Das Cover des neuen Romans von Christoph Hein, "Das Narrenschiff", fotografiert vor dem 1989 verschwundenen Grenzübergang Checkpoint Charlie zwischen Ost- und Westberlin. Der 750-seitige Roman ist zur Leipziger Buchmesse 2025 im Suhrkamp-Verlag erschienen, er gleicht einem literarischen Geschichtsbuch über die Gesamtgeschichte der DDR. "Ein Staat - wie alle Staaten - gegründet für alle Ewigkeit und verschwindet nach 40 Jahren nahezu spurenlos. Sind die Menschen, die dort einmal lebten dem Vergessen anheimgefallen und ihre Träume nur ein kurzer Hauch im epochalen Wind der Zeitläufe?", heißt es in der Buchbeschreibung. Viele der Ursachen für den Untergang des "Narrenschiffs" DDR legt Christoph Hein offen, angefangen mit den Umständen ihrer Gründung. (© bpb / Kulick)
Das Cover des neuen Romans von Christoph Hein, "Das Narrenschiff", fotografiert vor dem 1989 verschwundenen Grenzübergang Checkpoint Charlie zwischen Ost- und Westberlin. Der 750-seitige Roman ist zur Leipziger Buchmesse 2025 im Suhrkamp-Verlag erschienen, er gleicht einem literarischen Geschichtsbuch über die Gesamtgeschichte der DDR. "Ein Staat - wie alle Staaten - gegründet für alle Ewigkeit und verschwindet nach 40 Jahren nahezu spurenlos. Sind die Menschen, die dort einmal lebten dem Vergessen anheimgefallen und ihre Träume nur ein kurzer Hauch im epochalen Wind der Zeitläufe?", heißt es in der Buchbeschreibung. Viele der Ursachen für den Untergang des "Narrenschiffs" DDR legt Christoph Hein offen, angefangen mit den Umständen ihrer Gründung. (© bpb / Kulick)
Ein epochaler Roman über dieses merkwürdige Gebilde namens DDR und die mit ihm verbundenen Erwartungen, Ansprüchen und zu Grabe getragenen oder zum Scheitern verurteilten Hoffnungen. Historisch und literarisch interessierte Zeitgenossen oder Nachgeborene in Ost und West bereichert die Lektüre in vielerlei Hinsicht an Erkenntnissen über Bewusstsein und Sein im Osten Deutschlands.
Nicht von ungefähr steht der Roman von Hein seit Wochen auf den Bestsellerlisten in Deutschland ganz weit oben (aber da steht auch Egon Krenz mit dem dritten Teil seiner Memoiren). Hein hat wohlwollende Besprechungen erfahren (unter anderem von Marko Martin im Deutschlandfunk), erfährt nun aber auch die Kritik des nach seiner voluminösen Ulbricht-Biografie dazu prädestinierten Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk.
Die Geschichte der DDR 35 Jahre nach ihrem Untergang aus der Perspektive der sie tragenden Funktionäre zu schildern, ohne sich in billiger Rechtfertigung zu verlieren, ist ein spannendes Unterfangen, freilich mit erheblichen Risiken behaftet. Die sind aber nur scheinbar harmloser als die, denen die Protagonisten des Romans ausgesetzt sind. Würde uns die Schilderung des Lebens von Funktionärsfamilien, ihren Ängsten, ihren Verbiegungen und Verkrümmungen, ihrem Verschweigen und ihren Enttäuschungen interessieren, wenn sie nicht eingebettet würden in die große Geschichte? Der Neubeginn nach der Kapitulation Nazideutschlands, der Volksaufstand vom Juni 1953, der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Februar 1956, der Mauerbau im August 1961, der Kahlschlag in der Kultur- und Wirtschaftspolitik 1965, die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 und der Herbst 1989 sind die Wegmarken, an denen Hein die Geschicke von Johannes und Yvonne Goretzka und deren Kindern Kathinka und Heinrich sowie den Enkelkindern, die von Karsten und Rita Emser und von Benaja Kuckuck schildert.
Kolportage von Geschichtslegenden?
Auch von einem solch ambitionierten Roman kann man freilich nicht verlangen, dass er sich in jedem Punkt auf dem neuesten Forschungsstand der Geschichtsschreibung bewegt. Aber die Kolportage von Geschichtslegenden zu hinterfragen, darf auch vor einer literarischen Fiktion nicht Halt machen. Zwei solcher streitbaren Erzählungen transportiert Hein.
Zum einen habe Walter Ulbricht erst auf Intervention Moskaus die ehemaligen Ostgebiete Deutschlands „aufgegeben”, zum anderen habe Honecker nur mit massiver persönlicher Gewaltandrohung Ulbrichts Rücktritt erzwingen können. Heins Kronzeuge ist dabei der ehemalige DDR-Spionagechef Markus Wolf, der im Roman als Markus Fuchs schon in dieser Zeit deshalb das Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) verlassen möchte. Dass in diesem Zusammenhang nebenbei noch die als solche nachgewiesene Lüge kolportiert wird, dass die Hauptverwaltung Aufklärung nichts mit der Bespitzelung von DDR-Bürgerinnen und .Bürger zu tun haben wollte oder gar hatte, ist auch dann mindestens ärgerlich, wenn es nicht beabsichtigt war.
Dagegen geht eine Bemerkung, dass Moskau sich bis zuletzt ernsthaft um die Befreiung Ernst Thälmanns aus dem KZ Buchenwald bemüht habe, fast schon unter. Deutlich wird aber, warum viele in Ostdeutschland auch heute noch der Meinung sind, dass der Untergang der DDR die Opfer des Zweiten Weltkrieges nutzlos erscheinen lässt und Grundgesetz und Grundbucheintragung nicht kompatibel sind.
Die literarische Bearbeitung Heins enthält – ohne Anspruch auf Vollständigkeit, durchaus noch weitere „Fehler“:
- Nikita Chruschtschow wurde erst 1958 Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR.
- Der Personenschutz des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) war nicht der Hauptverwaltung A (HVA) unterstellt.
- An den staatlichen Schulen der DDR gab es im geschilderten Zeitraum „Direktoren“, nicht „Rektoren“.
- Die Zahlen der Demonstrierenden nach dem 9. November1989 gingen nicht zurück, sondern stiegen insgesamt an.
Christoph Hein hat seinen Roman in vier Abschnitte, vier Bücher, geteilt. Knapp 600 Seiten des 751 Seiten umfassenden Werks widmen sich der Zeit zwischen 1945 und 1971. Dass die 1970er-und 1980er-Jahre auf den restlichen 150 Seiten vergleichsweise kurz – zu kurz – kommen, ist bedauernswert, aber nachvollziehbar – der Rezensent verbietet sich, in diese dramaturgische Entscheidung etwas hineinzuinterpretieren. Hein hat ja mit „Der fremde Freund (Drachenblut)“, „Horns Ende”, „Die Ritter der Tafelrunde” und „Der Tangospieler” diese Zeit bereits literarisch verarbeitet.
Gut lesbar ist das Buch allemal, mitunter zwiespältige Gefühle hinterlassend. Nicht nobelpreisverdächtig, doch trotzdem herausragend in der ostdeutschen literarischen Landschaft.
Zitierweise: Joachim Goertz, „Nicht nobelpreisverdächtig, trotzdem herausragend“. In: Deutschland Archiv, 20.06.2025. Link: www.bpb.de/563290. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
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