Reflexionen über Christa und Gerhard Wolf: Was bleibt?
Matthias Zwarg
/ 20 Minuten zu lesen
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Vom Wirken des Schriftstellerehepaars Christa und Gerhard Wolf in der DDR – zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Und von der Frage: „Wohin sind wir unterwegs?“. Ein Vortrag aus Paris.
Im Frühjahr 1983 standen eines Vormittags plötzlich zwei Männer in der Stadt- und Kreisbibliothek des erzgebirgischen Städtchens Zschopau – damals 12.000 Einwohner/innen, berühmt für sein einst weltgrößtes Motorradwerk – wiesen sich als Mitarbeitende der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit aus und fragten, ob die Bibliothekarinnen und der eine Bibliothekar, der ich war, ihnen sagen könnten, welche Leserinnen und Leser das ein halbes Jahr zuvor erschienene Buch „Kassandra“ von Christa Wolf ausgeliehen hätten.
Diese Ausleihen wurden damals, vor dem Computerzeitalter, auf kleinen Karteikarten, namentlich vermerkt. Und wenn die Karteikarten voll waren, wurden sie bald weggeworfen. Eine frühe Form des Datenschutzes. Und wie es der Zufall so wollte – als die beiden Herren fragten, war die Karteikarte zu „Kassandra“ … leer. Sagten zumindest die BibliothekarInnen. Und so mussten die Männer unverrichteter Dinge wieder abziehen. Kurze Zeit später erfuhren wir den Anlass ihrer Nachfrage: Sie suchten nach dem Urheber eines Graffitos in einer Zschopauer Eisenbahnunterführung. Dort hatte jemand mit weißer Farbe groß an die Mauer geschrieben: „Um Kriege zu verhindern, müssen auch Menschen in ihrem jeweils eigenen Land Kritik an den Missständen ihres eigenen Landes üben.“ Ein Satz aus der um einige Zeilen gekürzten, einige Monate zuvor erschienenen DDR-Ausgabe von Christa Wolfs Buch „Kassandra“, mit den Frankfurter Poetikvorlesungen, die die Autorin „Voraussetzungen einer Erzählung“ genannt hatte. Der Satz stammt aus der dritten Vorlesung.
„Bückware“ Literatur
Dass die Staatssicherheit in der Bibliothek nachfragte, war aus ihrer Sicht durchaus sinnvoll – Christa Wolfs Bücher waren rar, gehörten zur „Bückware“ in den Buchhandlungen, wo die Stasi auch schon nachgefragt hatte. Die Bücher wurden in den Bibliotheken oft ausgeliehen. Den Urheber des Graffitos fand die Staatssicherheit nie. Ich habe ihn später kennengelernt:, ein mutiger, junger Mann.
Auf diese Anekdote kam ich, weil sie zeigt: Es gab und es gibt Bücher, die selbst Taten sind, und es gab und gibt Bücher, die zu Taten anregen – wie zu der mutigen Mauerinschrift und der Verweigerung einer Auskunft, die nur ein kleiner Akt des Widerstands oder der Verweigerung war – aber angeregt hatte ihn Christa Wolf selbst.
Eingefallen war mir dies auch, weil ich überlegt habe, was ich erzählen kann – über das, „was bleibt“ von Christa und Gerhard Wolf, von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, ihren Werken. Ich könnte es ganz kurz machen und auf die Frage „Was bleibt?“ so antworten, wie Christa Wolf auf die Frage „Wohin sind wir unterwegs?“ antwortete: „Das weiß ich nicht.“ Es ist der letzte Satz aus dem letzten zu Christa Wolfs Lebzeiten erschienenen Buch, „Stadt der Engel“, das Zeugnis eines Lebens, eines Menschen, der sich immer wieder selbst in Frage stellte.
Einige von Ihnen haben die beiden sicherlich besser gekannt als ich. Ich hatte damals gerade begonnen, als Lokaljournalist zu arbeiten, und hielt es für wichtiger, mit den Leserinnen und Lesern des früheren „SED-Bezirksorgans“ gemeinsam zu lernen, was Presse- und Meinungsfreiheit ist. Ich bin also eigentlich nur ein Leser – nicht einmal aller, aber vieler Texte, die Christa Wolf geschrieben, sowie der Bücher, die Gerhard Wolf herausgegeben hat. Was also kann ich Ihnen erzählen, das Sie noch nicht wissen? Wie kann ich wissen, was bleibt?
Ich kann Ihnen nur sagen, was für mich bleibt und dass dies auch mit dem Städtchen Zschopau zu tun hat, in dem ich die Wende erlebte, und in dem ich jetzt wieder wohne – unweit der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz. Christa Wolfs Bücher wurden oft gelesen, waren in der Zschopauer Bibliothek meist ausgeliehen, so wie eine, alte „Lyrik Jazz Prosa“-Schallplatte, auf der noch ein Lied von Wolf Biermann zu hören war, so wie die Platten der Klaus-Renft-Combo, die wir nicht ausgesondert hatten, als die Band schon verboten war. Wir haben literarische Abende zu einigen der Christa-Wolf-Werke organisiert, die von Freund und Feind gut besucht waren. Diese Episode um „Kassandra“ war ein Vorbote der Wende beziehungsweise friedlichen Revolution.
Christa Wolf war damals eine der bedeutendsten deutschen Autorinnen, geschätzt und verlegt in Ost und West. Nicht alle meine DDR-kritischen Freunde mochten Christa Wolfs Bücher. Einer zum Beispiel fand sie, ähnlich wie Marcel Reich-Ranicki, zu blutarm, zu verkopft, introvertiert, zu wenig romanesk. Erst bei „Kassandra“ änderte dieser Freund seine Meinung. Er ist der Sohn des mutigen Jürgen Teller, eines Assistenten von Ernst Bloch in Leipzig, der seinen Lehrer nicht verriet, als der, enttäuscht vom DDR-Stalinismus, in Westdeutschland blieb.
Jürgen Teller wurde daraufhin von der SED zur „Bewährung“ in die Produktion geschickt, in ein Stahlwerk, wo er bei einem Unfall einen Arm verlor. Wir wussten das schon als Jugendliche – wir wussten, dass das tatsächliche oder vermeintliche Ideal und die Realität in diesem Land, in das wir hineingebo-ren worden waren, weit auseinanderklafften. Bücher wie die von Christa Wolf haben uns in diesem Wissen bestärkt. Von Gerhard Wolf kannte ich damals nur die gemeinsam mit seiner Frau verfasste Erzählung „Till Eulenspiegel“, die uns eine Ahnung davon gab, wie den Mächtigen mit List, Witz und Phantasie auf die Pelle zu rücken war.
Inzwischen vergilben einige dieser Bücher langsam im Regal – das billige Papier war nicht für die Ewigkeit gemacht – wie das Land, in dem es bedruckt wurde. Das Papier vergilbt, aber die Bücher verstauben nicht. Sie werden immer mal wieder aus dem Regal genommen. Und sei es zum Nachschlagen nach einigen Sätzen, nach den „Wegschildern und Mauerinschriften“, wie ein Buch des mit den Wolfs befreundeten Günter Kunert hieß, nach Sätzen, die damals – wie fern das klingt und wie nah es ist – Trost und Erkenntnis spendeten und Mut machten.
„Erzählen ist Sinn geben“
Geboren am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe, Gorzów Wielkopolski im heutigen Polen, gestorben am 1. Dezember 2011 in Berlin, war Christa Wolf Wegbegleiterin mehrerer Generationen Literaturinteressierter in Ost und West. Ihre Bücher wie „Der geteilte Himmel“ (1963), „Nachdenken über Christa T.“ (1968), „Kindheitsmuster“ (1976), „Kein Ort. Nirgends.“ (1979), „Kassandra“ (1983), „Störfall“ (1987), waren für viele ihrer Leserinnen und Leser, waren für uns mehr als Literatur – waren Bestätigung, Ermutigung, Anregung – manch-mal auch zum Widerspruch. Vielleicht, weil wir in demselben „Gespinst aus Vorsicht, Redlichkeit und freiwilliger Selbstkontrolle“ lebten, das der kritische Freund Hans Mayer Christa Wolf anlässlich der „Kindheitsmuster“ im westdeutschen Magazin Der Spiegel bescheinigt hatte. Ihre Bücher öffneten den Blick zeitlich und räumlich über dieses kleine Land hinaus, stellte seine Konflikte in einen komplexen Raum.
„Erzählen ist Sinn geben“, schrieb Christa Wolf in „Kassandra“ und so erzählte sie vom geteilten Leben in einem geteilten Land, vom Sprechen und vom Stummbleiben, von den Ahnungen der atomaren und anderer Katastrophen. Wenn es die DDR betraf, auch mit dem „Mut zum Verschweigen der Wahrheit“, den ihr Hans Mayer ebenfalls im Spiegel attestierte, der mit Blick auf den linientreuen Hermann Kant aber auch darauf verwies, dass immer noch ein Unterschied bestehe „zwischen dem Verschweigen der gewussten Wahrheit und dem Sagen der gewussten Unwahrheit“.
Christa Wolf wusste um dieses Dilemma – viele ihrer Texte handeln in und zwischen den Zeilen davon. „Diese verwickelten politischen Zustände, und nun auch noch ich!“ lässt sie Kassandra sagen, und befragt sich damit selbst. Doch Christa Wolfs Selbstreflexion war nie Selbstzweck, ebenso wenig wie die gemeinsamen literarischen und künstlerischen Aktivitäten mit ihrem Mann Gerhard, die vielen Schriftstellern und Künstlern Öffentlichkeit und ein Podium in der DDR und darüber hinaus boten, das ihnen von der offiziellen Kulturpolitik nicht so ohne Weiteres gewährt worden wäre.
Vor allem aber ging es Christa Wolf darum herauszufinden, wie wir leben, wie wir leben können und wie wir, sollten angesichts der Bedrohungen zu Hause und in der Welt:
„Wenn die atomare Gefahr uns an die Grenze der Vernichtung gebracht hat, so sollte sie uns doch auch an die Grenze des Schweigens, an die Grenze des Duldens, an die Grenze der Zurückhaltung unserer Angst und Besorgnis und unserer wahren Meinungen gebracht haben.“
Was sie 1983 in den Texten und Tagebüchern um „Kassandra“ geschrieben hatte, blieb auch später ihre Überzeugung.
Wie würde sie heute schreiben angesichts der anhaltenden Klimakatastrophe, der Flüchtlingsnot, des sich etablierenden Rechtsradikalismus und aktueller wie drohender Kriege um die Vorherrschaft in der Welt, dem Ruf nach „Kriegstüchtigkeit“ und verschlossenen Grenzen? Es ist, wie es auch zu Kassandras Zeiten schon war:
Zitat
„Alles, was sie wissen müssen, wird sich vor ihren Augen abspielen, und sie werden nichts sehen. So ist es eben.“
Und sie wusste auch schon, was sie Kassandra sagen lässt: „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehn.“ Wovon die Welt weit entfernt ist.
Christa Wolf schrieb auch um und für die Hoffnung, und sie sah deren Zeichen an der Wand, auf der Straße, nicht erst im Herbst 1989. In den Frankfurter Poetikvorlesungen zitiert sie „eine junge Frau“, die sagt: „Ich möchte mich später einmal nicht fragen lassen müssen – so wie wir unsere Eltern und Großeltern fragen -: Warum habt ihr damals nichts gesagt.“ Und sie ergänzt, lange vor der Wiedervereinigung:
„Ein Menschentyp ist da entstanden, ähnlich oder gleich in Ost und West, eine schmale Hoffnung…“
Aber die verfluchte Hoffnung hat nicht nur sie immer wieder enttäuscht. Da ist der Streit um ihr Buch „Was bleibt“, der schon vieles vorwegnahm, was aktuelle Auseinandersetzungen um Ost-West-Befindlichkeiten bestimmt. Da ist diese Sache mit der Staatssicherheit – eine schmale „Täterakte“ gegen meterlange Opferakten – die sie die letzten Jahre ihres Lebens beschäftigte – selbstzerstörerisch, selbstmörderisch fast – zumindest, was ihre literarische Existenz betraf. „Besudelt“ habe sie sich angesichts der Reaktionen gefühlt, schreibt sie in der „Stadt der Engel“.
„Wir oft war Hoffnung Selbstbetrug“
Nach ihrer Selbstenttarnung 1993, dass sie kurzzeitig von der Staatssicherheit als IM geführt wurde, dass es Berichte von ihr gab, woran sie sich nicht erinnere, fragt sie den Freund Volker Braun in einem Brief, „wie oft und wann war Hoffnung Selbstbetrug“, die Hoffnung auf eine bessere Welt, ein besseres Land? Musste es nicht etwas Anderes, Besseres geben als den Kapitalismus? Wo und was war es, dieses Andere, Bessere? Sie hatte diese Frage schon viele Jahre zuvor beantwortet: „Kein Ort. Nirgends.“ Und später, 1996, in „Medea. Stimmen“ noch einmal:
„Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort.“
Und dennoch: „Wenn du die Vergangenheit Macht über die Gegenwart gewinnen lässt, dann haben die doch noch gewonnen“, wird ihr in der „Stadt der Engel“ gesagt, und sie selbst nimmt für sich in Anspruch, dass sie es sich „zum Prinzip gemacht (habe), mich weniger zu schonen als die anderen.“ Das stimmt – und es schont auch ihre Leserinnen und Leser nicht. Andererseits sind es genau diese quälenden, zähen, sich wiederholenden, um sich selbst kreisenden, nicht um Entschuldigung bittenden, sondern Erkenntnis, Erinnerung geradezu erflehenden Selbstbefragungen in der „Stadt der Engel“, die man sich von viel mehr Menschen gewünscht hätte, die all diese Jahre deutscher Geschichte vor und nach 1989 mit zu verantworten haben. Also wir alle. Christa Wolf konstatiert in der „Stadt der Engel“:
„Damals war ich noch sparsamer im Umgang mit dem Wort BARBAREI, heute liegt es mir auf der Zunge. Die Nähte sind geplatzt, die unsere Zivilisation zusammenhielten, aus den Abgründen, die sich aufgetan haben, quillt das Unheil, bringt Türme zum Einsturz, lässt Bomben fallen, Menschen als Sprengkörper explodieren.“
Den Verlusten setzte Christa Wolf immer die Literatur entgegen – und die Benennung dieser Verluste. Schon in „Kindheitsmuster“ wusste sie – und hat es später am eigenen Leibe im wahrsten Sinne des Wortes erlebt:
„Du weinst um alles, was einmal vergessen sein wird – nicht erst nach dir und mit dir zusammen, sondern solange du da bist und von dir selbst. Um das Schwinden der hoch gespannten Erwartungen. ... Um das Schrumpfen der Neugier. … Die Erdrosselung der heftigsten Wünsche. Das Ersticken ungebändigter Hoffnung. Den Verzicht auf Verzweiflung und Auflehnung. Die Dämpfung der Freude. Die Unfähigkeit, überrascht zu werden. Um das Versagen von Geschmack und Geruch und, so unglaublich es sein mag, um den unvermeidlichen Verfall der Sehnsucht.“
Bloß keine Kehrtwende
Nach der Wende – ein Wort, dass Christa Wolf nicht mochte, weil es ihr zu sehr nach „Kehrtwende“ klang – verfiel ihr, verließ sie wohl tatsächlich die Sehnsucht, die Hoffnung, die Auflehnung. Vielleicht auch, weil das Wort „Wende“ sich doch als gar nicht so falsch erwies, denn, fragt sie in ihrem letzten großen Buch „Stadt der Engel“: Gehört „zur Revolution nicht der Schritt in eine entwickeltere Gesellschaftsformation? Vom Sozialismus vorwärts zum Kapitalismus?“ Oder wie würde diese entwickeltere Gesellschaft dann heißen?
Da waren die Literaturkritiker (tatsächlich überwiegend Männer) und auch einige Kollegen schon über sie hergefallen. Viel zu spät habe sie ihre Erzählung „Was bleibt“ über die Stasi-Überwachung einer Familie, die leicht als ihre eigene zu identifizieren ist, veröffentlicht. Das kann man so sehen. Aber sie hat sie veröffentlicht – nicht als Selbstrechtfertigung, sondern eher als Selbstanklage, was viele übersahen; sie hatte sich, wieder einmal, angreifbar gemacht, sich weniger geschont als andere.
Das war nicht selbstverständlich. Auch in diesem kleinen Ort Zschopau hatte das Neue Forum 1989/90 den offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit vorgeschlagen, sich zu outen, um den aufkommenden Verdächtigungen zu entgehen. Das wäre schmerzhaft gewesen, hätte das Eingeständnis einer Schuld eingeschlossen, hätte aber auch einen ehrlichen Neuanfang ermöglicht. Nur einer hat dieses Angebot wahrgenommen.
Christa Wolf hatte auch Fürsprecher, Freunde, in Deutschland, auch in Frankreich. Wie Thomas Brasch, der schon 1987 dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki, nachdem dieser der Schriftstellerin Wankelmut und Staatsnähe vorgeworfen hatte, in der FAZ entgegenhielt:
„Wie Christa Wolf bin auch ich überzeugt, dass eine Gesellschaft, die sich unter großen Schwierigkeiten und in ständiger Veränderung der jahrhundertealten Last der Ausbeutung entledigt, die einzige produktive Möglichkeit in sich birgt … Dass der Obengenannte sie beleidigt, sollte eine Ehre für sie sein.“
Und Christa Wolf hatte ihren Mann, Freund, Gefährten, Kameraden, früher hätte man vielleicht sogar „Genossen“ sagen können – an ihrer Seite: Gerhard Wolf. Verschmitzt, beschwichtigend lächelnd, aufmunternd, Mut machend – eine Beziehung, die, wie Christa Wolf einmal gegenüber Inge und Otl Aicher konstatierte, auch durch die Verhältnisse in der DDR zusammengeschweißt wurde, wo „der äußere Druck den Wunsch nach einer Sicherheit, einer Festigkeit so stark werden lässt; nach einem Menschen, auf den man sich blindlings und absolut und unter allen Umständen verlassen kann“. Ein solcher Mensch muss Gerhard Wolf gewesen sein.
Er war Schriftsteller, Essayist, Verleger, Kurator – vor allem aber war ein selbstloser Freund und Förderer von Schriftstellern und Künstlern, die es ohne ihn schwerer gehabt hätten. Sein größtes Talent war es, Talente in anderen Menschen zu erkennen, zu fördern und zu begleiten. Die Literatur- und Kunstlandschaft, nicht nur im Osten Deutschlands, sähe anders aus ohne ihn.
Selbst die Karriere seiner berühmten Frau Christa, deren erster und kritischster Leser er immer war, hätte anders verlaufen können. Und wer weiß, was aus Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie Sarah Kirsch, Volker Braun, Jan Faktor, dem Künstlerphilosophen Carlfriedrich Claus, Bert Papenfuß-Gorek, Gabriele Stötzer, Róža Domašcyna geworden wäre, wenn sich Gerhard Wolf nicht für die Veröffentlichung und Verbreitung ihrer Werke eingesetzt hätte? Zunächst in der DDR – gegen Widerstände – oft „Außer der Reihe“, wie die dem Aufbau-Verlag abgetrotzte Edition mit neuer Lyrik hieß, später in seinem Janus-Press Verlag.
Gerhard Wolf wuchs auch in Deutschlands dunkelsten Jahren auf. Geboren am 16. Oktober 1928 in Bad Frankenhausen. Der faschistische Krieg unterbrach seine Schulausbildung, 1944/45 wurde er noch als Flakhelfer eingesetzt, geriet in amerikanische Gefangenschaft. Nach der Entlassung schloss er das Gymnasi-um 1947 mit dem Abitur ab, war danach erst einmal Neulehrer in Thüringen. Von 1949 bis 1951 studierte er Germanistik und Geschichte in Jena, später noch einmal in Berlin. Da hatte Gerhard Wolf schon erste Berufserfahrungen als Rundfunkredakteur in Leipzig und Berlin gesammelt.
Ab 1957 arbeitete er als Schriftsteller, Drehbuchautor, Essayist, Kritiker, vor allem aber als Lektor beim Mitteldeutschen Verlag in Halle/Saale. So erlebte er die Auseinandersetzungen um den 1968 erschienenen Roman „Nachdenken über Christa T.“ seiner Frau mit – sie hatten 1951 geheiratet – der von der DDR-Kulturpolitik heftig angegriffen wurde. In Halle hatte das Ehepaar Wolf auch den damals selbst in Ungnade gefallenen Maler Willi Sitte kennengelernt und sich seitdem intensiver mit zeitgenössischer Kunst beschäftigt, sie gesammelt und gefördert.
Doch wie so viele, die nach dem Zweiten Weltkrieg ehrlichen Herzens im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands eine andere, friedliche, sozialistische Gesellschaft aufbauen wollten, lernte auch Gerhard Wolf bald die Grenzen des Möglichen kennen, die eine sich zunehmend von den Menschen und ihrer Lebenswirklichkeit entfernende SED-Bürokratie setzte. Einer der Wendepunkte war sicher 1976 seine und Christa Wolfs Unterschrift unter die Resolution, mit der viele Menschen in der DDR gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierten.
Wegen Biermann ausgeschlossen aus der SED
Biermanns im Deutschlandfunk übertragenes Konzert kursierte auf verrauschten Kassettenmitschnitten. Einige von uns kannten ihn vorher gar nicht und waren sofort begeistert von dem Sänger, der den Dogmatikern in der selbsternannten Partei- und Staatsführung die Leviten las, damals mit Brechtscher Dia-lektik und Heineschem Witz für einen demokratischen Sozialismus eintrat.
In unserer Klasse an der Erweiterten Oberschule „Clara Zetkin “ legten wir dem FDJ-Sekretär einige Texte Wolf Biermanns vor und fragten, warum er ausgebürgert werde. Der FDJ-Sekretär wusste keine Antwort. Aber an unseren Noten in den „gesellschaftswissenschaftlichen“ Fächern merkten wir, dass es doch eine Antwort gegeben hatte.
Danach wurde Gerhard Wolf aus der SED ausgeschlossen, der er seit 1946 angehört hatte. Er war in diese Partei eingetreten, „um meinem Vater eins auszuwischen, der zuvor in der NSDAP war“, erzählt er später seiner Enkelin Jana Simon, festgehalten 2015 in dem Buch „Sei dennoch unverzagt“. Er fühlte sich zu Antifaschisten wie dem Schriftsteller Louis Fürnberg und seiner Frau Lotte hingezogen – solche Eltern wollte man haben.
Und Gerhard Wolf kämpfte auf seine stille, freundliche, aber auch beharrliche Art weiter darum, dass originelle und kritische Stimmen in der Literatur und Kunst ihren Platz bekamen. An eine Reformierbarkeit des real nicht existierenden Sozialismus, wie er in der DDR und der gesamten sowjetischen Einflusssphäre praktiziert wurde, glaubte er – vielleicht anders als seine Frau – längst nicht mehr. 2020 in dem Sammelband „Herzenssache“ mit „unvergesslichen Begegnungen“, schreibt Gerhard Wolf in einem „Memorial für Franci Faktorová“, die tschechische Dissidentin:
„Ich glaube noch heute, eine Erneuerung des Sozialismus hätte, wenn überhaupt, nur mit den grundsätzlichen Reformen, wie sie damals in Prag angestrebt wurden, stattfinden können.“ Bei Christa Wolf kommt diese Einsicht später. In „Stadt der Engel“ schreibt sie: „Die Suche nach dem Paradies hat überall zur Installation der Hölle geführt …“.
Kunst als „Lebensmittel“
Die DDR hat sie nicht als diese „Hölle“ benannt, wohl aber schon in „Kassandra“ den Untergang einer Welt vorausgesehen, die auf kalte und heiße Kriege um Macht und Profit setzt. Sie wusste zwar längst, 1971 in „Ein Tag im Jahr“ notiert, dass es hier
„...unmöglich ist, in der nötigen Schärfe und mit den nötigen Verbindungen zur Gegenwart zu schreiben und zugleich an Veröffentlichung zu denken … Also funktionieren bestimmte Zensurbehörden in meinem eigenen Kopf ganz zuverlässig, ich aber mache mich jeden Morgen auf, bewusst dagegen anzugehen.“
Weggehen, Auswandern kam für das Ehepaar Wolf nicht in Frage – wie auch für uns, für mich und die meisten meiner Freundinnen und Freunde, nicht. Wer sollte denn dieses Land verändern, wenn nicht die, die hierblieben? Die, manchmal mit mehr, manchmal mit etwas weniger Mut, manche mit mehr, manche mit gar keinen Privilegien ausgestattet, an den Ketten zerrten, die Grenzen des Möglichen, des Sagbaren, des Machbaren in Richtung größerer Freiheit verschieben wollten? Für diese Menschen waren Autoren, Künstler im eigenen Land wie Christa Wolf, Volker Braun, Franz Fühmann, aber auch außerhalb – wie Wolf Biermann, Thomas Brasch, Gerulf Pannach, Reiner Kunze, an deren Werke man schwer, auf Umwegen aber doch heran-kam – Lebensmittel, Mittel des Überlebens, Argumente für etwas mehr Mut, für etwas weniger Verzweiflung, waren Bestätigung und Antrieb. Bücher, Lieder, Texte eben, die Taten waren.
Ja, sicher, „manchmal war diese ungeheure Bedeutung, die ihr als Schriftsteller in der DDR hattet, bestimmt auch sehr schmeichelhaft“, sagt Wolf-Enkeltochter Jana Simon in ihren Gesprächen mit den Großeltern in dem Band „Sei dennoch unverzagt“. Der Satz bleibt unwidersprochen.
„Das Schlimme ist“, schreibt Christa Wolf an Volker Braun, „wir haben dieses Land geliebt (Regieanweisung: Tosendes Gelächter)“. Mit dieser Liebe waren nie die politischen Strukturen, die diktatorischen Herrschaftsverhältnisse – die sie so drastisch allerdings auch nie benannt hat – gemeint. Eher Menschen wie diese Blumenverkäuferin, von der sie in der „Stadt der Engel“ erzählt, aber schon mit der Distanz des „du“, weil das „Ich“-Sagen plötzlich schwerer fällt:
Du hast sie doch gesehen, „… die Blumenverkäuferin, die sich in die Geschicke des Staates einmischte, das war im Herbst 1989, … das gibt es also, dachtest du, du wolltest es nicht vergessen, auch wenn der geschichtliche Augenblick, der solche Gesichter hervorbrachte, schrecklich kurz, eigentlich schon vorüber war. Ihn miterlebt zu haben, dachtest du, dafür hatte alles sich gelohnt.“ Obwohl danach „Häme, Hohn und Spott, natürlich. Utopieverbot“ folgten; „aber diese offenen, aufgerissenen Gesichter habe ich doch gesehen. Diese glänzenden Augen. Diese freien Bewegungen.“
Zu den wenigen Utopieversuchen gehörte der Aufruf „Für unser Land“, den sie im November 1989 mit verfasste, ahnend, dass es eigentlich schon zu spät war, noch für einen „dritten Weg“ zu werben. Einen Aufruf, den immerhin noch eine Million Menschen in der DDR unterschrieben, obwohl oder auch weil darin noch ein letztes Mal von einer „sozialistischen Alternative“ die Rede war. Die Verfasserinnen und Verfasser dieses Aufrufs waren nicht die Einzigen, die keinen "Anschluss" der DDR an die alte Bundesrepublik wünschten oder ihn für alternativlos hielten.
In ihren Aufzeichnungen vom alljährlichen 27. September, „Ein Tag im Jahr“, notiert Christa Wolf 1989 ein Gespräch mit den Freunden Inge und Otl Aicher aus dem Westen Deutschlands, die sich über die stetig wachsenden Demokratiebestrebungen in der DDR freuen:
„Ja, vielleicht könne im Zuge der Umwandlung der DDR auch die Rettung für die Bundesrepublik formuliert werden. Wenn wir, die DDR-Leute, der Versuchung widerstünden, uns nur an der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik zu orientieren und dieselben Fehler zu wiederholen, die sie gemacht hätten: Profit und Effizienz als einzige Kriterien der Wirtschaft aufzurichten. Er dagegen, sagt Otl, träume von einer Alternative: Die Arbeit als Basis der Existenz wieder einführen … und so den Staatsbürgern, die aus innerer Überzeugung der Humanität verpflichtet seien, die Möglichkeit eines erfüllten Daseins zu geben … (ein) anderes Deutschland zur Debatte stellen …“.
Von Gerhard Wolf sind solche Äußerungen nicht festgehalten, aber man darf annehmen, dass er Carlfriedrich Claus zustimmte, der Ende 1989 in einem Brief an seinen Verleger und Freund befürchtete, dass die „Überflussrealität BRD“ die „Möglichkeit DDR“ bedrohte, und so ein „kritisch-analytisches Denken, das nicht nur den Stalinismus, sondern auch den Kapitalismus unter die Lupe nimmt“, kaum mehr möglich sei. Wie Claus auch im Wandel von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ „düstere Erinnerungsgefühle“ und „jenes schillernde nationalistische Rausch-Moment“ ausmachte, „dass mancher Redner jetzt bewusst zu aktivieren beginnt“. Und das bis heute aktiv ist.
An dem Ort, an dem in Zschopau die erste freie Demonstration im Oktober 1989 stattfand, liegt inzwischen ein Grabstein mit der Aufschrift „Wir sind das Volk“ – vielleicht wird er irgendwann einmal überflüssig und landet in einem Museum, falls es dann noch Museen gibt. Als die etablierten Parteien, allen voran die gewendete Blockpartei CDU, am 3. Oktober 1990 im Erzgebirge mit unsicherer Stimme und vom Blatt die Hymne des wiedervereinigten Deutschlands sang, stellten einige erzgebirgische Bürgerrechtler/innen , die nun schon nicht mehr so viele Bürgerinnen vertraten, ein Transparent auf mit dem Schriftzug „Wir übergeben uns“.
Christa Wolf wehrt sich jedoch, 1993 in „Ein Tag im Jahr“, „gegen die Anwaltsrolle, die sie mir wieder zuteilen wollen“ – die nimmt stattdessen unter anderem ihre Freundin Daniela Dahn ein, die zur „Weiberrunde“ gehörte, die sich bei den Wolfs traf. Dahn wird bis heute nicht müde, auf vertane Chancen der Wiedervereinigung hinzuweisen – und sich dafür diffamieren zu lassen. Christa Wolf pocht dagegen auf ihr „Recht zu reden, auch zu schweigen …“, sucht nach ihrem Standort in der neuen Zeit. An Günter Grass schreibt sie 1993 – wenig überzeugend:
„Ach, wie beneide ich in schwachen Stunden all die Unschuldigen, die im richtigen Moment auf der richtigen Seite waren, die sich selbst keine Fragen stellen und denen auch sonst niemand Fragen stellt.“
Und dennoch – für Christa Wolf und für Gerhard Wolf gibt es in dieser Zeit auch Anlass zum Optimismus. Christa Wolf schreibt: „Eine Neugründung immerhin scheint gelungen: Im März (1990) schon waren Gerd und ich beim Notar, um die Janus Press GmbH eintragen zu lassen … beim Steuerberater allerdings lachten wir los über sein ratloses Gesicht, als Gerd auf die Frage, was er denn mit seinem Verlag für Gewinn erwirtschaften wolle, unbefangen erwiderte: Gar keinen. Ja dann, sagte unser Steuerberater, "dann müssen wir wenigstens sehen, dass Sie nicht zu viel Verlust machen …“.
Ein Geschäftsmodell, das vor allem auf wunderbare, von der Kritik oft auch hochgelobte Bücher gebaut ist – manche, wie die Werkausgabe von Bert Papenfuß-Gorek und die Mappenwerke von Carlfriedrich Claus, sind schon zu kaum noch erhältlichen Klassikern einer anderen (ost-) deutschen Moderne geworden, etliche konnten nur mit Zuschüssen von Dritten erscheinen. Von Anfang an wissen die Wolfs, dass der Verlag, „bei dem kompromisslosen Programm, kaum je in die schwarzen Zahlen kommen wird“.
Doch, schreibt Christa Wolf über das Herzensprojekt ihres Mannes: „Was er mit und in diesem Verlag macht, ist ja, leider, zu spät begonnen, sein Lebenswerk, und das darf nicht einfach abgebrochen werden.“ Wer Gerhard Wolf mit Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit überzeugt hatte – wie etwa Carlfriedrich Claus oder in den 1980er-Jahren die übrigen Künstler der Clara-Mosch-Gruppe in Karl-Marx-Stadt, Helge Leiberg, Angela Hampel, Nuría Quevedo, denen ist er ein lebenslanger allerbester guter Freund gewesen. Bis zu seinem Tod: Gerhard Wolf starb am 7. Februar 2023. Es gibt nicht mehr viele solcher Menschen. Aber etwas von ihnen bleibt.
Und es bleibt – wie bei jedem Menschen – wie er oder sie gelebt hat, wie wir uns an sie erinnern. Was also bleibt von einer Schriftstellerin, verehrt, streitbar, angefeindet – im Osten, wie im Westen, vor und nach 1989 – schonungslos gegen sich selbst, mit dem Wunsch zu verstehen, wie Menschen handeln oder nicht handeln, wie sie denken, fühlen, sprechen, schweigen, erinnern, vergessen? Was bleibt von einem Autor und Verleger, der sich selbst nie in den Vordergrund, sich aber immer in den Dienst anderer, in den Dienst der Literatur und der Künste stellte? Was bleibt von einem Künstlerehepaar, das Freud und Leid miteinander teilte, eine Beziehung pflegte, die sich nur als zutiefst menschlich beschreiben lässt?
Vielleicht stimmt gerade diese eine Passage in Christa Wolfs Büchern, die oben aus den „Kindheitsmustern“ zitierte, nicht: Vielleicht bleibt sie doch, die Sehnsucht – für alle, die, wie Christa und Gerhard Wolf bis zu ihrem Tod, weiter auf der Suche waren und sind. Auch wenn sie noch nicht wissen, wohin diese Reise führt.
Bücher von Christa Wolf stehen in der Zschopauer Stadtbibliothek noch immer im Regal, darunter „Kassandra“, nun natürlich ungekürzt. Was also bleibt? Ich weiß es nicht. Dies ist nur ein Zwischenbescheid:
Schlechtere Welt (für OOzB und alle andern)
"Wir haben so sehr für eine schlechtere Welt gekämpft Wir haben immer wieder unsere Hoffnungen gedämpft Wir haben die Idioten einfach gewähren lassen Und waren so tolerant, sie nicht einmal dafür zu hassen.
An unseren Zweifeln zu zweifeln – das war schon Mut Wir haben gar nichts anderes mehr zugelassen Mit beiden Händen war das Glück auch nicht zu fassen. Und zum Schluss war nicht einmal das Ende gut.
Nichts als Verzweiflung kann uns nun noch retten Die Hilferufe sind jedes Mal zurückgekommen Wir haben so sehr für eine schlechtere Welt gekämpft Und haben den Kampf schließlich sogar gewonnen."
Zitierweise: Matthias Zwarg, "Was bleibt? Vom Wirken des Schriftstellerehepaars Christa und Gerhard Wolf in der DDR – zwischen Hoffnung und Enttäuschung.“, in: Deutschland Archiv, 30.5.2025. Link: www.bpb.de/562632.
Dieser Beitrag ist Teil einer Serie ausgehend von Diskussionsbeiträgen auf einer Tagung von Goethe-Institut und bpb am 7. Februar 2025 in Paris und Leitung des Kunsthistorikers Eckhart Gillen:
QuellentextZwischen Freiheit und freiem Fall. Hat der deutsche Bilderstreit in Paris ein Ende gefunden?
Zur Tagung: Ausgewählte Beiträge der Tagung „35 Jahre Wende“ im Goethe-Institut Paris vom 7. bis 8. Februar 2025. Ein Überblick von Eckart Gillen:
Der Umbruch 1989/90 in der DDR war eine Chance, sich von der staatlichen und parteilichen Gängelung zu befreien, eine Chance, den Schritt ins Offene zu wagen. Zugleich war es ein Sprung ins kalte Wasser des Kapitalismus. Es war ein Systemwechsel: Über Nacht änderten sich schlagartig alle Regeln. Die vormundschaftliche Sicherheit des DDR-Staates, die alle Risiken ausschloss, schlug um in die marktwirtschaftliche „Freiheit“, die jeden zwang, jetzt für sich selbst und alleine Verantwortung für den Lebensunterhalt und die eigenen Produktionsverhältnisse zu übernehmen. Die bisherigen Auftraggeber waren verschwunden. Die Ateliermieten explodierten, neue Eigentümer_innen aus dem Westen standen vor der Tür. Ein völlig neuer Kunstbegriff bestimmte den Kunstmarkt. Galerist_innen, die Ostkunst anboten, wurden von den Kunstmessen ausgeschlossen, weil die ostdeutschen Künstler/innen als unmodern galten oder als angepasste Auftragskünstler_innen.
Für die jungen Künstler/innen, die nach dem Mauerbau geboren wurden und nicht mehr an die Utopie des Sozialismus glauben wollten, war es wiederum ein Sprung ins Offene. Sie reisten nach New York, nahmen Stipendien des Westberliner Senats im PS 1 an und zogen in die Welt hinaus und präsentierten ihre Kunst in Venedig, Paris, Los Angeles und andernorts, ob Bilder, Filme, Musik oder Mode. Manche aus der älteren Generation haderten mit der neuen Beliebigkeit einer auf formale Innovation ausgerichteten Kunstwelt und mauerten sich ein in ihr Ressentiment.
Ganz anders wurde die Wende von denen empfunden, die bereits vor dem Fall der Mauer die DDR verlassen hatten. Sie hatten einen harten Schnitt gemacht und waren frei von Heimwehgefühlen nach der „sozialistischen Wärmestube“. Der Fall der Mauer war für sie kein Anlass zum Jubeln, er löste vielmehr das Gefühl aus, wieder von der Vergangenheit eingeholt zu werden.
In intensiven Gesprächen und Analysen hat die hier in Auszügen dokumentierte Tagung vom 7. und 8. Mai 2025 in Paris diesen historisch einmaligen Umbruch nach 35 Jahren untersucht, um die Dramatik dieser gesellschaftlichen und kulturellen Transformation, die noch lange nicht abgeschlossen ist, in Erinnerung zu rufen. Und auch zu fragen: Was bleibt?
Die Diskussionen mit den französischen Kunsthistoriker_innen und Germanist_innen, in Paris haben den oft verkrampften innerdeutschen Dialog erweitert und bereichert durch den unbestechlichen Blick von außen. Alle Teilnehmenden waren sich mit dem Publikum am Ende der Tagung einig, dass die Differenz der Kunstbegriffe, die der Kalte Krieg befeuert hat, schon heute im Wesentlichen überwunden ist – auf jeden Fall aber von zukünftigen Generationen überwunden werden wird.
Zusätzlich zu dieser Publikation werden die französischen Vorträge und die deutschen Beiträge in französischer Übersetzung in der Zeitschrift Allemagne d‘aujourd’hui publiziert werden (E.G.).
Geplant sind bis Ende Mai 2025:
Eckhart Gillen: Die Freiheit geht zum Angriff über auf die Utopie des Kommunismus
Stichworte zur Differenz der Kunstbegriffe im geteilten Deutschland
Hans-Peter Lühr: Eine Anmerkung zum Beitrag von Eckhart J. Gillen
Hans-Peter Lühr: Neue Bürgerschaftlichkeit und neues Menschenbild.
Die ostdeutsche Gesellschaft als Lerngemeinschaft - Das Beispiel Dresden
Michaela Mai: Zwischen Hoffnung und Ernüchterung
Die ‚Wende‘-Zeit im OEuvre der Leipziger Malerin Doris Ziegler
Uwe Kolbe: Hat da jemand Freiheit gerufen? Zur Verteidigung eines guten Worts
Sibylle Goepper: Von einem Georg zum anderen: Kontinuitäten und Metamorphosen im Werk von Jan Faktor seit 1989
Gabriele Dietze: Totenreklame und Waldmaschine - eine Re-Lektüre 40 Jahre danach
Matthias Zwarg: Was bleibt? Christa und Gerhard Wolf - zwischen Hoffnung und Enttäuschung
Annette Simon: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin - HEIMAT als ambivalenter Ort.
Es folgen in Kürze weitere Beiträge in dieser Serie von: Interner Link: Uwe Kolbe über Freiheit, Dr. Gabriele Dietze, Prof. Sibylle Goepper, Hans-Peter Lühr, Michaela Mai aus der Uni Jena und Annette Simon, sowie weitere Beiträge zur Kunst der DDR und ihren Stellenwert heute von Eckart Gillen, Volker Tannert und Lutz Wohlrab.
Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Matthias Zwarg (1958 in Bad Düben geboren) ist Autor und Herausgeber sowie Journalist für die Kulturredaktion und Leiter des Buchprogramms der Freien Presse Chemnitz. Er ist Autor des Buchs „Lauter Lieder“ mit eigenen Texten, die zwischen 1989 und 2016 entstanden sind.