Krieg ohne Grenzen
Mangels ernstzunehmenden Drucks: Vom Scheitern der Suche nach Frieden
Wolfgang Templin
/ 20 Minuten zu lesen
Link kopieren
Kann es überhaupt gelingen, Russland zum Frieden zu zwingen? US-Präsident Trump hat sich in dieser Frage zu einer Schlüsselfigur stilisiert, zeigt aber wenig überzeugenden Elan. Sein Ultimatum, im Sommer 2025 einen Waffenstillstand zu erreichen, ist verpufft. Nun ist Europa mehr denn je gefordert, neue Impulse zu setzen. Welche böten sich an? Reflexionen des Philosophen und ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers Wolfgang Templin.
Drei politische Symbolbilder haben diesen Sommer 2025 geprägt. Die ersten beiden nährten Hoffnung: Mitte August 2025 traf Russlands Präsident Wladimir Putin US-Präsident Donald Trump in Alaska, drei Tage später tagten westeuropäische Regierungschefs, darunter Bundeskanzler Friedrich Merz, mit dem Präsidenten der Ukraine, Volodymyr Selenskyj, bei Trump in Washington. Da Putin seit über drei Jahren westlichen Politikern nahezu jedweden Dialog verweigert, außer mit Trump, ruht viel Hoffnung auf Gesprächen der beiden, die zeitweise wie gute Kumpel wirken.
Doch zwei weitere Symbolfotos mit Putin machten alle Hoffnungen wieder zunichte. Das eine entstand Anfang September 2025 bei einem „Autokraten-Gipfel“ in Shanghai, auf dem Putin seine alte Mär beteuerte, allein der Westen sei für Russlands Invasion in der Ukraine verantwortlich. Anderntags folgte Putins Teilnahme an einer Militärparade in Beijing zum Ende des Zweiten Weltkriegs, Seite an Seite mit Chinas Staatschef Xi Jinping und Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un, gemeinsam über Unsterblichkeit schwadronierend. Wenige Tage zuvor hatte Kim Jong-un erstmals öffentlich zugegeben, dass Nordkorea bereits zahlreiche Soldaten, die Seite an Seite mir Russlands Armee gegen die Ukraine kämpfen, verloren hat. Dieser kriegerische Internationalismus und die Waffenlieferungen aus unterschiedlichsten Ländern an beide Seiten haben diesen Krieg längst zu dem gemacht, was der bald 89-jährige Liedermacher Wolf Biermann zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 formulierte, nämlich längst in einem neuen Interner Link: Weltkriegs-Szenario zu sein.
So viel Hoffnung, so viel Frust. Und neuerdings auch wieder wachsende Sorgen in den angrenzenden Ländern. Nachdem am 11. September 2025 über Polen 19 russische Drohnen aus Richtung Belarus abgefangen wurden, ist auch dort die Kriegsangst wieder präsenter.
Wie konnte es so weit kommen?
Zunächst ein Rückblick, wie es zu dem Hoffnungsschimmer kam, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine zeitnah beendet werden könnte. Und wie diese Hoffnung schnell wieder zerstob.
Am 26. April 2025 hatte ein weiteres symbolträchtiges Bild für internationales Aufsehen und Hoffnung gesorgt: Am Rand der Trauerfeiern für Papst Franziskus im Vatikan saßen sich der amerikanische und der ukrainische Präsident in einem Zweiergespräch nah gegenüber. Wie der halbstündige „spontane“ Dialog auch immer zustande kam, er war geschickt inszeniert, um ein etwas älteres Bild von Trump mit Selenskyj verblassen zu lassen.
Dieses ältere Bild betrifft den Auftritt des ukrainischen Präsidenten im Weißen Haus im Januar 2025, bei dem ihn Donald Trump vor versammelter Mannschaft und großer Öffentlichkeit auf übelste Weise zu demütigen suchte. Seither hatte sich der ukrainische Präsident auf jede nur denkbare Weise um Verständigung mit der amerikanischen Seite bemüht. Beim Gespräch mit Trump trug er diesmal sogar eine exzellent designte schwarze Jacke, um den Protokollwünschen des amerikanischen Präsidenten entgegenzukommen. Konnten seine Argmente jetzt tatsächlich Trump erreichen, konnte Verständnis wachsen und Nähe entstehen? Selenskyj gab sich optimistisch, und weitere Politiker wollten ihm folgen. Doch sie alle lagen ziemlich daneben.
Wie umgehen mit Unberechenbarkeit?
Seit Jahresbeginn hatte es nicht an Versuchen europäischer Politiker/-innen und Diplomaten gefehlt, dem unberechenbaren und egomanischen Trump mit Schmeicheleien und hofierenden Gesten entgegenzukommen, so spielte bei einem international aufmerksam notierten Besuch des britischen Premiers Keith Starmer im Februar 2025 bei Trump ein cremefarbener Umschlag feinsten Büttenpapiers eine besondere Rolle. Enthalten darin war eine Einladung zu einem Staatsbesuch beim britischen König. Eine Auszeichnung der besonderen Art, der Trump gerne nachkam, am Abend des 17. September 2025 dinnierte er mit König Charles in Schloß Windsor, der ihn sichtlich hofierte.
Trump nahm Huldigungen und Schmeicheleien gern entgegen, gefiel sich aber darin, unberechenbar zu bleiben. Steckt in seinen jähen gegensätzlichen Äußerungen und Urteilen zum Friedenswillen und der Verständigungsbereitschaft Russlands etwa Methode? Vertraut er Putin, oder misstraut er ihm? Oder entspricht das Ganze schlicht seiner eigenen psychopathologischen Verfasstheit? Analytiker bleiben letztlich ratlos.
Innenpolitisch setzte Trump indessen sein Zerstörungswerk der amerikanischen Demokratie und die erbarmungslose Verfolgung politischer Gegner fort. Ob Justiz, Wirtschaft, Zentralbank, Universitäten, auf allen Ebenen sollten US-Institutionen ihren unabhängigen Charakter verlieren, auch in Medien, Kunst und Kultur. Die Gegenwehr bleibt bislang überschaubar, Ratlosigkeit herrscht vor und ein verzweifelter Brain Drain hat begonnen.
Der Präsident verbündete und zerstritt sich auch mit Milliardär Elon Musk, der ihn an Egomanie und Megalomanie noch übertrumpft. Mal schien er den Falken in seiner Gefolgschaft zuzuneigen, mal den Pragmatikern und Gemäßigten. Politikwissenschaftler entwickeln bereits eigene Termini und Erklärungsmuster, die von disruptiv bis Impossibilismus reichen. Zurückhaltende Interpreten sprechen von intuitiver Außenpolitikohne erkennbaren Sinn und Verstand.
Die Tatsache, dass Trump weder von Geografie noch von Geschichte auffallende Ahnung hat, tut seiner Selbstüberschätzung keinen Abbruch. Das Einzige, was bislang half, wenn er wieder einmal zu weit ging, war eine Reaktion wie jene der Regierung Kanadas. Als Trump hier von Kanada als einem „amerikanischen Bundesstaat“ sprach, welchen er zurückzuholen gedachte, wurde er kühl auf den historisch bereits einmal verlorenen Sezessionskrieg und das wirtschaftliche Gewicht der unabhängigen amerikanischen Großmacht verwiesen.
Noch näher liegt Trump die Logik des "Dealmakings". Wenn in seine Amtszeit schon Kriege fielen, dann sollten sie eigenen und US-amerikanischen ökonomischen Interessen dienen. Der mit der Ukraine im Mai 2025 ausgehandelte Rohstoffdeal wurde zu einem der wenigen greifbaren Beispiele. Es zeigten sich aber auch die Möglichkeiten erfolgreicher Gegenwehr. Trump setzte auf die Abhängigkeit der Ukraine von amerikanischen militärischen und logistischen Unterstützungsleistungen, welche die Europäer (noch) nicht ersetzen konnten. In einem ersten, von den Amerikanern vorgelegten Vertragsentwurf wäre die Ukraine denkbar schlecht weggekommen.
Es war der Ökonomin Julia Swyrydenko und ihrem Team an der Spitze der ukrainischen Verhandlungsdelegation zu verdanken, dass der verabschiedete Vertrag grundlegend anders ausfiel. Die 1985 geborene Ukrainerin mit langer USA-Erfahrung beeindruckte selbst Trump durch ihre Präsenz und Härte in den Verhandlungen. Kürzlich rückte Swyrydenko als Vertreterin einer neuen Generation auf den Posten der ukrainischen Ministerpräsidentin. Ihre Aufgabe wird es sein, die unter härtesten Kriegsbedingungen erfolgende ökonomische und technologische Modernisierung des Landes voranzutreiben, sofern das Russlands Krieg weiter zulässt.
Doch viele Beteiligte träumen indessen den Traum von einem Verhandlungsfrieden mit Russland weiter – der als Interner Link: "Siegfrieden" auf Kosten der Ukraine gehen würde, was nur niemand laut sagen will. Die Frühlingswochen des Jahres 2025 vergingen mit wiederholten Ankündigungen einer bevorstehenden Feuerpause oder eines Waffenstillstandes. Wie aber und von wem sich die mehrere tausend Kilometer lange Linie der verlustreichen Kämpfe in den östlichen Provinzen wirkungsvoll überwachen und kontrollieren ließe, blieb jeweils schleierhaft. Trump, der ebenfalls eine Waffenruhe einforderte, die er zu Beginn seiner Amtszeit in vierundzwanzig Stunden durchsetzen wollte, winkt inzwischen in dieser Frage genervt ab.
Russische Terrorkontinuität
Gegenüber den Disruptionen des amerikanischen Präsidenten und den zögernden Schritten Europas gab und gibt es eine Konstante, und das ist die sture Haltung Russlands. Putin und seine wichtigsten Gefolgsleute – ob es nun die Stimme Dmitrij Medwedjews, Sergej Lawrows oder des Kremlsprechers Jurij Peskow war – halten konsequent an ihrer Täter-Opfer-Umkehr fest. Den angeblich "ukrainischen Faschisten", welche das Leben und die Sicherheit russischer Staatsbürger bedrohten, muss nach ihrer Lesart mit dieser "militärischen Spezialoperation" begegnet werden. Diese Aggression trage reinen Verteidigungscharakter und habe mit einer Kapitulation der Gegenseite oder einem Friedensvertrag zu ihren Bedingungen zu enden.
Die Europäer spielten hierbei zunächst gar keine Rolle, und welche Rolle der Ukraine zugedacht war, fasste Ministerpräsident Medwedjew in ein einprägsames Bild: Nur Russland und die USA befänden sich bei diesen Verhandlungen im Esszimmer. Der Hauptgang sei dabei ein „Kotelett Kiewer Art“. Der einstige pseudoliberale Hoffnungsträger Medwedjew hatte sich schon lange in einen der schlimmsten Scharfmacher verwandelt.
Konfrontiert damit und immer wütender, entwarf Trump das Bild eines Sandkastens, in dem sich zwei Halbwüchsige rauften, die endlich zur Vernunft kommen sollten. Der Aggressor und das Opfer der Aggression wurden zu gleichermaßen infantilen Streithähnen erklärt, der Krieg in seiner ganzen Brutalität damit auf unerträgliche Weise verharmlost. Auf diese Weise verspürte Russland keinerlei Druck, sich auf Zugeständnisse einlassen zu müssen. Auch die Zusage, zivile Infrastruktur nicht anzugreifen, wurde und wird so gut wie keinen Tag eingehalten. Vor allem im Osten der Ukraine, aber auch in allen anderen Regionen, traf und trifft es Krankenhäuser, Schulen und Wohngebäude. Die Intensität der Angriffe steigert sich von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Die Hauptstadt Kiew, deren Bewohner sich schon fast an eine eingeschränkte Normalität gewöhnt hat, werden seit geraumer Zeit Nacht für Nacht zum Ziel erbarmungsloser Angriffe, zuletzt traf der Beschuss mit dem Ministerkabinett sogar ein Regierungsgebäude, offensichtlich als gezieltes Zeichen an die ukrainische Regierung: seht, wir kommen Euch näher und haben nach wie vor keinerlei Respekt.
Um die wirkungsvolle ukrainische Luftabwehr zu überfordern und zu lähmen, wurden und werden immer tückischere Waffen eingesetzt. Ultraschwere Gleitbomben, land- und seegestützte Raketen, Drohnen verschiedenen Typs in immer größerer Anzahl. Das Ziel all dieser Attacken ist eindeutig. Es ging und geht darum, die ukrainische Zivilbevölkerung sowie deren Regierung zu zermürben, um ihren Widerstandswillen zu brechen.
Neben den immer stärkeren Engpässen bei Munition und Waffensystemen machte der ukrainischen Seite vor allem die mit dem Westen vereinbarte Reichweitenbeschränkung für zielgenaue Präzisionswaffen zu schaffen, an die sie sich lange Zeit strikt hielt. Um den mittlerweile begonnenen ukrainischen Gegenschlägen zu entgehen, hat die russische Seite viele ihrer Abschussbasen und die Logistik ihrer Attacken bis weit in das sibirische Hinterland verlegt. Tollkühne ukrainische Kommandounternehmen gegen diese Basen, bei denen die Beteiligten Tausende von Kilometern zurücklegten, vereinzelt erfolgreiche Angriffe auf Kommandozentralen und Attentate auf einzelne ranghohe Militärs, die oft berüchtigte Kriegsverbrecher waren, konnten diesen Nachteil nicht ausgleichen.
In den für die russische Seite extrem verlustreichen Bodenkämpfen in den östlichen Provinzen ging den Kommandeuren bald das menschliche Kanonenfutter aus. Der Einsatz der eingangs erwähnten nordkoreanischen Soldaten, die in russische Militäruniformen gesteckt und mit russischer Ausrüstung versehen wurden, sollte hier helfen. Zunächst dementiert, dann immer offener zugegeben, wurden die Kontingente immer größer, von mehreren Tausend bis zu mehreren Zehntausend Kämpfern. Dies unter den Augen Chinas, von dem Nordkorea vollständig abhängig ist. Ende August 2025 gab Nordkorea erstmals hohe Verluste in der Ukraine zu.
China hatte anfangs offiziell seine Neutralität erklärt, spielte sich als Friedenstifter und möglicher Vermittler auf, wirkt aber zunehmend wie ein Komplize. Der russische Außenminister Lawrow wurde zum Stammgast beim chinesischen Präsidenten. Beide erklärten wiederholt, dass sie mit ihrer Zusammenarbeit die internationale Ordnung gerechter und vernünftiger machen wollten. Das gegenwärtige China, eines der intensivst totalitären Systeme weltweit, sieht sich in Konkurrenz zur Hegemonialmacht USA, die es zu überrunden trachtet. Dabei spielt der russische „Partner“ eher eine untergeordnete Rolle. Umgekehrt sieht Putin in China eine willkommene Lebensverlängerung seines Systems. Den eigenen Bedeutungsverlust verdrängt er offenkundig.
Geschafft hat Putin bislang nur, sein marodes, ineffizientes System auf eine funktionierende Kriegswirtschaft umzustellen, die Reste der unabhängigen Zivilgesellschaft nahezu auszumerzen und die letzten unabhängigen Kritiker mit immer höheren Strafen wegzusperren oder in die Emigration zu treiben.
Völlig blind und taub konnte Donald Trump angesichts all dieser offenkundigen Fakten nicht bleiben. Kurz vor der Sommerpause entschloss er sich zu einem Ultimatum an Putin, binnen 50 Tagen endlich ernsthaft zu einem Friedensabschluss zu kommen, was die russische Administration wenig beeindruckte. Doch dann geriet Trump auch in den USA unter Erfolgsdruck und verkürzte im Gespräch mit dem britischen Premier Starmer Ende Juli sein Ultimatum auf nur noch „10 bis 12 Tage“, also bis circa 9. August 2025. Aber der verstrich. Denn mit was wollte Trump glaubwürdig drohen?
Was könnte endlich wirken?
Warum nicht mit den schärfsten Mitteln, die er einsetzen könnte, mit ökonomischen Sanktionen und Strafmaßnahmen bisher ungeahnten Ausmaßes? Alle bisherigen europäischen Sanktionspakete sparten weitgehend Drittstaaten sowie Schattenflotte, Bankensystem und international verflochtene Lieferfirmen aus. Hier könnte Trump im Verbund mit der Europäischen Union mit der Wirkung von Sanktionen und massiven Zollerhöhungen eine Reihe entscheidender Drittstaaten wie Indien und andere BRICS-Länder treffen. Diese erklärten bisher ihre Neutralität, profitieren aber massiv vom Handel mit Russland, der nun zu ihren Bedingungen stattfindet. Würde ihnen diese Möglichkeit genommen, fielen sie als Hinterland der russischen Wirtschaftskraft aus. Voraussetzung wäre allerdings, dass der Westen sie überzeugender als Partner umwerben müsste.
Darüber hinaus könnte wachsender militärischer Druck der Ukraine Luft verschaffen. Militärexperten sind sich darüber einig, dass im Besitz der Ukraine befindliche Präzisionswaffen oder kurzfristig lieferbare Systeme wie der deutsch-schwedische Marschflugkörper Taurus durch die letztlich von den USA bestimmte Reichweitenbeschränkung nur einen Bruchteil ihrer Wirkung entfalten. Würde diese aufgehoben, könnte die Ukraine ihrer legitimen Verteidigung einen abschreckend offensiveren Charakter verleihen.
Wenn Donald Trump in einem seiner Gespräche im Juli 2025 mit Selenskyj Moskau und Sankt Petersburg als potenzielle Ziele erwähnte, war dies ein klares Signal, dass er die strategische Option zumindest verstanden hat: Erfolgt eine faktische Reichweitenfreigabe, würden europäische Partner folgen und der Druck auf die russische Seite ungeheuer wachsen. Oder war dieses Verständniszeigen auch nur ein Bluff?
Darüber hinaus steht als Sanktionsmöglichkeit im Raum, rund Dreihundert Milliarden eingefrorener und beschlagnahmter russischer Finanzaktiva, bei denen bisher nur auf die Zinsen zurückgegriffen wurde, dem Verteidigungsfonds für die Ukraine zur Verfügung zu stellen. Das wäre ein besonders deutliches Signal an Russland. Hier könnte, ja müsste Brüssel endlich handeln. Aber warum tut die EU das nicht?
Europa als herausgeforderte "Schicksalsgemeinschaft"
Der polnische Außenpolitiker Marek Prawda sprach in diesem Sommer in einem Essay im deutsch-polnischen Magazin „Dialog“ Punkte an, die für die Zukunft Europas und die künftige Politik der Europäischen Union (EU) von entscheidender Bedeutung sind. Als Germanist mit Studienerfahrung in der DDR und langjähriger Diplomat mit europäischen Erfahrungen rückte Prawda im vergangenen Jahr zum stellvertretenden Außenminister Polens auf. Damit wurde er vom Beobachter und Experten zum wichtigen Mitgestalter der Politik seines Landes. Weit zurückblickend schreibt er von einer Begegnung mit der russischen Journalistin Anna Politkowskaja, die er im Jahr 2004 als polnischer Botschafter in Schweden unterstützen konnte. Sie hatte bei einer Preisverleihung Provokationen befürchtet und hilfesuchend um seine Anwesenheit gebeten. Prawdas Erfahrungen reichen bis in die Jahre vor 1989 zurück, seine Kontakte und Beziehungen zu Oppositionellen und Bürgerrechtlern und Bürgerrechtlerinnen blieben auch nach dem Mauerstutz lebendig.
Die stärkere Präsenz mittelosteuropäischer Akteure in der gegenwärtigen Politik ist Prawdas Thema. Eine solche könne helfen, das noch immer dominierende russische Narrativ beim Blick auf diese Nationen und Völker abzulegen. Aus Sicht des polnischen Politikers müsste sich Brüssel dafür grundlegend wandeln. Greift Marek Prawda zu hoch, wenn er davon spricht, die EU müsse von einer abwartenden Regelwerkfabrik zu einer reaktionsschnell handlungsfähigen Schicksalsgemeinschaft werden? Die Argumentation des ehemaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer, die jener in seinen jüngsten Büchern äußert, ist nahezu wortgleich.
Interner Link: Marek Prawda, der als Stellvertreter von Polens Außenminister Radosław Sikorski eng mit der liberalkonservativen Koalition um Ministerpräsident Donald Tusk verbunden ist, muss dem Ausgang der nächsten polnischen Parlamentswahlen 2026 mit großer Ungewissheit entgegensehen. Polen hat die Chance, zum stärksten östlichen Pfeiler einer endlich gemeinsam handlungsbereiten EU zu werden – oder erneut auf rechtsnationalistischen Sonderwegen abzudriften. Letzteres geschähe zur größten Freude Russlands, das derzeit offensichtlich mit seinen Drohnenangriffen auch austestet, wie Polen auf Kriegshandlungen reagieren würde.
Wer zeigt gegen Putin und Trump eigentlich noch Courage? Ein kurzer Blick auf weitere europäische Politiker, deren eigene Biografie und Familiengeschichte von der dramatischen Geschichte Mittelosteuropas geprägt wurde, ist aufschlussreich: Kaja Kallas, die als Estin zur Außenbeauftragten der EU aufrückte, ist für ihre scharfe Haltung gegenüber dem russischen Regime und anderen internationalen Diktaturen bekannt. Sie erntet dafür immer wieder Kritik von Brüsseler Kollegen, etwa, wenn sie im Vorfeld des EU-China-Gipfels einen anderen Umgang mit dem dortigen Regime fordert, bei dem nicht wirtschaftliche Interessen und Abhängigkeiten im Vordergrund stehen dürfen. Sie fordert ein anderes Verhältnis von Werten und Interessen. Das soll aber nicht nur für die schlimmsten Diktaturen gelten. Bei ihrem Antrittsbesuch in Washington – gerade lag die erste Fassung des geplanten Rohstoffabkommens auf dem Tisch – sprach sie von einem „schmutzigen Deal“. Prompt verweigerte ihr Trump tagelang ein persönliches Treffen.
Der Litauer Andreas Kubilius ist durch die eigene Familiengeschichte eng mit dem Kampf seines Landes gegen die sowjetische Unterdrückung und die erneute Bedrohung durch Russland verbunden. Er tut in seiner Verantwortung als EU-Verteidigungskommissar alles dafür, die Defizite in der Verteidigungsfähigkeit der Gemeinschaft zu verringern und zu einem stärkeren kollektiven Miteinander zu finden. Die „Koalition der Willigen“, die er wesentlich mit vorantreibt, ist über die EU-Mitgliedstaaten hinaus angewachsen. Dort arbeiten mittlerweile über fünfzig Partner zusammen, die in verschiedenen formalen und informellen Formaten zusammenkommen. Skandinavische Länder als neue Mitglieder der NATO, Finnland und Island als vorgeschobener Posten, gehören zur Erfolgsgeschichte dieser Koalition.
Ein Glücksfall für alle EU-Beitrittskandidaten ist die Slowenin Magda Kos als neue EU-Erweiterungskommissarin. Eine erfahrene Journalistin, Wirtschaftsexpertin und langjährige Diplomatin, die nicht nur mit allen Wirren und Tücken der Ex-jugoslawischen Geschichte vertraut ist. Ihre Stimme war sehr deutlich, als sie den ukrainischen Präsidenten bei seinem jüngsten unglückseligen Manöver gegen ukrainische Antikorruptionseinrichtungen an die Verpflichtungen der Ukraine im EU-Beitrittsprozess erinnerte. Bei diesem Konflikt zeigte sich auch die ungebrochene Stärke der ukrainischen Zivilgesellschaft. Ohne deren Kraft, Ausdauer und Improvisationsfähigkeit wäre Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 vermutlich erfolgreich verlaufen. Russland hat eine vergleichbar couragierte Zivilgesellschaft nicht.
Endlich wirksamere Sanktionen?
Immerhin: Im gemeinsamen Ringen der EU-Institutionen und der nationalen Beteiligten wurde das "18. Sanktionspaket" gegen Russlands Regierung symbolträchtig am 18. Juli 2025 verabschiedet. Es ist komplexer als alle vorangehenden, nahezu im Vierteljahrestakt verabschiedeten Pakete. Gerichtet gegen den Banken-, Energie- und Militärsektor Russlands, werden nun vor allem zahlreiche Lücken bisheriger Sanktionspakete geschlossen und die Möglichkeiten ihrer Umgehung beschnitten. Eines des Hauptmittel, mit denen Russland bisher seine Haupteinnahmequelle über die Ölexporte sicherte, ist die bereits erwähnte Schattenflotte – Großtanker mit Beflaggung anderer Länder und verworrenen Eigentumsverhältnissen, die russisches Rohöl in großen Mengen transportieren und in Raffinerien von Drittstaaten befördern. Die Identifizierung solcher illegaler Tanker ist aufwendig, aber möglich, ihre Beschlagnahme nach internationalem Seerecht zulässig. Mit dem neuen Sanktionspaket steigt die Zahl solcher identifizierten Schiffe auf über vierhundert. Betreiberfirmen, so die Hoffnung, würden sich nach konsequenteren Sanktionsmaßnahmen sehr schnell aus dem Geschäft zurückziehen.
Die neuen Sanktionsmaßnahmen schließen überdies die Weiterarbeit und Neuaufnahme von Arbeiten an allen mit Nordstream 1 und 2 verbundenen Pipelineprojekten aus Russland aus. Bislang hatte es, auch unter Beteiligung von deutscher Seite, immer wieder Versuche gegeben, dieses Sanktionsregime aufzuweichen. Nunmehr werden auch im Bankensektor alle bisherigen Maßnahmen, die den russischen internationalen Finanzverkehr einschränken, entscheidend ausgeweitet und endlich auch auf Finanzinstitutionen in Drittstaaten, wie China und die Türkei ausgedehnt.
Das Gleiche gilt für Handelssanktionen gegenüber Gütern, die für die russische Rüstungsindustrie und Kriegswirtschaft relevant sind. In alle Maßnahmen sind ausdrücklich auch Firmen und Institutionen aus Belarus als Verbündeter Russlands einbezogen. Die Sanktionierung und künftige Bestrafung russischer Kriegsverbrechen militärischer Art, aber auch die Zerstörung und Plünderung von ukrainischem Kulturgut in großem Stil, die Verschleppung von Zehntausenden ukrainischer Kinder in den besetzten Gebieten gehören zum Sanktionspaket. Das schließt die Unterstützung von Organisationen und Institutionen ein, die sich mit der Dokumentation dieser Verbrechen befassen. Eine künftige Verfolgung solcher Verbrechen rückt damit näher.
Das Ultimatum vergessen?
Doch trotz alldem zeigen Putin und seine Mannschaft bislang die stärkeren Nerven. So erwiesen sie sich vor und während des Gipfeltreffens mit Donald Trump Mitte August in Alaska als die mit Abstand ausgefuchsteren Spieler. Als hätte es nie ein Ultimatum und dann ein dann verkürztes Ultimatum gegeben, veränderten sie die Tagesordnung der Gespräche zu ihren Gunsten und lenkten sie auf ihre Lieblingsthemen: Wirtschaftsdeals mit Russland auf Kosten der Ukraine.
Der ukrainische Autor Sergej Gerassimow, bekannt geworden durch sein Charkiver Tagebuch, sprach von einem „blutroten Ehrenteppich“, der dem Kremlherrscher ausgerollt wurde – und von einer abgrundtiefen Schande. Die miserable Vorbereitung des Treffens von US-Seite und die kindische Ungeduld Trumps, schnell greifbare Erfolge zu wollen, kamen hier zueinander.
Die europäische Seite wiederum hatte nur ein Wochenende Zeit, sich von dem Schock zu erholen und auf die Bitte Selenskyjs zu reagieren, ihn bei einem kurzfristig angesetzten Besuch nach Washington zu begleiten. Unter Führung von Bundeskanzler Friedrich Merz und Frankreichs Regierungschef Macron gesellte sich eine ganze Gruppe von europäischen Spitzenpolitiker/-innen zum ukrainischen Präsidenten, darunter sogar Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ein Unternehmen, welches sonst Wochen der Vorbereitung brauchte. Während des nichtöffentlichen Teils der Begegnung fand auch Friedrich Merz zu deutlichen Widerworten und konnte sich auf eine abgestimmte Haltung der Europäer stützen. Ein erneutes Treffen mit Putin mache erst nach einem zeitweiligen Schweigen der Waffen Sinn, so die Position der Europäer. Bis dahin sollten neue Sanktionen und Gegenmaßnahmen einsetzen, und die Ukraine sei mit allen Kräften zu unterstützen. Ein Niederknieen vor Trump war das nicht.
Jeder im Trump-Umfeld, der noch einen Funken Gewissen besitzt, dürfte den geraden Rücken der Europäer insgeheim begrüßen und kann etwas dazu beitragen, den russischen Riesen in die richtige Richtung Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu bewegen. Interne Planungen dafür laufen längst, neben potenziellen Standorten für ein Gipfeltreffen wie Genf, Wien oder Budapest wurde Putin, gegen den seit April 2023 ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vorliegt, sogar Immunität für die Zeit der Verhandlungen zugesichert, sollte er bereit sein, sich endlich mit Selenskyj an einen Tisch zu setzen. Gleichzeitig wächst aber die ernüchternde Erkenntnis, dass sich einfach nichts bewegt.
Denn selbst wenn es noch zu einem vorgezogenen Zweiergipfel zwischen ukrainischem und russischem Präsidenten kommen sollte, mit dem sich Trump Europas Kriegs-Ballast von Hals schaffen will, wird ein solches Zusammentreffen angesichts der unbeirrten russischen Maximalforderungen ergebnislos bleiben.
Umso wichtiger wäre es, dass zahlreiche der bislang nur erwogenen neuen europäischen Sanktionen kurzfristig komplett und in Gänze in Kraft treten. Wenn überdies die täglichen Bombardements Russlands und die Fortsetzung der russischen Bodenoffensive auf immer wirksamere Offensivschläge der Ukraine treffen würden, die die Nervenzentren der gegnerischen Militärmaschinerie lähmten, wäre durchaus denkbar, dass endlich eine neue Ausgangslage eintritt. Auch Einfallsreichtum von bislang unbekannter Seite gehört dazu. So schafften es ukrainische, russisch-proukrainische und belarussische Hacker, in der Urlaubssaison das gesamte Kommunikationsnetz der russischen Fluggesellschaft Aeroflot halbtageweise lahmzulegen. Und aus Furcht vor dem Zugriff ukrainischer Drohnen wurde das Internet in ganzen Provinzen Russlands zeitweise abgeschaltet. Solche Geschehnisse könnten sich häufen und endlich die Kriegsmüdigkeit auch in Russland erhöhen.
Auch Trump hat Selenskyj zwischenzeitlich zu offensiverer Verteidigung geraten und wieder Waffenlieferungen in Aussicht gestellt, zumindest von Mini-Marschflugkörpern mit 550 Kilometer Reichweite, was aber auch die faktische Freigabe für den Einsatz modernster ukrainischer Waffensysteme vom Typ Flamingo einschließen könnte. Sie könnten die militärischen und logistischen Nervensysteme der russischen Kriegsmaschinerie über Tausende Kilometer hinweg wirkungsvoll treffen. Überdies ist Putin mittlerweile mit ökonomischen Daten konfrontiert, welche die permanenten Behauptungen über die fehlende Wirkung von Sanktionen widerlegen. Russlands Wirtschaftsdaten werden von Tag zu Tag zusehends schlechter.
Eine langfristige Konfrontation?
Analysten sind weitgehend darin einig, dass gerade jetzt eine gemeinsame und mutigere Politik der Europäer angebracht wäre. Gleichwohl ernüchtert sie es, wie wenig Russland sich bewegt. Und wie skrupellos Putin das Bombardement auf Ziele in der Ukraine fortsetzen lässt, dabei immer stärker fokussiert auf die Hauptstadt Kyiv. Als am 4. September 2025 Europas „Koalition der Willigen“ in Paris erneut mit Selenskyi zusammentraf, um Pläne zu schmieden, wie ein Waffenstillstand abgesichert werden könnte, dämpfte zeitgleich auch NATO-Generalsekretär Rutte die Hoffnungen auf einen baldigen Frieden auf einer Konferenz in Prag. Der Westen müsse sich gegenwärtig „auf eine andauernde Bedrohung durch Russland und China einstellen“. Beide Staaten würden derzeit ihre verteidigungsindustrielle Zusammenarbeit auf ein beispielloses Niveau steigern. „Sie bereiten sich auf eine langfristige Konfrontation vor“, mahnte der Niederländer. Ausgerechnet im 35. Jahr nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa und nach dem Ende des Kalten Kriegs, der längst in neuer Form begonnen hat, als unheilvolle Mischung aus Cyberkrieg, Kaltem Krieg und heißem Krieg. Nur die Trennlinie der Beteiligten liegt nunmehr nicht mehr zwischen Ost- und West, sondern zwischen Autokratien und Demokratien.
Wer dazu das Symbolbild mit Putin, Xi Jinping und Kim Jong-un vom 3. September 2025 betrachtet und ihr dabei (zufällig?) aufgezeichnetes Gerede von Unsterblichkeit ernstnimmt, begreift, dass ohne absolute Entschlossenheit Deutschlands und der Europäer definitiv kein Ende von Putins wiederbelebter, aggressiver Geopolitik näher rückt. Zumal sich auf Trump als vermeintlichen Vermittler ohnehin nicht verlassen lässt, das haben die Sommerwochen 2025 auf bedrückende Weise bewiesen.
Zitierweise: Wolfgang Templin, "Krieg ohne Grenzen?", in: Deutschland Archiv, 18.9.2025, www.bpb.de/570744. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
ist Philosoph, Publizist und Sachbuchautor. Zu den Hauptthemen des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers zählen die Geschichte Osteuropas im 20. und 21. Jahrhundert, DDR-Geschichte und der deutsche Vereinigungsprozess.