60 Jahre ist die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bundesrepublik und Israel im Mai 1965 her. Aus diesem Anlass fand Ende Mai ein Festakt in der Wissenschaftsakademie Leopoldina in Halle statt, einer der Festredner war der Präsident der Israelischen Akademie für Wissenschaften, David Harel. Er formulierte einen Appell an die deutsche Seite, entschlossener zu helfen, ein Ende der Gewalt im Nahen Osten herbeizuführen.
Beim Verfassen dieses Textes habe ich mich vom Gedanken der Freundschaft - der wahren, selbstlosen und dauerhaften Freundschaft - zwischen Deutschland und Israel leiten lassen. Ich bin überzeugt, der Meinung der Mehrheit meiner israelischen Mitbürger und Mitbürgerinnen Ausdruck zu verleihen. Meinen Gedanken setzen dabei weder die Agenda unserer Regierung noch die diplomatische Etikette Grenzen.
Gleichwohl will ich die deutsch-israelische Wissenschaftszusammenarbeit würdigen, denn sie ist eines der wirksamsten Instrumente, um Brücken zwischen Nationen zu schlagen, Kulturen zu verbinden, Wunden der Vergangenheit zu heilen und schließlich den Weg für eine bessere Zukunft zu ebnen.
Die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland begannen noch vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, als 1959 eine Delegation der Externer Link: Max-Planck-Gesellschaft unter Leitung von Otto Hahn das Externer Link: Weizmann-Institut besuchte - nur 14 Jahre nach Kriegsende. Es folgten die Gründung der Externer Link: Minerva-Stiftung, ein bilaterales Abkommen über die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit, die Einrichtung derExterner Link: Deutsch-Israelischen Stiftung für Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung sowie das deutsch-israelische Jahr der Wissenschaft und Technologie 2008. David Ben-Gurion sagte einst: "In Israel muss man an Wunder glauben, um Realist zu sein." Dass ich hier 2025 an dieser bedeutsamen Veranstaltung teilnehme, kann man als solches Wunder sehen - das Verhältnis zwischen der deutschen und israelischen Wissenschaftsgemeinschaft ist stärker denn je.
Ich fürchte jedoch, dass wir Gefahr laufen, jenes Israel zu verlieren, das wir kennen und lieben.
Zwei Tatsachen sind unbestreitbar: Erstens, die Hamas verübte am 7. Oktober 2023 in Südisrael ein entsetzliches, unmenschliches Massaker. Zweitens, seither wird im Gazastreifen ein verheerender Krieg geführt. Mehr als 1.200 Israelinnen und Israelis wurden an jenem 7. Oktober ermordet, viele von ihnen auf grausamste Weise. 56 Geiseln befinden sich noch immer in der Gewalt der Hamas; die meisten von ihnen sind vermutlich nicht mehr am Leben. Meldungen zufolge sind in diesem Krieg nahezu 60.000 Palästinenser und Palästinenserinnen getötet worden, darunter schätzungsweise 15.000 Kinder - ein Ausmaß, das in der israelischen Berichterstattung kaum erwähnt wird.
"Es gibt keinen Plan"
Bemerkenswert ist, dass seit nunmehr 19 Monaten kein klares, erreichbares Kriegsziel von unserer Regierung formuliert wurde. Es gibt keinen Plan für den Abzug aus dem Gazastreifen und kein Ende der kontinuierlich wachsenden Opferzahlen. Es gibt keine praktikablen Vorstellungen darüber, wer anschließend die Verantwortung übernehmen soll, und keinen Plan für die Rückkehr der Geiseln.
Damit hat Israel die weltweite Welle aufrichtiger Anteilnahme und Freundschaft, die uns nach dem 7. Oktober entgegenschlug, verspielt. Stattdessen sind wir Zorn, Protesten, politischer Isolation und schmerzhaften Boykotten ausgesetzt. Der Schaden, den die gegenwärtige Regierung seit ihrem Amtsantritt Ende 2022 unserer Demokratie zugefügt hat, ist gravierend. Das mag eine innere Angelegenheit Israels sein. Jedoch völlig anders verhält es sich mit dem, was diese Regierung im Gazastreifen nach den ersten Wochen der Vergeltung- und Verteidigungsintervention anrichtet. Das ist eindeutig nicht mehr hinnehmbar. Ich verwende bewusst keine Begriffe wie Völkermord oder ethnische Säuberung; ich bin auf diesem Gebiet kein Experte. Die Fakten, Zahlen und Bilder sprechen aber für sich.
Viele von uns können nicht fassen, dass solche Taten in unserem Namen, von unseren Kindern und Enkeln und unter Vorgaben unserer gewählten Regierung begangen werden. Der Anteil der schockierten und bestürzten Israelis wächst rasch. Dies alles muss sofort beendet werden. Der Krieg im Gazastreifen muss umgehend abgebrochen und die verbliebenen Geiseln müssen zurückgebracht werden. Zudem muss sich Israel an der Findung einer umfassenden Lösung für den Nahostkonflikt ernsthaft beteiligen.
Die ausschlaggebenden Akteure sind Präsident Donald Trump und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Wenn sie es wollen, wird es geschehen. Doch Netanjahu bleibt unnachgiebig. Seine Logik lautet: ohne Krieg keine Regierung; endet der Krieg, endet seine Amtszeit, und damit ist er den Gerichtsverfahren wegen Korruption ausgesetzt.
All dies steht in direktem Zusammenhang mit der Wissenschaft: Die Europäische Union hat angekündigt, ihr Assoziierungsabkommen mit Israel zu überprüfen, einschließlich unserer Beteiligung am Forschungsrahmenprogramm Externer Link: "Horizont Europa". Dessen großzügige Grants des Europäischen Forschungsrates sind für uns in der israelischen Wissenschaft von unschätzbarem Wert. Brüssel überprüft derzeit, ob Israel gegen Artikel 2 des Menschenrechtsabkommens der Vereinten Nationen verstößt.
Hier zeigt sich die Verbindung zwischen Gaza und Wissenschaft: eine Fortsetzung des Kriegs und weitere Gewalt sowie die Vertreibung und weitere Gebietseroberungen führen womöglich zur Reduzierung der Finanzierung der israelischen Forschung. Sie führen zu weniger Kooperation und damit zu weniger Innovation, weniger Hightech und schließlich zu einem deutlich geschwächten Staat Israel. Nicht zuletzt möchte ich eine gebotene Differenzierung vornehmen; im Raum stehen derzeit drei israelkritische Narrative, die oft miteinander verwechselt werden, bewusst oder unbewusst. Ich möchte sie allgemeinverständlich übersetzen:
1. Antisemitismus bedeutet: "Die Juden sollen verschwinden."
2. Antiisraelismus beziehungsweise Antizionismus bedeutet: "Der Staat Israel soll verschwinden."
3. Kritik an Israels Maßnahmen bedeutet: "Die gegenwärtige Regierung soll verschwinden.
Gegen die ersten beiden Narrative müssen wir entschlossen eintreten, umso mehr, wenn sie häufig als politische Kritik getarnt sind. Sie, unsere geschätzten deutschen Freunde, sind in einer einzigartigen Position, auf diesem Gebiet eine Führungsrolle einzunehmen. Weltweit.
Mit derselben Entschlossenheit plädiere ich dafür, das dritte Narrativ ernst zu nehmen. Wie viele Mitbürgerinnen und Mitbürger in Israel verpflichte ich mich, alles in meiner Macht Stehende zu tun, den überfälligen Wechsel an der Spitze unseres Landes herbeizuführen. Dies ist eine Voraussetzung für ein Ende unserer verheerenden Lage. Genau dafür sind Freundinnen und Freunde da, in guten wie in schweren Zeiten. Jetzt mehr denn je brauchen Israel und insbesondere die israelische Wissenschaft die deutsche Freundschaft und Unterstützung. John Lennon schrieb in "Help!":
"And now my life has changed in oh so many ways, my independence seems to vanish in the haze, I know that I just need you like I've never done before. Help me get my feet back on the ground, won't you please, please help me?"
Wir benötigen Hilfe, um die drohenden Maßnahmen der Europäischen Union abzuwenden und die israelische Wissenschaft zu stärken, die bereit ist, eine zentrale Rolle bei der Heilung unseres zerrissenen Landes zu übernehmen. Die Suche nach Erkenntnis gründet auf universellen Werten: akademische Freiheit, vertrauensvolle Zusammenarbeit sowie Meinungs- und Redefreiheit.
60 Jahre diplomatische Beziehungen und über 65 Jahre wissenschaftliche Zusammenarbeit sind erst der Anfang einer langen Reise. Gehen wir diese Reise gemeinsam weiter, für die kommenden Generationen.
David Harel ist als Informatikprofessor am Weizmann-Institut der Wissenschaften in Rechovot tätig und Präsident der Israelischen Akademie der Wissenschaften. Zitierweise: David Harel, „Dies alles muss beendet werden“, in: Deutschland Archiv, 27.6.2025, www.bpb.de/563372. Die Erstveröffentlichung erfolgte in der FAZ vom 11. Juni 2025 im Ressort Natur und Wissenschaft. Zur Verfügung gestellt von David Harel und dem Frankfurter Allgemeine Archiv. Alle im Deutschland Archiv veröffentlichten Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Israelischer Informatiker und Präsident der Israelischen Akademie der Wissenschaften in Jerusalem, 1978 am Massachusetts Institute of Technology promoviert. Er ist Professor für Informatik am Weizmann-Institut, wo er seit 1980 tätig ist. 2004 erhielt er den Israel-Preis und 1996 den Stevens Award. 2006 wurde er zum Mitglied der Academia Europaea und 2007 zum Fellow der American Association for the Advancement of Science gewählt. Seit 2010 gehört er der Israelischen Akademie der Wissenschaften an, 2014 wurde er darüber hinaus in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen, 2019 in die National Academy of Sciences, 2020 in die Royal Society. Der Beitrag basiert auf einer Rede Harels am 25. Mai 2025 in Halle in der Wissenschaftsakademie Leopoldina aus Anlass der 60-Jahr-Feier der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bundesrepublik Deutschland und Israel. Harel kritisiert scharf den Krieg Israels im Gaza-Streifen. Seit Kriegsbeginn habe es keine vernünftigen und erreichbaren Ziele sowie keine Pläne für einen Rückzug Israels und für die Rückkehr der israelischen Geiseln gegeben, die sich weiterhin in den Händen der Terrororganisation Hamas befänden. Durch die Kriegsführung der israelischen Regierung sei zudem die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Ländern gefährdet.