„Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas."
Ostwärts hören: Gespräche über ostdeutsche Identitäten
/ 13 Minuten zu lesen
Warum ich einen Podcast über ostdeutsche Identitäten gestartet habe – und was ich seitdem über Herkunft, Repräsentation und das Zuhören gelernt habe.
― Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflections on a Damaged Life
Manchmal braucht es einen Perspektivwechsel, um eine Diskussion wirklich zu verstehen. Über den Osten zu sprechen, heißt für mich, aus einer spezifischen Erfahrung heraus zu erzählen – einer ostdeutschen Perspektive, die sich über Jahre hinweg im Spannungsfeld zwischen Unsichtbarkeit und Zuschreibung entfaltet hat. Viel zu häufig wurde der Osten vermessen, seziert, bedauert. Doch selten wurde richtig zugehört.
Mit dem Podcastprojekt „Externer Link: Ostwärts: Gespräche über ostdeutsche Identitäten“
Viele haben mich gefragt, als ich 2023 mit dem Ostwärts-Podcast begann: Warum das Thema? Warum Ostdeutschland? Ist es nicht auch mal gut? Manche haben es als rückwärtsgewandt wahrgenommen, andere als ausschließend. Dabei geht das Thema alle Menschen in Deutschland etwas an. Die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Transformationszeit nach 1989/90 ist verbunden mit der Zeit des Nationalsozialismus und eine direkte Folge der Nachkriegsordnung. Im Heute steckt sehr viel Gestern. Wir müssen die Vergangenheit verstehen und uns kritisch sowie selbstkritisch mit ihr auseinandersetzen, weil sie immer Teil der Gegenwart ist.
Die Auseinandersetzung mit ostdeutschen Identitäten ist kein Nation-Building. Ich möchte nichts zementieren, keine Teilidentität gegenüber einer nationalen Identität aufwerten oder die DDR-Zeit verherrlichen. Ich lade ein zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem, was ostdeutsche Identitäten ausmacht – wie komplex und vielschichtig die Antwort darauf ist und vor allem, dass es ein Plural ist. Gerade diese Erkenntnis – dass es nicht die eine ostdeutsche Identität gibt, sondern viele verschiedene – würde vielen Menschen neue Perspektiven eröffnen.
Herkunft als stille Prägung
Ich bin 1989 in Ostdeutschland geboren und in einer Welt aufgewachsen, die sich selbst noch nicht gefunden hatte. Man könnte auch sagen: Ich bin westdeutsch sozialisiert und ostdeutsch geprägt. Thüringerin, Dorfkind, katholisch. Eine Kombination, die im Rückblick viel über Zugehörigkeit und Fremdheit erzählt. Ich bin dieser Jugenderfahrung sehr dankbar, weil ich nie ganz dazugehört habe, weil ich mit dem katholischen Hintergrund immer eine Ausnahme war.
Die gebürtige Thüringerin Nine-Christine Müller will zuhören und über ostdeutsche Identitäten ins Gespräch kommen. Sie meint: "Der Osten ist nicht nur Vergangenheit. Er ist ein Raum, der erzählt werden will. Und muss. Vielstimmig. Und widersprüchlich. Ostdeutschsein heute ist mehr als eine geografische Herkunft – es ist eine geteilte Erfahrung, eine politische Forderung, ein kultureller Resonanzraum." (© Dmytro Guk)
Die gebürtige Thüringerin Nine-Christine Müller will zuhören und über ostdeutsche Identitäten ins Gespräch kommen. Sie meint: "Der Osten ist nicht nur Vergangenheit. Er ist ein Raum, der erzählt werden will. Und muss. Vielstimmig. Und widersprüchlich. Ostdeutschsein heute ist mehr als eine geografische Herkunft – es ist eine geteilte Erfahrung, eine politische Forderung, ein kultureller Resonanzraum." (© Dmytro Guk)
Meine Jugend verbrachte ich in Eisenberg, einer kleinen Stadt in Ostthüringen, die wenig bot außer Abgeschiedenheit und Sehnsucht. Kein Bahnhof, kein Kino, keine Busverbindung am Abend. Die Realität meines Umfelds war geprägt von zu viel Alkohol, zu viel Straucheln, zu wenig Perspektiven. Für mich war immer klar, dass ich nach dem Abitur weggehen würde. Und ich ging. Erst nach Dresden, dann nach Istanbul, und jetzt lebe ich in Berlin.
Lange war mir nicht bewusst, wie sehr mich meine Herkunft geprägt hat – vielleicht, weil sie nicht sichtbar war. Ich begann, Fragen zu stellen. Der Auslöser war ein ZEIT-Artikel über ostdeutsche Studierende und die Unterrepräsentation ostdeutscher Führungskräfte.
Generation Dazwischen
Die Ende der 1980er-Jahre Geborenen sind eine Generation des Dazwischen. Zu jung, um sich an die DDR zu erinnern. Zu ostdeutsch für den Westen, zu westdeutsch für den Osten. Eine Generation, die mit der Transformation aufgewachsen ist – nicht als Zuschauerin, sondern als Teil eines ständigen Aushandelns von Identität.
Viele von uns haben gelernt, den Dialekt zu verbergen, weil er uns verraten könnte und wir nicht mit Ostklischees konfrontiert werden wollen. Gleichzeitig tragen wir eine Form von Resilienz in uns, die aus der permanenten Auseinandersetzung mit Zugehörigkeit gewachsen ist. Wir leben in Zwischenräumen – geografisch, kulturell, mental. Und gerade deshalb haben wir die Fähigkeit, Brüche zu benennen, neue Narrative zu entwickeln und Ambivalenzen auszuhalten.
Viele von uns sind gegangen. Das belegt auch die jüngste Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung:
Identität als Prozess
Für Externer Link: Thomas Krüger, DDR-Bürgerrechtler und 25 Jahre lang Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, beginnt ostdeutsche Identität nicht in der DDR, sondern nach der Wende. Sie sei „eine nachträgliche Identität", entstanden durch Transformation, Brüche und neue Fremdzuschreibungen. „Die Westdeutschen sind sozialisiert worden in Sachen Demokratie mit Wohlstand. Während die Ostdeutschen mit der Transformationserfahrung sozialisiert worden sind."
Im November 2024 führte Nine-Christine Müller mit Thomas Krüger, Präsident der bpb, über seine Identität als Ostdeutscher. (© Nine-Christine Müller)
Im November 2024 führte Nine-Christine Müller mit Thomas Krüger, Präsident der bpb, über seine Identität als Ostdeutscher. (© Nine-Christine Müller)
Der Systemumbruch der 1990er-Jahre – Arbeitsplatzverlust, soziale Degradierung, biografische Brüche – hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Für Krüger ist die ostdeutsche Identität daher „eine viel brüchigere, fragilere Struktur". Doch gerade diese Brüchigkeit macht sie interessant: Sie ist nicht statisch, sondern prozesshaft. Sie entsteht im Erzählen, im Austausch und in der Reibung.
In einer besonders eindringlichen Podcast-Folge spricht der westdeutsch sozialisierte Externer Link: Bodo Ramelow (Die Linke), heute Mitglied des Bundestages, damals Ministerpräsident von Thüringen, über die „doppelte Sprachlosigkeit“: „Wir sprechen dieselbe Sprache, meinen aber oft ganz verschiedene Dinge." Damit bringt er ein zentrales Problem auf den Punkt: die Illusion eines gemeinsamen Verständnisses und die Herausforderungen der Deutschen Einheit. In seiner Analyse schwingt ein paradoxer Wunsch mit: „An manchen Stellen hätte ich mir gewünscht, dass wir in Deutschland zwei verschiedene Sprachen gesprochen hätten (...), um uns mal gegenseitig zu erklären, über was wir eigentlich reden."
Diese kulturelle Differenz ist bis heute spürbar. Ramelows Analyse ist klar: Viele Missverständnisse zwischen Ost und West sind nicht bloß biografisch, sondern strukturell. Die fehlende sprachliche Differenzierung verdeckt die kulturelle, historische und emotionale Divergenz – und erschwert den gesamtdeutschen Dialog bis heute.
Auch mit dem im Westen Deutschlands aufgewachsenen Bodo Ramelow sprach Nine-Christine Müller über Ostdeutschland. (© Nine-Christine Müller)
Auch mit dem im Westen Deutschlands aufgewachsenen Bodo Ramelow sprach Nine-Christine Müller über Ostdeutschland. (© Nine-Christine Müller)
Für Ramelow ist das Aushalten von Differenz ein politischer Wert. „Es könnte produktiv aufgelöst werden, indem man erstmal zulässt, dass es anders ist. Nicht schlechter, nicht besser – anders." Er sprach über die hartnäckige Fremdwahrnehmung des Ostens – und wie schmerzhaft sie für viele sei: „Wenn von außen über uns geredet wird – die wählen komisch, alles verlorenes Gebiet –, dann sagt man: ‚Dann macht doch die Mauer wieder hin.'" Gleichzeitig betonte er, wie wenig sichtbar ostdeutsche Leistungen sind: „Keine Chipfabrik auf der Welt, auf der nicht die Schlüsseltechnik aus Jena verbaut ist." Oder: „Wissen Sie, wo der Lamborghini und der Bugatti aufgeledert wird? In Gera." Bei all dem Feedback wurde mir bewusst, wie gut es tut, genau diese Erfolgsgeschichten des Ostens zu hören und nicht nur Themen zu Strukturschwäche, Ausländerfeindlichkeit und AfD-Wahlerfolge.
Ostdeutsch werden: Die Perspektive der jungen Generation
Ob Ramelow oder Krüger – sie alle thematisieren die Kluft zwischen Eigenwahrnehmung und äußerer Zuschreibung. Die Reduktion auf Wahlergebnisse oder Klischees blendet ökonomische und soziale Erfolge gezielt aus. Dabei gäbe es viel zu erzählen: versteckte Erfolgsgeschichten, die oft in der öffentlichen Wahrnehmung untergehen – und damit auch die Leistungen ostdeutscher Regionen und Fachkräfte.
Für die sogenannte Generation Z beginnt das Ostdeutschsein oft nicht mit der Wende, sondern mit dem
Vanessa Beyer und Lisa Trebs haben (K)Einheit 2022 zunächst als Filmprojekt gestartet. Die beiden Frauen stammen aus dem Leipziger Süden und sind Vertreterinnen der Generation Z. (© Franz Michel)
Vanessa Beyer und Lisa Trebs haben (K)Einheit 2022 zunächst als Filmprojekt gestartet. Die beiden Frauen stammen aus dem Leipziger Süden und sind Vertreterinnen der Generation Z. (© Franz Michel)
Wegzug. Im Interview mit Lisa Trebs und Vanessa Beyer sprechen wir über deren Seriendokumentarfilm „(K)Einheit - Wie die Gen Z über den Osten denkt", der zehn Menschen zwischen 18 und 25 Jahren insbesondere aus Chemnitz und der Region porträtiert und fragt: Was bewegt junge Menschen im Osten von Deutschland?
Gefragt nach ihrer ostdeutschen Identität, sagt Beyer: „Für mich hat das dann begonnen, als ich weggezogen bin." Erst durch den Kontrast zur westdeutschen Norm rückt die eigene Herkunft ins Bewusstsein. Der „Ostdeutsch-Werdungsprozess“ ist dabei kein nostalgischer Rückgriff, sondern ein Akt der Selbstverortung: kritisch, reflektiert und zukunftsgewandt.
Die junge Generation erlebt strukturelle Benachteiligungen – etwa bei Stipendien, Elitenzugängen oder Repräsentation – nicht mehr als individuelles Versagen, sondern als kollektives Erbe. Sie stoßen „an so eine gläserne Decke“, so Trebs, und fragen sich: „Warum gibt es so wenig ostdeutsche Führungskräfte? Warum fehlen Netzwerke?" Identität wird so zur politischen Kategorie.
Viele in dieser Generation sind müde. Müde, sich ständig erklären zu müssen. Müde, auf Talkshow-Stereotype reduziert zu werden. Müde, gefragt zu werden, warum „die da drüben“ so wählen. Was fehlt, ist nicht nur Repräsentation – es sind auch neue Narrative für „den Osten“.
Macht und Repräsentation als Ermächtigung
Veränderung fängt mit dem eigenen Erkennen und Verstehen an – und mit der selbstbewussten Selbstbezeichnung. Also: Was, wenn wir umdenken und uns raus emanzipieren aus einer vormals oft verleugneten Position und Herkunft und uns zu erkennen geben? Auch Thomas Krüger betont: „Menschen mit ostdeutscher Biografie müssen sich in der Öffentlichkeit positionieren und zeigen, (...) weil sie auch Role Models sein können." Doch genau daran fehlt es oft: In Ministerien, Medien und Konzernzentralen sind Ostdeutsche nach wie vor unterrepräsentiert. Sichtbarkeit bedeutet dabei nicht Essentialismus, sondern Ermächtigung: „Ich mache mich zum Teil einer Idee (...) die Grenzen aufbricht und nicht Grenzen betoniert." Auch für Vanessa Beyer ist Repräsentation zentral – aber nicht als Abgrenzung, sondern als Brücke: „Man kommt ja auch einfach nicht weiter, wenn man immer über Ostdeutschland in Ostdeutschland spricht." Ihre Strategie: Erst das eigene Ostbewusstsein stärken, dann den Dialog suchen.
Externer Link: Constanze Buchheim, Unternehmerin und Expertin für moderne Führung und Unternehmensentwicklung im deutschsprachigen Raum, die sich auf die Besetzung von Führungspositionen in Unternehmen im Wandel fokussiert, betont im Podcast-Gespräch eine andere oft fehlende Perspektive: die auf Macht. Für sie bringen Ostdeutsche eine zentrale Zukunftskompetenz mit: Transformationsfähigkeit.
„Wenn wir unsere regionalen Unterschiede als Bereicherung verstehen und in eine gemeinsame Zukunft einbringen, lösen wir nicht nur die Selbstwirksamkeitskrise – wir schaffen echte Einheit." Doch genau diese Ressource werde unterschätzt und müsste aktiv eingesetzt werden. Macht wird aber von Ostdeutschen oftmals gemieden – aus Misstrauen gegenüber alten Eliten, aus soziokultureller Prägung. Buchheim setzt dem entgegen: „Macht ist Gestaltungskraft. Wir können ihr eine positive Bedeutung geben – im Sinne des Gemeinwohls."
Und sie sagt auch: „Wenn wir, die erfolgreich sind, nicht sagen, woher wir kommen, bleibt den Medien nur, über die anderen zu berichten." Diese Aussage trifft einen neuralgischen Punkt: Sichtbare Erfolgsgeschichten aus dem Osten werden oft nicht als solche wahrgenommen oder erzählt, weil die Protagonisten ihre Herkunft nicht thematisieren. So entsteht ein Vakuum, das von Problemerzählungen gefüllt wird.
Gestaltung vor Ort: Bleiben, Zurückkehren, Gestalten
Bodo Ramelow definiert ein modernes Heimatverständnis jenseits von Rückwärtsgewandtheit: Das Gefühl des Stolzes auf die eigene Heimat, „aber diese Heimat ist eben keine abgeschlossene". Heimat ist weder ideologisch aufgeladen noch exklusiv – sondern ein Ort des Werdens, nicht des Bleibens.
Und doch: Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die bleiben – oder zurückkehren. Die ihre Orte gestalten: mit Kulturprojekten, Bildungsinitiativen, Gemeinderatsarbeit. Menschen, die sich nicht vom Mangel definieren lassen wollen, sondern von ihren Möglichkeiten. Externer Link: Tom Waurig, Chefredakteur des Dresdener Veto-Magazins, das zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren eine Bühne gibt, sagt im Podcast: „Ich bin geblieben, weil ich gesehen habe, dass ich gebraucht werde." Ähnlich begründen andere ihre Entscheidung: „Ich bin zurückgekommen, weil ich will, dass meine Kinder hier aufwachsen." Diese Geschichten erzählen nicht von Stillstand, sondern von Gestaltung. Viele wollen „hier mit anpacken und die Zukunft gestalten.“
v.l.n.r. Tom Waurig, Dennis Chiponda und Nine-Christine Müller (© Nine-Christine Müller privat)
v.l.n.r. Tom Waurig, Dennis Chiponda und Nine-Christine Müller (© Nine-Christine Müller privat)
Hoffnung macht der Trend, dass vermehrt Menschen nach dem Studium in ländliche Gegenden zurückkehren und dort neue Projekte initiieren. Sie bringen Expertise mit, die sie in der Welt erworben haben, und investieren sie in ihre Heimatregionen. Das ist eine andere Form von Erfolg – einer, der nicht in Abwanderungsstatistiken gemessen wird, sondern in lebendigen Gemeinschaften und innovativen Ansätzen.
Auch im Saale-Orla-Kreis in Thüringen bewegt sich etwas: Externer Link: Martin Strobel und sein Team vom goals connect e.V. haben dort das erste „Spendenparlament“ im ländlichen Ostdeutschland aufgebaut. Keine Elitenrunde, keine Lobbyisten, sondern Menschen aus der Region entscheiden gemeinsam, welche lokalen Projekte gefördert werden – von Fußball- über Imker- bis hin zu Karnevalsvereinen.
„Was ich wahrnehme, ist, dass ganz viele Menschen in den Landkreisen mit gesellschaftlichen Entwicklungen unzufrieden sind und sich machtlos fühlen", sagt Strobel. „Wenn dann Initiativen kommen und sagen: Lass mal machen!, führt das zu Sichtbarkeit, Engagement – und auch dazu, demokratisch zu wirken". Das Modell verbreitet sich bereits über Thüringen hinaus. Und es zeigt: Demokratie beginnt nicht im Bundestag, sondern im Dorf. Der Osten bringt neue Formen von Teilhabe hervor – lokal, niedrigschwellig und wirksam. Und das Wissen darüber wird nicht gehortet, sondern geteilt. So entsteht ein solidarisches Ökosystem des Lernens. Erste Anfragen hat das Team von Strobel schon aus verschiedenen Regionen Ostdeutschlands erhalten.
Vulnerable Gruppen als Seismograf
Ein wichtiger Aspekt, der in vielen Gesprächen durchscheint, ist die besondere Sensibilität ostdeutscher Regionen für gesellschaftliche Veränderungen. Wie Externer Link: Dennis Chiponda, Person of Color und Host vom Mauerecho-Podcast, erläutert: „Vulnerable Gruppen bekommen Verschiebungen und Veränderungen in der Gesellschaft zuerst zu spüren. Gerade die Dominanzgesellschaft bekommt immer nur die Spitzen mit, während wir schon sehr viel früher wahrnehmen können, dass sich was verschiebt."
Diese Früherkennung zeigt sich besonders beim Thema Rechtsextremismus. Chiponda beschreibt, wie er bereits 2013/14 spürte, dass sich etwas veränderte – während viele erst bei medienwirksamen Ereignissen wie auf Externer Link: Sylt aufhorchen, als auf einer Party rassistische Parolen auf einen Song gegrölt wurden . „Es ist nichts, was einmal aufgehört hat und dann wieder anfängt, sondern es sind immer Wellen", erklärt er. Vulnerable Gruppen sind wie ein gesellschaftlicher Seismograf, der Erschütterungen registriert, bevor sie die Oberfläche erreichen.
Der Osten wird so zum Brennglas gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Erfahrungen vulnerabler Gruppen sind nicht nur individuell relevant, sondern haben gesellschaftliche Aussagekraft. Ostwärts gibt diesen Stimmen Raum – nicht als Repräsentantinnen und Repräsentanten einer homogenen Gruppe, sondern als Expertinnen ihrer eigenen Lebenswirklichkeit.
Der Podcast als Lernraum
Was ich durch Ostwärts gelernt habe, geht weit über meine eigene Biografie hinaus. Jedes Gespräch hat neue Facetten ostdeutscher Erfahrungen sichtbar gemacht. Da ist die Techno-Wende-Club-Kultur, die zeigt, wie aus Ruinen Kreativität erwächst. Da ist eine junge Kommunalpolitikerin, die beweist, dass Gestaltung auch in schwierigen Strukturen möglich ist. Da sind die schon erwähnten Rückkehrer, die ihre Expertise aus der Welt zurück in die Heimat tragen.
Besonders bewegend sind die Gespräche über Brüche und Kontinuitäten. Wie prägt es Menschen, wenn ihre Eltern über Nacht ihre Arbeit verlieren, wie das im Osten flächendeckend der Fall war? Wie geht eine Generation mit dem Erbe der DDR um, ohne sie erlebt zu haben? Wie entsteht Heimat neu, wenn die alten Gewissheiten verschwunden sind? Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Aber es gibt vielstimmige Antworten.
Neue Fragen, neue Narrative
Was bedeutet es heute, ostdeutsch zu sein? Identität ist keine feste Größe, sondern ein Prozess. Etwas, das sich im Erzählen verändert. Im Austausch, in der Reibung, im Dazwischen. Ich begreife mich als Teil einer kollektiven Erzählbewegung. Ich will mithelfen, Stimmen zu verstärken, Perspektiven zu öffnen, Fragen zu stellen. Nicht nur über den Osten. Sondern aus dem Osten heraus.
Die Fragen, die wir stellen sollten, haben sich verändert. Wir wollen nicht mehr gefragt werden, ob es die DDR noch gibt. Oder immer wieder, warum der Osten „so wählt, wie er wählt". Wir wollen gefragt werden: Wie wollt ihr leben? Was tragt ihr bei? Was braucht ihr? Welche Zukunft wollt ihr gestalten? Diese Fragen eröffnen neue Narrative. Sie zeigen den Osten nicht als Problemregion, sondern als Gestaltungsraum. Sie zeigen ostdeutsche Menschen nicht als Objekte der Betrachtung, sondern als Subjekte der Veränderung.
Einheit als Aufgabe
35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die ostdeutsche Identität alles andere als abgeschlossen. Sie ist ein lebendiger Aushandlungsprozess zwischen biografischer Prägung, gesellschaftlicher Fremdwahrnehmung und einem wachsenden Bedürfnis nach Selbstrepräsentation. Ob in der politischen Bildung, im öffentlichen Diskurs oder in zivilgesellschaftlichen Initiativen – immer deutlicher wird: Ostdeutschsein ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart und Zukunft.
Das Anerkennen der Unterschiede – biografisch, kulturell, institutionell – ist der Ausgangspunkt für einen gesamtdeutschen Lernprozess. Es geht nicht darum, Unterschiede zu nivellieren, sondern sie als Ressource zu begreifen. Ostdeutsche Identität ist keine Abgrenzung, sondern Bereicherung einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft.
Denn Einheit ist kein abgeschlossener Zustand. Sie ist eine Aufgabe, die uns alle betrifft. Und das vielbeschworene Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse ist nicht nur ein Verwaltungsziel – es ist ein Versprechen. Und ein Maßstab für die Verfasstheit unserer Demokratie.
Der Osten ist nicht nur Vergangenheit. Er ist ein Raum, der erzählt werden will. Und muss. Vielstimmig. Und widersprüchlich. Ostdeutschsein heute ist mehr als eine geografische Herkunft – es ist eine geteilte Erfahrung, eine politische Forderung, ein kultureller Resonanzraum. Von den DDR-Sozialisierten bis zur Generation Z spannt sich ein Kontinuum an Stimmen, das zeigt: Einheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Einheit entwickelt sich im Gespräch. Und dieses Gespräch hat gerade erst begonnen.
Zitierweise: Nine-Christine Müller, „Ostwärts hören: Gespräche über ostdeutsche Identitäten", in: Deutschland Archiv vom 30.7.2025. Link: www.bpb.de/569398. Alle im Deutschlandarchiv veröffentlichten Beiträge sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (al)
Weitere Inhalte
Jahrgang 1989, aufgewachsen in Thüringen. Germanistin, Moderatorin und Podcasterin. Mit „Ostwärts: Gespräche über ostdeutsche Identitäten" schafft sie seit 2022 einen Raum für vielstimmige Erzählungen aus dem Osten Deutschlands. Sie lebt in Berlin.