Die Hare-Krishna-Bewegung im Ost-Berlin der 1980er-Jahre
Christian Fuchs
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Sanskrit, Räucherstäbchen und Mantras: In der atheistischen DDR versuchte eine kleine Hare-Krishna-Gemeinschaft, östliche Spiritualität jenseits der sozialistischen Norm zu leben. 14 von ihnen besetzten 1984 die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin um in den Westen zu gelangen.
Am 3. August 1985 wurde der West-Berliner Dirk B. am Grenzübergang Friedrichstraße bei dem Versuch gestoppt, mit einem Kleinlaster nach Ost-Berlin einzureisen. Neben einem Sanskrit-Wörterbuch fanden DDR-Grenzbeamte vier Tonbandkassetten polnischer Herkunft. Ihr Inhalt, englischsprachige Predigten und Mantras der Hare-Krishna-Bewegung, machte die Beamten misstrauisch. Auf den Vorwurf, bewusst gegen DDR-Recht verstoßen zu haben, erklärte B.: „Mir ist es wichtiger, der Bitte meines geistlichen Führers nachzukommen, als die gesetzlichen Bestimmungen der DDR einzuhalten.“ Die Staatssicherheit stufte ihn als „Kurier“ der im Westen unter jungen Leuten in Mode gekommenen Bewegung ein. Sein Auftrag: die Versorgung ostdeutscher Krishna-Anhänger*innen mit religiösen Schriften wie der Bhagavad Gita. Fälle wie dieser zeigen, dass es kleine spirituelle Gruppierungen auch in die DDR schafften.
Spiritualität in Ost und West
Der Zeitgeist der 1970er- und 80er-Jahre machte nämlich keineswegs an der Mauer halt. Mit dem Aufkommen der globalen Hippie- und New-Age-Bewegungen gelangten spirituell-alternative Strömungen auch in die sozialistischen Staaten östlich des Eisernen Vorhangs. Wenn diese auch sehr klein waren, lässt sich in diesem Kontext eine sich abzeichnende Pluralisierung der spätsozialistischen Gesellschaft beobachten, die vor dem Hintergrund der Untergrundbewegungen der 1980er-Jahre Konturen annahm.
Das vermehrte Aufkommen von Spiritualität, Neuen Religiösen Bewegungen und Guru-Kulten in den westlichen Gesellschaften der 1970er-Jahre war eng mit den gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen dieser Zeit verbunden. Die 68er-Bewegung und die Hippie-Kultur etwa betonten die Ablehnung materialistischer Werte und verstärkten in einem Teil der Bevölkerung die Hinwendung zu alternativen Lebensweisen. Spiritualität wurde zu einem Mittel der individuellen Selbstverwirklichung und als Gegenentwurf zu rationalistischen und kapitalistischen Weltbildern des Westens verstanden. Gleichzeitig spiegelte sich in diesem Phänomen ein zunehmendes Misstrauen gegenüber traditionellen Institutionen wie Kirche, Staat und Wissenschaft wider. Durch die sich intensivierende Globalisierung religiöser Strömungen konnten traditionell östliche Philosophien und Religionen, insbesondere Hinduismus und Buddhismus, auch im Westen populär werden. Gurus wie Maharishi Mahesh Yogi oder A. C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada, der Begründer der modernen Hare-Krishna-Bewegung, erreichten internationale Anhängerschaften, indem sie spirituelle Praktiken wie Meditation und Mantra-Gesänge mit den Sehnsüchten nach Frieden, Sinn und innerer Erfüllung verbanden.
Der atheistische Staat
Die Unterdrückung von Religion gehörte zu einem der zentralen Merkmale des SED-Regimes. Im Sinne des „wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus“, der in realsozialistischen Regimen die ideologische Grundlage für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklung bildete, galt Religion als ein Überbleibsel des Kapitalismus, das mit dem Fortschreiten hin zur kommunistischen Gesellschaft verschwinden würde. Der Aufbau einer atheistischen, den Grundlagen des Marxismus-Leninismus folgenden Gesellschaft wurde von der SED zur Aufgabe staatlicher Politik gemacht. Die DDR war eine weitgehend säkularisierte Gesellschaft, in der das SED-Regime religiöse Weltanschauungen als Relikte bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse interpretierte und systematisch zurückdrängte.
Zugleich verfolgte die DDR das Ideal einer Gesellschaftsordnung, die sich vollständig an wissenschaftlich-rationalen Prinzipien orientieren sollte: ein szientistisches Weltbild, das Wissenschaft zur einzig gültigen Form der Welterklärung erhob. Diese technokratisch geprägte Fortschrittsideologie verband sich mit der Vorstellung, dass gesellschaftlicher und technischer Fortschritt planbar und steuerbar seien. Aberglaube, Esoterik oder jede Form nicht-materialistischer Weltdeutung galten als unvereinbar mit dem Sozialismus, wurden abgewertet und als Ausdruck westlicher Rückständigkeit oder Dekadenz diskreditiert.
Die Hare-Krishna-Bewegung
Die Hare-Krishna-Bewegung basiert auf der Bhakti-Tradition des Hinduismus, die eine liebevolle Hingabe an Krishna als höchsten Gott betont. Ihre Wurzeln gehen auf den Mystiker Sri Caitanya (1486–1533) zurück, der das Chanten, also das wiederholte Singen und Rezitieren von Krishnas Namen als zentrale spirituelle Praxis einführte. Wichtige Elemente des Alltags sind das tägliche Singen des Hare-Krishna-Mantras (1728-mal), der Verzehr von Prasadam – vegetarischer, Krishna geweihter Nahrung – sowie eine strikt regulierte Lebensweise. Dazu gehören der Verzicht auf Rauschmittel, sexuelle Aktivität, Kapitalspekulation und Glücksspiel sowie die tägliche Ausübung spiritueller Rituale.
In Westdeutschland ist die Bewegung seit 1969 präsent, vor allem durch die Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein (ISKCON), ihre weltweit bekannteste Organisation. Die Neue Religiöse Bewegung gilt als „Großstadtreligion“, die vor allem Mitglieder in den Ballungsräumen anzieht und große Bekanntheit durch die Sankirtan genannten Straßenprozessionen durch eben jene Großstädte erlangte, bei denen gesungen und musiziert wird. Durch ihre orangefarbenen Gewänder und häufig bis auf einen Zopf kahlgeschorenen Devotees stachen die Mitglieder der Hare-Krishna-Bewegung besonders in diesen städtischen Zentren hervor und wurden oft als exzentrisch oder auffällig wahrgenommen. Diese öffentlichen Rituale und die visuelle Erscheinung der Gläubigen trugen wesentlich dazu bei, die Bewegung im westlichen Raum zu etablieren.
Die Aktivitäten der Hare-Krishna-Anhänger in Ost-Berlin lassen sich in drei Phasen unterteilen, die von 1971 bis 1991 reichen. Diese Phasen zeigen die Entwicklung und die Herausforderungen der Bewegung in einem repressiven politischen Umfeld in den letzten Jahren der DDR.
Spirituell in Ost-Berlin?
Die Geschichte von Hare-Krishna in der DDR beginnt mit der ersten dokumentierten Einreise eines ISKCON-Missionärs im Rahmen der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin. Das Großereignis, das vom 28. Juli bis zum 5. August 1973 stattfand, wurde von der SED als große Propagandaveranstaltung geplant, um die Erfolge der DDR als sozialistischen deutschen Staat der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Die ungewohnten Freiheiten der Weltfestspiele lieferten die Rahmenbedingungen dafür, dass in diesen Tagen der erste Kontakt von zwei amerikanischen ISKCON-Missionären mit dem ersten ostdeutschen Hare-Krishna-Anhänger, Eka Das, hergestellt wurde. Eka, Sanskrit für „der Erste“, soll über eine Sendung im westdeutschen Fernsehen zwei Jahre zuvor auf die Hare-Krishna-Bewegung aufmerksam geworden und mit der ISKCON im Westteil der Stadt in Kontakt getreten sein. ISKCON-Angehörige aus Westdeutschland und den USA gelangten im Rahmen der Weltfestspiele mit einem 24 Stunden lang gültigen Touristenvisum nach Ost-Berlin, wo sie sich als Touristen ausgaben und mögliche Interessierte ansprachen.
Diese ersten Missionierungsversuche lassen sich im Kontext der deutsch-deutschen Entspannungspolitik der 1970er- und 1980er-Jahre, insbesondere im Rahmen der neuen Ostpolitik, erklären. Diese eröffnete neue Möglichkeiten für Kontakte über die innerdeutsche Grenze hinweg. Ab 1972 war es West-Berliner*innen durch das Transitabkommen zwischen BRD und DDR möglich geworden, als Touristen in den Ostteil der Stadt zu reisen. Die strategische Lage West-Berlins, mit direktem Zugang zur DDR, wurde von Hare-Krishna-Missionaren gezielt genutzt, um erste Kontakte zu DDR-Bürger*innen herzustellen und ihren Glauben auch jenseits des Eisernen Vorhangs zu verbreiten, sogar in die Sowjetunion.
Der Krishna-Anhänger Eka Das wurde am 16. Februar 1974 am Grenzübergang Friedrichstraße festgenommen, als er versuchte, in einer US-Militäruniform die DDR in Richtung West-Berlin zu verlassen. Die Uniform stammte von einem US-amerikanischen Hare-Krishna-Devotee, doch Eka fiel durch „Ostschuhe“, fehlendes Namensschild und sein Schweigen auf englische Zurufe auf. Er wurde als politischer Gefangener in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert, später in das Gefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Potsdam und schließlich in die JVA Waldheim verlegt, bevor er schließlich nach West-Berlin entlassen wurde. Laut Staatssicherheit war sein Motiv die „Erfolglosigkeit, Glaubenspartner in der DDR zu finden“. Das allgemeine Desinteresse an Religion und Spiritualität sowie die deutlich erschwerten Bedingungen unter der Beobachtung von Volkspolizei und Staatssicherheit machten die Missionierungsvorhaben in dieser ersten Phase kompliziert.
Das Krishna-Haus in Friedrichshagen
Die zweite Phase der Ost-Hare-Krishna-Bewegung begann mit dem Bezug einer Gartenlaube in Köpenick im Jahr 1979. Die Kontakte zur ISKCON waren in dieser zweiten Phase weiterhin sehr wichtig und hatten besonders für die Finanzierung und spirituelle Weiterbildung der Gruppe besondere Relevanz. Insbesondere die Bereitstellung von Literatur und Weiterbildungen in die Lehre der ISKCON wurden von verschiedenen Besuchergruppen aus Westdeutschland ermöglicht. In der Krishna-Gartenlaube wurden kleine Veranstaltungen organisiert und regelmäßig Besuche von interessierten DDR-Bürger*innen empfangen. In den Jahren 1979 bis 1981 sollen laut Schätzung der Staatssicherheit etwa 50 junge Menschen aus verschiedenen DDR-Bezirken in Kontakt mit der Hare-Krishna-Bewegung gekommen sein und circa zehn Personen zum engeren Kreis der Devotees gezählt haben.
Der Alltag in der Krishna-Gemeinde erforderte, wie in vielen Bereichen des Lebens in der DDR, Improvisation. Dabei erfolgten Anpassungen des Hare-Krishna-Glaubens an die Erfordernisse des sozialistischen Alltags. Da man in der DDR nicht länger als drei Monate arbeitslos sein durfte, ohne als „asozial“ zu gelten, und um nicht weiter aufzufallen, gingen die Bewohner*innen des Gartenhauses weiterhin ihren Berufen nach. Weil die Mitglieder einer geregelten Arbeit nachgehen und die Tage weniger mit dem Praktizieren ihres Glaubens verbringen mussten, waren sowohl die Struktur als auch die Tagesabläufe in Ost-Berlin deutlich weniger geregelt als in den ISKCON-Gemeinden in Westeuropa.
Wenige Monate nach dem Bezug der Gartenlaube, wahrscheinlich bereits im Jahr 1980, erfolgte der Umzug der Hare-Krishna-Gemeinde in ein leerstehendes Haus in Berlin-Friedrichshagen. Im Jahr 1981 erfolgte der Versuch, im Staatssekretariat für Kirchenfragen einen Antrag auf Zulassung einer „Religiösen Gemeinschaft für Krishna-Bewusstsein“ einzureichen. Dieser wurde abgelehnt, wodurch ein Verbot der Organisation von Veranstaltungen durch die Behörden bekräftigt wurde.
Erzwungene Ausreise durch Besetzung der bundesdeutschen Ständigen Vertretung
Im Mai 1984 flüchteten 58 Personen, darunter 14 Hare-Krishna-Anhänger*innen, in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, um ihre Ausreise zu erwirken. Die Staatssicherheit identifizierte die Krishna-Devotees als Initiator*innen der Aktion, die bis zum 28. Juni andauerte. Aufgrund ihres diplomatischen Auftrags nahm die Ständige Vertretung die Geflüchteten zunächst auf, schloss jedoch am 26. Juni aufgrund des großen Andrangs, nach einem dramatischen Zwischenfall auf dem Gelände der Vertretung mit versuchter Selbstanzündung, und öffnete erst am 31. Juli wieder.
Nach intensiven Verhandlungen durften 55 Personen, darunter alle teilnehmenden Krishna-Devotees, zwischen Juli und Oktober ausreisen, nachdem sie zuvor offizielle Anträge gestellt hatten. Ihnen wurde Straffreiheit und beschleunigte Bearbeitung zugesichert. Hans Otto Bräutigam, der Leiter der Ständigen Vertretung, beschrieb die Gruppe als „Gruppe junger Buddhisten aus Ostberlin“, die während ihres Aufenthalts täglich „eine Andacht mit Kerzen und Meditationsübungen abgehalten und dank ihrer religiösen Prägung die lange Wartezeit gut überstanden“ hatten. Die Ereignisse markieren eine Zäsur: Die ISKCON verlor temporär ihren gesamten aktiven Kreis in der DDR, weitere Verbindungen wurden von staatlicher Seite unterbunden.
Mit der Bewilligung der Ausreisen wurde die DDR-Ausreisebewegung gestärkt, die in den 1980er-Jahren mehr und mehr Genehmigungen zur dauerhaften Ausreise aus der DDR forderte. Die jährliche Zahl der sogenannten Antragsteller*innen versechsfachte sich so zwischen 1980 (21.500) und 1989 (125.000). Unter dem Druck der stetig steigenden Ausreiseanträge ließ das SED-Regime 1983 erstmalig circa 30.000 Ausreisen in die Bundesrepublik zu. Zuvor waren sämtliche Anträge als rechtswidrig abgelehnt worden. Der Wandel im Umgang mit den Ausreisewilligen sollte einerseits der Devisenbeschaffung aus der Bundesrepublik dienen und gleichzeitig lästige „Unruhestifter“ ausweisen. Dass die Übersiedlung in die Bundesrepublik auch aus religiösen Gründen erfolgte, zeigen die Ausreiseanträge der Hare-Krishna-Anhänger*innen.
Mantras und Räucherstäbchen im Prenzlauer Berg
Im Jahr 1984 begann eine neue Phase der Hare-Krishna-Aktivitäten in der DDR, die sich vor allem auf den Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer Berg konzentrierten. Dort richtete ein Devotee, der als Gemeindehausmeister in der Segenskirche in der Schönhauser Allee tätig war, in seiner Dienstwohnung einen kleinen Krishna-Tempel ein und übernahm zugleich die Leitung der Aktivitäten. Um nicht als „Asozialer“ verfolgt zu werden und unter dem Schutz der evangelischen Kirche zu stehen, arbeitete er offiziell weiter als Hausmeister.
Als einziger geweihter Devotee in Ost-Berlin lag sein Fokus weniger auf dem Aufbau einer festen Gemeinde, sondern auf der Gewinnung interessierter DDR-Bürger*innen. Dazu sprach er Menschen auf der Straße an, verteilte Bücher und vegetarisches Essen, sprach über indische Spiritualität und organisierte jeden Dienstag ab 17 Uhr vegetarische Kochzirkel. Laut dem Bericht eines von der Stasi auf ihn angesetzten Informellen Mitarbeiters (IM) sollen etwa 15 bis 20 Personen zum Kreis der Interessenten gehört haben, die in der Hausmeisterwohnung zum Essen und Singen vorbeigekommen sind, darunter viele Studierende. Auch regte er an, Hare-Krishna-Literatur in die Berliner Staatsbibliothek aufzunehmen. Während dort einige Werke von Srila Prabhupada auf Englisch erhältlich waren, wurde weitere Literatur mit Verweis auf knappe Mittel und mangelnde wissenschaftliche Relevanz abgelehnt.
Neben den wöchentlichen Kochkursen fanden in der Hausmeisterwohnung auch sogenannte Sonntagsfeste statt, die jedoch bewusst samstags gefeiert wurden, um Besucher*innen aus Westberlin die Teilnahme zu ermöglichen – sowohl im Osten als auch tags darauf im Westen. Die Verbindung zu West-Berliner Devotees war von Anfang an ein wichtiger Teil der Identität und Anziehungskraft der kleinen ostdeutschen Krishna-Gemeinde. Dass Hare-Krishna-Aktivitäten in der Nähe der evangelischen Kirche stattfinden konnten, hat vor allem mit der Bedeutung des Schutzraums Kirche in den letzten Jahren der DDR zu tun. Im Verlauf der 1980er-Jahre agierten immer mehr Oppositionelle und Bürgerrechtler*innen in Gemeinden und Kirchen, da diese den nötigen Freiraum boten, um abseits von staatlicher Kontrolle zu wirken. In diesem Sinne nahm der Devotee P. auch an kirchlichen Veranstaltungen teil und knüpfte weitere Kontakte zur alternativen Szene Ost-Berlins. Dabei wurde vor allem das vegetarische Prasadam für verschiedene Veranstaltungen angefragt, etwa für ein Punkkonzert oder eine Kunstausstellung.
Nach der Ausreise P.s, die über eine Scheinehe mit einer West-Berliner Hare-Krishna-Anhängerin gelang, übernahm ein weiterer Devotee die Wohnung und fungierte als Ansprechpartner der ISKCON. Dessen Spuren lassen sich anhand der Akten der Staatssicherheit noch bis zum September 1989 nachverfolgen. Die Wohnung in der Schönhauser Allee diente noch bis 1991 als Tempel und Versammlungsort für Hare-Krishna-Devotees, bis die evangelische Kirche den Vertrag schließlich aufkündigte.
Ostdeutsch und spirituell?
Auch wenn die Devotees in den meisten Fällen eine kritische Haltung gegenüber der SED und dem Sozialismus hatten, war diese zumeist darauf gegründet, dass ihre Religionsfreiheit eingeschränkt war und sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Das Desinteresse an den Werten des SED-Regimes und Politik im Allgemeinen sowie ihr Engagement für Spiritualität und die Verbreitung des sogenannten Krishna-Bewusstseins führte den Großteil der Hare-Krishna-Anhänger*innen schließlich nach Westdeutschland. Eine Zeitzeug*innenenbefragung ergab, dass Devotees in der DDR eine Leere oder Unzufriedenheit in ihrem Leben empfanden, die sie durch die staatlich propagierten Weltanschauungen und materiellen Ideale nicht füllen konnten. Diese innere Sehnsucht nach Sinn und spiritueller Erfüllung führte sie schließlich auf den Weg zur Hare-Krishna-Bewegung, die ihnen eine alternative Lebensweise und eine tiefere spirituelle Perspektive bot.
Ein weiterer gemeinsamer Aspekt war das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Die Krishna-Gemeinschaft bot ihnen einen Raum, in dem sie Akzeptanz und Unterstützung erfuhren, abseits der repressiven Atmosphäre, die viele in der DDR empfanden. Einen weiteren wichtigen Faktor für die Attraktivität der Hare-Krishna-Bewegung stellte die vegetarische Ernährungsweise der Devotees dar, die in der DDR sonst keine große Rolle spielte. Die auch als „kitchen religion“ bezeichnete neue religiöse Bewegung stellte in Ostdeutschland eine noch größere Besonderheit als in den westlichen Ländern dar und bot mit indischen und vegetarischen Gerichten und Gewürzen Lebensmittel, die man in der DDR-Küche, die von Mangel, hohem Fleischkonsum und deutschen Gerichten beeinflusst war, sonst nur schwer finden konnte.
Überwachung durch die Staatssicherheit
Die Aktenanalyse zeigt, dass die Staatssicherheit die Hare-Krishna-Bewegung als „Sekte“ betrachtete, die mit den Prinzipien der sozialistischen Gesellschaft nicht übereinstimmte. Tatsächlich sahen sich die Devotees in keiner Form als offene Opposition gegen das SED-Regime, für sie standen die Suche auf Antworten nach spirituellen Fragestellungen sowie praktische Themen der Religionsfreiheit im Vordergrund. Doch allein die Betonung von Individualismus und die Verweigerung der Teilnahme an der vom Staat propagierten Gesellschaftsform ließen die Krishna-Devotees im Selbstverständnis des DDR-Verfolgungsapparats als potenzielle Gefahr für die sozialistische Ordnung erscheinen, da ihre spirituellen Praktiken und ihr unabhängiger Lebensstil als Bedrohung für die kollektive Ideologie und die Kontrolle des Staates über das private und öffentliche Leben wahrgenommen wurden.
Von der Staatssicherheit wurden im Rahmen der Beobachtung der Hare-Krishna-Anhänger*innen verschiedene geheimdienstliche Mittel angewandt, dazu gehörte auch der Einsatz von IMs zur Überwachung einzelner Devotees. Dabei wurden im Sinne der Logik der Staatssicherheit als Geheimpolizei und Überwachungsbehörde Fakten verbogen, Ereignisse überspitzt dargestellt und die Hare-Krishna-Bewegung als westlich gesteuerte Organisation dargestellt, die die Unterwanderung der sozialistischen Welt zum Ziel habe und mit dubiosen Methoden, wie dem Einsatz von Drogen, ihre Anhängerschaft manipuliere. Dabei untersuchte die Staatssicherheit sogar bei einem Devotee beschlagnahmte Raucherstäbchen, denen sie eine „rauscherzeugende Wirkung“ unterstellte.
Die Staatssicherheit konstruierte ein Feindbild der Hare-Krishna-Bewegung, das auf Verschwörungstheorien und ideologischen Vorurteilen basierte. Diese Narrative prägten die Wahrnehmung der Bewegung in der DDR; sie wurde als antikommunistisch und staatsfeindlich dargestellt. Vorwürfe umfassten dabei die illegale Anwerbung von Anhängern sowie die angebliche Vorbereitung auf einen Atomkrieg.
Fazit
Erst die spezifische gesellschaftliche und politische Situation in den 1980er-Jahren machte es möglich, alternative Formen von Spiritualität überhaupt auszuüben. Die Lockerung des deutsch-deutschen Grenzregimes ermöglichte die Einreise von Missionaren und damit die Gründung einer Hare Krishna-Gemeinschaft in Ost-Berlin. Der veränderte Umgang mit der Ausreisebewegung kann als Ursache dafür gesehen werden, dass viele Devotees schließlich die Möglichkeit erhielten, das Land zu verlassen und ihre religiöse Praxis außerhalb der DDR fortzusetzen.
Trotzdem blieben die Möglichkeiten zur Entfaltung einer spirituellen Szene deutlich begrenzt, die Spielräume waren wesentlich enger als in den Nachbarstaaten, geschweige denn in der Bundesrepublik. Insbesondere die strengen Limitierungen und Verbote in Bezug auf öffentliche Auftritte und die Nichtanerkennung als religiöse Gemeinschaft erschwerten die Ausübung des Hare-Krishna-Glaubens in der DDR massiv. Der Personenkreis, der tatsächlich als Devotees in der DDR praktizierte, überstieg auch deshalb nie die Zahl von zehn bis 15 Personen zur selben Zeit. Die meisten Personen, die in der DDR in Kontakt mit dem Krishna-Bewusstsein kamen, lassen sich als Interessierte einstufen, die vorwiegend aus dem Kreis der Studierenden und der kirchlichen Gruppen stammten und sich für einzelne Angebote wie das vegetarische Kochen oder die indische Philosophie interessierten, sich aber nicht weitergehend den strengen Regeln des Krishna-Glaubens unterwerfen wollten.
Die Geschichte der Ost-Berliner Devotees zeigt, dass es für eine kleine Gruppe spiritueller Aussteiger*innen durchaus möglich war, in der späten DDR zu existieren und religiös aktiv zu sein, verdeutlicht aber auch die ständige Bedrohung durch staatliche Überwachung, Repression und Ausgrenzung. Die meisten der Krishna-Anhänger*innen stellten Ausreiseanträge in die Bundesrepublik, die sie meist mit der Einschränkung ihrer Religionsfreiheit in der DDR begründeten. Das Desinteresse an den Werten des SED-Regimes und Politik im Allgemeinen sowie ihr Engagement für Spiritualität und die Verbreitung des sogenannten Krishna-Bewusstseins führte den Großteil der Hare-Krishna-Anhänger*innen schließlich nach Westdeutschland.
Zitierweise: Christian Fuchs, „Die Hare-Krishna-Bewegung im Ost-Berlin der 1980er-Jahre", in: Deutschland Archiv vom 01.08.2025. Link: www.bpb.de/569418. Alle im Deutschlandarchiv veröffentlichten Beiträge sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Absolvent der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam im Masterstudiengang Zeitgeschichte. Seine Abschlussarbeit wurde 2025 über die Hare-Krishna-Bewegung in der DDR unter Prof. Dominik Geppert und Dr. Jens Gieseke verfasst.