Theatermann Heiner Müller. Ich nenne ihn nur stellvertretend, denn er tanzte auf der Mauer und dichtete sogar davon:
„MANCHMAL WENN ICH MEINE PRIVILEGIEN GENIESSE / Zum Beispiel im Flugzeug Whisky von Frankfurt nach (West)Berlin / Überfällt mich was die Idioten vom SPIEGEL meine / Wütende Liebe zu meinem Land nennen / Wild wie die Umarmung einer totgeglaubten / Herzkönigin am Jüngsten Tag“.
Falls sie noch nicht vorliegt, würde ich gern eine kleine Kulturgeschichte der privilegierten Grenzwanderschaft der ostdeutschen Intelligenzija anregen. Beginnend vielleicht eben mit der Zunft der Schriftsteller, beginnend mit Stephan Hermlin und Stefan Heym, mit Christa und Gerhard Wolf, Franz Fühmann und Jurek Becker, weiter mit Volker Braun, Klaus Schlesinger, Bettina Wegner, Ulrich Plenzdorf, bis hin zu Wolfgang Hilbig, Monika Maron, Uwe Kolbe und Bert Papenfuß-Gorek. Jede und jeder von ihnen ging irgendwann auf je eigene Weise auf Reisen gen Westen. Sie alle kannten den Tränenpalast vom Durchgang für Diplomaten und Dienstreisende, die ansonsten eher widerwärtige Grenzübergangsstelle im Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Manche hatten dort – Privileg hin oder her – auch Erlebnisse, die mit Drangsalierung und Erniedrigung kaum hinreichend bezeichnet sind. Manche überquerten zu ihrer Zeit auch den Checkpoint Charlie, als es der Masse der DDR-Bürger noch verboten war.
Aber zurück noch einmal zur Freiheit innerhalb der gewohnten Grenzen, zurück in die sozusagen jungfräuliche Lage, aus der heraus auf die Bewegungs- und Reisefreiheit noch ein normaler Blick fiel, naturgemäß also auf ihre Beschränkung. Wir jungen Dinger vom Berliner Prenzlauer Berg oder vom Kaßberg in Karl-Marx-Stadt oder aus der Dresdner Neustadt, wir hatten ja doch schon einiges von der Freiheit gehört. Meistens aus dem Westradio. Für mich begann es neben Casey Kasems American Top 40 auf AFN spätestens im Fernsehen mit dem Beat-Club, mit den Rockbands aus England und den USA, mit den Kinks, den Doors, mit Eric Clapton, mit Paint It Black und Street Fighting Man von den Stones, mit Janis Joplin – Freedom‘s just another word for nothing left to lose – und Jimi Hendrix, mit dem Soundtrack und mit den Bildern von Woodstock.
Zeitgleich hatte uns aber – und ich hoffe, hier wird es wieder spannend – der PROGRESS Filmverleih der DDR in den 1970er Jahren reihenweise Filme vorgeführt, zwischen denen es eine augenfällige Verbindung gab. Um es wissenschaftlich zu sagen: Als hätte jemand den ostdeutschen Kinos zum Thema gestellt, was die Philosophie „negative Freiheit“ nennt. Ich würde übrigens auch heute noch, mit unauffälligem Hinweis auf meine Diktaturerfahrung, die sogenannte negative Freiheit als elementar bezeichnen. Die ganze Sache mit dem kategorischen Imperativ als Freiheit in Verantwortung wird gesellschaftlich erst wirksam, wenn du – um es mit einem Urwort aus dem Deutschen Wörterbuch zu sagen – ein Freihals bist.
Nun liefen also im DDR-Kino – und ich beschränke mich auf Filme, die ich damals selbst gesehen habe unter einhundert anderen – nacheinander die folgenden:
1. „Blutige Erdbeeren“, original „The Strawberry Statement“ von 1970. Kein bedeutender Film. Aber stellen Sie sich das in Ostberlin vor: Studentenrevolte 1968 in den USA, gedreht in San Francisco. Die Hügel von Haight-Ashbury zum Hippie-Soundtrack: Buffy Sainte-Marie; Crosby, Stills and Nash; Neil Young; Thunderclap Newman; John Lennon. Ich war vierzehn und, glauben Sie mir, hochgradig begeistert und verwirrt von all der Lust an der Freiheit und der freien Liebe und deren Ende im Tränengas der Nationalgarde zum Schluss des Films, als ich mich plötzlich draußen zwischen den düsteren, verrotteten Altbauten meiner Heimatstadt wiederfand.
2. „Papillon“, die Verfilmung mit Steve McQueen – das Gefängnisdrama, aufgeladen mit mehr Sehnsucht nach sogenannter negativer Freiheit, nach Freiheit ohne Begrenzung, Freiheit ohne Mauern als irgendetwas sonst, das gab es 1973. Und als wäre das noch nicht genug vom Sog der Freiheit von weit her, zeigte uns der PROGRESS Filmverleih im selben Jahr:
3. Das Musical „Cabaret“. Dazu muss ich nichts sagen. Hier gab es vor allem reichlich von der positiven Freiheit. Das Stück, das Liza Minelli zum Weltstar machte, war eine einzige Aufforderung, selbstbewusst durchs Leben zu gehen, zu sich und der eigenen Eigenart zu stehen, und zwar unter den widrigsten Umständen.
4. und zum Thema passte selbstverständlich „Der Graf von Monte Christo“, neu verfilmt 1975 mit Richard Chamberlain, die Freude an der Rache für das Unrecht, unschuldig im Gefängnis gesessen zu haben, gehörte dazu.
Der Höhepunkt dieses Genres, Höhepunkt an Kulturleistung im Dienste der Freiheit in der Deutschen Demokratischen Republik, stand allerdings noch aus:
5. „Einer flog über das Kuckucksnest“ von 1975. Ich muss auch hier nicht viel anmerken. Hollywood at it’s Best! Jack Nicholson spielt den hemmungslosen Helden der negativen Freiheit. Sein McMurphy zieht die Psychiatrie dem Knast vor, gerät damit vom Regen in die Traufe, spielt mit dem System, sprengt es fast und wird von ihm gebrochen. Ein anderer geht am Ende stellvertretend für ihn und stellvertretend für die Zuschauer auf und davon. Das End‘ von der Geschicht‘, der Blick in die große Freiheit, kommt uns in der DDR durchaus utopisch vor. Was wollte uns der PROGRESS Filmverleih damit sagen?
Ich möchte diesen Ausflug in die populäre Freiheitskultur der Deutschen Demokratischen Republik um nur zwei Anekdoten ergänzen. Was mir ein wenig leidtut, denn das Thema will mir – während wir hier wie die letzten Zeugen des 20. Jahrhunderts aussehen – ozeanisch erscheinen. Mein Freund, der Bildhauer und Graphiker Hans Scheib, den Sie sich als genialen Erben von Dresdner Expressionismus und Berliner Klassizismus vorstellen dürfen, hält es nicht nur in seiner Kunst mit der Tradition. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre unterhielt er in Berlin-Prenzlauer Berg neben seinen eigenen Arbeitsräumen ein zweites Atelier in einem Hinterhaus.
Dort fanden Ausstellungen statt, bekamen auswärtige Künstlerfreunde zeitweise Gastatelier, und vor allem wurde gefeiert, Geburtstage, Hochzeiten oder Weihnachten. So auch im Jahr 1981. Ich erinnere mich nicht mehr des genauen Datums, man schrieb den 16. oder den 19. Dezember. Die Tafel war bereitet. Und es war ein Projektor aufgestellt. Der Künstler und Freund vieler Künstler Jürgen Böttcher alias Strawalde zeigte auf 8-mm-Film Übermalungen von Postkarten. Das war sehr schön. Dunkle Linien, Kreise, Schlangen und Zeichen überformten und überkrochen in bewegter Folge Kunstpostkarten, also Kunstwerke des Barock und so weiter. Strawalde ist ja im zweiten Beruf Dokumentarfilmer, dies hier war also eine Zwischenform, eine sehr schöne Spielerei des Meisters.
An Polens Freiheitskampf desinteressierte Künstler?
Nun schrieben wir aber 1981, die Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember lag keine Woche zurück. Mindestens ein oder zwei der Feiernden, sagen wir, die Dichterin Katja Lange-Müller und der Dichter Uwe Kolbe, saßen nebeneinander und hatten sich über die Lage in Polen ausgetauscht. Wie absehbar Jaruzelskis Coup gewesen sei, wie bösartig zweckmäßig zur Vermeidung des Einmarschs der Sowjets, der schlimmeren Variante der Niederschlagung von alldem, was die Gewerkschaft Solidarność, was der Aufruhr inzwischen in Polen errungen hatte.
Da stand er, Strawalde mit seinen freundlichen Postkartenübermalungen, mit seinem L’art pour l’art. Ich war entsetzt über seine Ignoranz und ging ihn an. Freund Scheib vermittelte, beruhigte, erklärte die Kunst, den Charakter des Fests und so weiter.
Aber ich wusste, wie wenig die Künstler- und die Dichterfreunde sich für das interessierten, was in Polen stattgefunden hatte. Ein Gewerkschaftsführer mit der Schwarzen Madonna am Revers kam in diesem Milieu nicht gut an. Die Rolle des polnischen Papstes in der Angelegenheit der polnischen Freiheitsbewegung wurde hier nicht goutiert. Der in alldem selbstverständlich sichtbare polnische Nationalismus im Verhältnis zur sowjetischen Besatzung, zum Sowjetimperium überhaupt. Ebenso, wie man das auf bescheidenere Weise in der Tschechoslowakei der Charta 77 sah oder wieder anders in entsprechenden Kreisen Ungarns. All das war mit der üblichen deutschen, beileibe nicht nur ostdeutschen Geschichtsauffassung und Einsicht in das Europa nach dem Potsdamer Abkommen wenig vereinbar.
Ich blieb bei meinem Erschrecken und ließ mich nur für den Augenblick beruhigen. Das Wesen dieser Freiheit, aus osteuropäischer Sicht nur antisowjetisch und also antikommunistisch zu denken, zu fühlen, zu leben – ich begann, es zu erfassen. Und das Gespräch über diese Art Freiheit mit den potenziellen und den wirklichen Freunden in Warschau, in Prag, in Budapest schmerzlich zu vermissen.
Nebenbei bemerkt, lebten nur ein paar Jahre nach jener Weihnachtsfeier viele der dabei Anwesenden schon in Westberlin. Darunter auch die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, deren erstes Buch mit Erzählungen aus der DDR 1986 im Westen erschien
Einer, der das 20. Jahrhundert in Ost und West ganz anders überschaute und in eigener Konsequenz damit lebte, war der Schriftsteller Franz Fühmann. 1922 gebürtig im Riesengebirge, Krieg, Gefangenschaft in der Sowjetunion, Umerziehung zum Stalinisten, im Gefolge des Ungarnaufstands 1956 geläutert und erst recht nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, ein großer deutscher Nachkriegsschriftsteller in der DDR, den ich als blutjunger Kerl, 1975, zu meinem Glück kennenlernen durfte. Langsam, zu langsam begriff ich, wie er die Zusammenhänge sah. Wohl hatte ich manches seinen Büchern entnommen, besonders jenem, das er 1973 zu seinem eigentlichen Eintritt in die Literatur erklärt hatte, obwohl er seit den 1950er Jahren mehr als ein Dutzend Bücher veröffentlicht hatte, die zum Teil verfilmt worden waren. Nun aber dieses Buch, „Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens“.
Den letzten Halbsatz bitte ich sich kurz zu merken. Er liefert, wie ich glaube, den Grund für eine spätere Aussage Fühmanns, die ich als private Erinnerung nachher ans Ende stellen möchte.
Dieser Mann also befasste sich neben seinem vielfältigen Umgang mit Literatur, Kunst, Geschichte, Psychoanalyse und Philosophie. schon aus biografischen Gründen mit allem, was es zur Freiheit oder Unfreiheit der Intellektuellen im 20. Jahrhundert zu wissen gab. Von ihm hatte ich Orwells Romane und Koestlers „Sonnenfinsternis“, von ihm hatte ich auch das Suhrkamp-Bändchen „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ von György Konrád und Iván Szelényi. Von ihm hatte ich die Limesbände von Gottfried Benn und das Stuttgarter Reclamheft mit Gedichten von Stefan George, Dichtern, die in der DDR zu der Zeit auf dem Index standen. Von ihm kannte ich Helga M. Novaks Gedichte, die ja die DDR schon 1961 verlassen hatte, und ihre Autobiographie „Vogel federlos“. 1984 verstarb Franz Fühmann, ich hielt, viel zu jung, die Grabrede, er hatte mich testamentarisch darum gebeten. Von ihm bewahre ich einen besonderen Schatz, der unser Thema in Gänze berührt.
Das Buch stammt nicht aus einem der Westberliner Antiquariate, wo er die einschlägige Literatur aufkaufte und an uns Jüngere weiterreichte, weil er wusste, dass wir ohne die unterdrückten Teile der Weltliteratur, ohne die Bücher der unorthodoxen Ex-Spanienkämpfer, der Abweichler und Renegaten nicht vorwärtskämen mit unserem Denken und Schreiben. Dass wir nicht frei sein würden, ohne die Konterbande zu kennen, die wie in Heinrich Heines Tagen über die Grenze geschmuggelt werden musste.
Dieses Buch nun entnahm er seiner privaten Bibliothek und legte es in meine Hand. Es war ein Exemplar von „Verführtes Denken“, gedruckt in den 1950er Jahren. Sein Autor hieß Czesław Miłosz. Der größte polnische Dichter des 20. Jahrhunderts, Nobelpreisträger 1980. Von 1945 bis 1949 Botschafter des neuen, kommunistischen Polens, ging er mit dem Erscheinen dieses Buches 1953 ins Exil. Das Buch hat deswegen so viel Einfluss gehabt und sollte, wie ich finde, immer wieder gelesen werden, weil hier sehr zeitig ein Schriftsteller mit intimer Kenntnis der Mechanismen totalitärer Herrschaft und der Anpassung von Intellektuellen an diese Form der Herrschaft reinen Tisch gemacht hat. Und zwar ohne Schaum vor dem Mund. In einem leise darstellenden Ton, mit Bezug auf den Roman „Unersättlichkeit“ des Avantgarde-Dichters Witkacy, der sich unmittelbar nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Polen, nach dem Vollzug des Hitler-Stalin-Pakts 1939 das Leben genommen hatte. Mit Bezug auf die altpersische Methode des Ketman, die Art also, wie einer, der nicht an die herrschende Religion oder Doktrin glaubt, sich anpassen und verstellen und nicht nur überleben, sondern Karriere machen kann. Das allerdings um den Preis des Verrats an sich selbst und an anderen.
Wer nun wie Miłosz mitten im aufkommenden Kalten Krieg Ross und Reiter der Unfreiheit nannte und aufklärte, wie ihr zu entkommen wäre, unmissverständlich Partei ergriff für die bürgerliche Demokratie, der geriet damals an den internationalen Pranger. Der Einfluss Stalins unter westlichen Intellektuellen war während des Weltkriegs und danach überaus groß. Man lese dazu das Nachwort von George Orwell zu seinem Roman „Farm der Tiere“, wo es unmissverständlich heißt: „Falls Freiheit überhaupt irgendetwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“
Solschenizyn als Wendepunkt
Das Denken maßgeblicher Intellektueller der freien Welt nahm zur damaligen Jahrhundertmitte noch einmal und erst recht die marxistische, linke Richtung. Man sah dabei gern über das meiste hinweg, was das Sowjetimperium ausmachte. Ist es nicht so, dass erst die Veröffentlichung von Solschenizyns Roman „Der Archipel Gulag“ 1973 einen deutlicheren Wendepunkt gerade in der intellektuellen Welt Frankreichs einleitete? Mehr als die meiste Aufklärung davor, das längst akkumulierte Wissen über die Vernichtungslager Stalins, über das Aushungern der Bauern in der Ukraine, über den Aufstand der Arbeiter in Ostberlin 1953, über den Ungarnaufstand 1956, über die Besetzung der Tschechoslowakei 1968, über die Aufstände polnischer Studenten und Arbeiter von 1968 an? Fand das alles zu weit jenseits der westlichen intellektuellen Syllogismen oder, wie man heute sagt, ihrer Bubble, ihrer Blase statt? Die Einsicht im Zusammenhang mit dem „Archipel Gulag“ kam sehr, sehr spät und folgte auf sehr viel Schweigen, viel Nonchalance angesichts der nicht zu überhörenden Hilferufe der osteuropäischen Intelligenzija. Es ist da reichlich verdrängt worden. Was müsste man alles noch einmal nachvollziehen, wieviel Bände Sartre nachlesen, um zu verstehen, warum?
Lassen Sie mich in unserem Zusammenhang auch das Folgende noch erwähnen: Czesław Miłosz gehörte zu dem Kreis um den Kongress für kulturelle Freiheit von Melvin J. Lasky, der Zeitschriften wie den „Monat“ in Berlin und „Preuves“ in Paris verantwortete. Ebenso wie Arthur Koestler, Hannah Arendt, Albert Camus, Francois Bondy, Ignazio Silone, Margarete Buber-Neumann, Manès Sperber, Francois Furet, Denis de Rougemont und Hans Sahl. Ebenso wie Mircea Eliade, André Malraux, W. H. Auden, Thornton Wilder.
Ich will Sie nicht weiter in Verlegenheit bringen. Hier stehe ich als einer, der das 20. Jahrhundert immer wieder von vorn zu verstehen sucht. Der in die Bibliotheken vordringt und manchen Namen und Zusammenhängen leider erst so spät zum ersten Mal begegnet. Dem übrigens der Schock und die Häme nichts ausmachen, als 1967 herauskam, dass die C.I.A. die Aktivitäten des Kongresses für kulturelle Freiheit finanziert hatte. Ich hole nach, ich lerne die Denker des Kongresses als freie Geister kennen, und der amerikanische Geheimdienst scheint mir für den Fall ein besserer unsichtbarer Partner gewesen zu sein als der KGB.
Franz Fühmann hatte mir mit dem Buch „Verführtes Denken“ auch etwas über sich selbst in die Hand gegeben, Aufklärung über seinen eigenen Weg, von dem er später in seiner Autobiografie „Vor Feuerschlünden“
Fühmanns Lehren: „Ihr, Ihr Jungen müsst raus in die Welt, reisen, frei sein“
Fühmann hatte nicht nur dafür gesorgt, dass meine ersten Gedichte und später mein erster Gedichtband in der DDR erscheinen konnten, hatte sich unermüdlich für Manuskripte abgewiesener und zensierter Autoren verwendet, sondern manchmal auch dafür, dass dieser und jener nicht ins Gefängnis kam oder wenigstens freigelassen und in den Westen abgeschoben wurde. Zu viele Namen, zu viele alte, graue, schmutzige Wäsche, werden Sie vielleicht denken. Was ich tatsächlich erst spät verstanden habe, so, als hätte ich sie ausgeblendet, waren ein paar Sätze, die Franz Fühmann einmal recht unvermittelt unter vier Augen zu mir sagte. Ich weiß es nicht mehr zu datieren. Vielleicht trug er schon das Korsett, weil im Zuge einer Krebstherapie Wirbelkörper ausgeschält worden waren. Vielleicht wuchtete er sich danach schon, jede Hilfestellung verweigernd, hoch aus einem meiner alten Korbsessel. Die Sätze schockierten mich erst später, als sie langsam auf den Boden meines Nachdenkens fielen, als ich begriff, und zugleich bereits selbst so weit war, einen entsprechenden Antrag zu stellen, in meinem Fall den auf ein Visum zur mehrmaligen Ausreise aus der DDR, das ich zum Umzug in den Westen benutzte.
Sie haben den Halbsatz noch im Ohr, warum dieser Schriftsteller sich auf den Sozialismus festgelegt hatte, angesichts der Gaskammern von Auschwitz. Nun sagte er zu mir, dem Angehörigen der Enkelgeneration, dessen Denken einerseits dieselben historischen Referenzen, andererseits aber eine Welt ohne die Berliner Mauer nur vom Hörensagen kannte: „Die Christa [Wolf] und ich, wir können hier nicht weg. Wir müssen so weitermachen. Aber Ihr, Ihr Jungen müsst raus in die Welt, reisen, frei sein.“
Wende ist ein Wort, das nicht passt auf den Vorgang, der den Eisernen Vorhang weggerissen hat. Wende ist nicht, was die Menschen in der zusammenbrechenden und sich rasant verwandelnden DDR und Ex-DDR in den Stand der Freiheit versetzte, der sich rasch anfühlen konnte wie ein Aufprall nach dem ersten Flugversuch. Freiheit von politischem, ideologischem Zwang, von Gleichschaltung der Medien, von Gängelung, Polizeistaat und Willkür, das heißt, ja, zunächst Freiheit von diesem und jenem, das vorher und – bitte nicht zu vergessen – bis zum letzten Augenblick diese ganze Gesellschaft gefesselt und gelähmt hatte.
Es ging da nichts rückwärts wie nach der Wende eines alten Kahns. Der historische Glücksfall, genutzt und gestaltet von sehr verschiedenen Akteuren in Ost und West, öffnete die Welt und veränderte sie radikal. Freiheit ist nach dem ersten Rausch auch schwer auszuhalten, sie muss, wenn ich es recht sehe, sogar gestaltet werden. Ich weiß noch, wie es war, als eine Freundin in Amsterdam, die ich als Neuling in der Stadt gewohnheitsmäßig fragte, wohin es denn heute ginge, antwortete: Das musst du doch selber wissen! Beinahe hätte ich losgeheult. Weil auf die sogenannte negative Freiheit, die verheißt, du kannst aufbrechen, wohin du willst, die andere folgt, die positive Freiheit, dich zu entscheiden, wohin du willst und dann, mag sein, in der Folge auch die Freiheit festzulegen, wo du hingehörst.
Zitierweise: Uwe Kolbe, "Hat da jemand „Freiheit“ gerufen? Zur Verteidigung eines guten Wortes“, in: Deutschland Archiv, 17.5.2025. Link: www.bpb.de/ 562188. Der Beitrag ist Teil einer Serie ausgehend von Diskussionsbeiträgen auf einer Tagung von Goethe-Institut und bpb am 7. Februar 2025 in Paris und Leitung des Kunsthistorikers Eckhart Gillen. Es folgen in Kürze weitere Beiträge in dieser Serie von: Dr. Gabriele Dietze, Prof. Sibylle Goepper, Hans-Peter Lühr, Michaela Mai" aus der Uni Jena, Annette Simon und Matthias Zwarg, sowie weitere Beiträge zur Kunst der DDR und ihren Stellenwert heute von Eckart Gillen, Volker Tannert und Lutz Wohlrab.
QuellentextZwischen Freiheit und freiem Fall. Hat der deutsche Bilderstreit in Paris ein Ende gefunden?
Zur Tagung: Ausgewählte Beiträge der Tagung „35 Jahre Wende“ im Goethe-Institut Paris vom 7. bis 8. Februar 2025. Ein Überblick von Eckart Gillen:
Der Umbruch 1989/90 in der DDR war eine Chance, sich von der staatlichen und parteilichen Gängelung zu befreien, eine Chance, den Schritt ins Offene zu wagen. Zugleich war es ein Sprung ins kalte Wasser des Kapitalismus. Es war ein Systemwechsel: Über Nacht änderten sich schlagartig alle Regeln. Die vormundschaftliche Sicherheit des DDR-Staates, die alle Risiken ausschloss, schlug um in die marktwirtschaftliche „Freiheit“, die jeden zwang, jetzt für sich selbst und alleine Verantwortung für den Lebensunterhalt und die eigenen Produktionsverhältnisse zu übernehmen. Die bisherigen Auftraggeber waren verschwunden. Die Ateliermieten explodierten, neue Eigentümer_innen aus dem Westen standen vor der Tür. Ein völlig neuer Kunstbegriff bestimmte den Kunstmarkt. Galerist_innen, die Ostkunst anboten, wurden von den Kunstmessen ausgeschlossen, weil die ostdeutschen Künstler/innen als unmodern galten oder als angepasste Auftragskünstler_innen.
Für die jungen Künstler/innen, die nach dem Mauerbau geboren wurden und nicht mehr an die Utopie des Sozialismus glauben wollten, war es wiederum ein Sprung ins Offene. Sie reisten nach New York, nahmen Stipendien des Westberliner Senats im PS 1 an und zogen in die Welt hinaus und präsentierten ihre Kunst in Venedig, Paris, Los Angeles und andernorts, ob Bilder, Filme, Musik oder Mode. Manche aus der älteren Generation haderten mit der neuen Beliebigkeit einer auf formale Innovation ausgerichteten Kunstwelt und mauerten sich ein in ihr Ressentiment.
Ganz anders wurde die Wende von denen empfunden, die bereits vor dem Fall der Mauer die DDR verlassen hatten. Sie hatten einen harten Schnitt gemacht und waren frei von Heimwehgefühlen nach der „sozialistischen Wärmestube“. Der Fall der Mauer war für sie kein Anlass zum Jubeln, er löste vielmehr das Gefühl aus, wieder von der Vergangenheit eingeholt zu werden.
In intensiven Gesprächen und Analysen hat die hier in Auszügen dokumentierte Tagung vom 7. und 8. Mai 2025 in Paris diesen historisch einmaligen Umbruch nach 35 Jahren untersucht, um die Dramatik dieser gesellschaftlichen und kulturellen Transformation, die noch lange nicht abgeschlossen ist, in Erinnerung zu rufen. Und auch zu fragen: Was bleibt?
Die Diskussionen mit den französischen Kunsthistoriker_innen und Germanist_innen, in Paris haben den oft verkrampften innerdeutschen Dialog erweitert und bereichert durch den unbestechlichen Blick von außen. Alle Teilnehmenden waren sich mit dem Publikum am Ende der Tagung einig, dass die Differenz der Kunstbegriffe, die der Kalte Krieg befeuert hat, schon heute im Wesentlichen überwunden ist – auf jeden Fall aber von zukünftigen Generationen überwunden werden wird.
Zusätzlich zu dieser Publikation werden die französischen Vorträge und die deutschen Beiträge in französischer Übersetzung in der Zeitschrift Allemagne d‘aujourd’hui publiziert werden (E.G.).
Geplant sind bis Ende Mai 2025:
Eckhart Gillen: Die Freiheit geht zum Angriff über auf die Utopie des Kommunismus
Stichworte zur Differenz der Kunstbegriffe im geteilten Deutschland
Hans-Peter Lühr: Eine Anmerkung zum Beitrag von Eckhart J. Gillen
Hans-Peter Lühr: Neue Bürgerschaftlichkeit und neues Menschenbild.
Die ostdeutsche Gesellschaft als Lerngemeinschaft - Das Beispiel Dresden
Michaela Mai: Zwischen Hoffnung und Ernüchterung
Die ‚Wende‘-Zeit im OEuvre der Leipziger Malerin Doris Ziegler
Uwe Kolbe: Hat da jemand Freiheit gerufen? Zur Verteidigung eines guten Worts
Sibylle Goepper: Von einem Georg zum anderen: Kontinuitäten und Metamorphosen im Werk von Jan Faktor seit 1989
Gabriele Dietze: Totenreklame und Waldmaschine - eine Re-Lektüre 40 Jahre danach
Matthias Zwarg: Was bleibt? Christa und Gerhard Wolf - zwischen Hoffnung und Enttäuschung
Annette Simon: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin - HEIMAT als ambivalenter Ort.
Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.