Die Dimensionen der KSZE als entspannungspolitisches Konzept vor und nach 1989. Und heute?
Hermann Wentker
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Mitten im Kalten Krieg kam es vor 50 Jahren zu einem Höhepunkt blockübergreifender Entspannungspolitik. Schlüssel war die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki. Ihr Geist scheint heute kaum wiederzubeleben. Ein detailreicher Rück- und Ausblick von Hermann Wentker.
Vor 50 Jahren, am 1. August 1975, unterzeichneten 33 europäische und zwei nordamerikanische Staats- und Regierungschefs die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki. Dass die westlichen, östlichen und neutralen Teilnehmerstaaten sich auf dieses Dokument einigen konnten, stellte den sichtbaren Höhepunkt der damaligen Entspannungspolitik dar. Die KSZE war zudem kein einmaliges Ereignis, sondern markierte den Beginn eines Prozesses, der 1990 mit der Charta von Paris seinen vorläufigen Abschluss fand. In den 1990er-Jahren folgte eine Institutionalisierung der KSZE, die seit 1995 als Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) firmiert. Welche Karriere dieses Konzept in den vergangenen 50 Jahren durchmachte, wird in den folgenden Ausführungen näher beleuchtet.
Unmittelbar nach dem Gipfel von Helsinki bewerteten die östlichen Staaten das Ereignis überwiegend positiv. Im Westen überwogen jedoch kritische Stimmen, von denen die des US-amerikanischen Außenministers Henry Kissinger eine der abfälligsten war: „They can write it in Swahili, for all I care“, sagte er mit Blick auf die Schlussakte. Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag forderte die Bundesregierung Ende Juli 1975 auf, die Schlussakte nicht zu unterzeichnen, weil diese „wesentlichen Interessen des geteilten Deutschland und seiner Menschen nicht gerecht“ werde. Positive Bewertungen kamen insbesondere von denen, die sich in den Verhandlungen engagiert hatten.
Nicht wenige im Westen befürchteten jedoch, dass bei den multilateralen KSZE-Verhandlungen „die westliche Seite reale Zugeständnisse gemacht, aber nur vage Versprechungen dafür eingetauscht habe“. Von der Schlussakte profitiere daher vor allem die Sowjetunion, während der Westen den Kürzeren gezogen habe. 1989, nach Beendigung des Wiener KSZE-Folgetreffens, aber noch vor dem Mauerfall, schrieben viele der Schlussakte hingegen „eine positive, also gewollte Dynamik“ in Richtung einer „Europäischen Friedensordnung“ zu, der man sich nun in Riesenschritten nähere.
Der weitgehend friedliche Systemwechsel von Diktaturen zu Demokratien in Ost- und Ostmitteleuropa 1989/90 schien eine solche gesamteuropäische Friedensordnung zu ermöglichen, als deren Gründungsdokument die von den KSZE-Staaten am 21. November 1990 verabschiedete Charta von Paris galt. Die damit in Gang gesetzte Institutionalisierung der KSZE spiegelte sich ab 1995 in dem geänderten Namen OSZE wider. Die OSZE existiert bis heute und umfasst 57 Staaten in Europa, Nordamerika und Asien. Sie vermochte jedoch die in sie gesetzten Hoffnungen nicht zu erfüllen.
Vor diesem Hintergrund zerfallen die folgenden Ausführungen in zwei Teile. Im ersten, ausführlicheren Teil geht es um die Grundlegung der KSZE und deren Rolle im Wandel der Weltpolitik bis 1989. Die entscheidende, hier zu beantwortende Frage hat schon der US-Diplomat und KSZE-Experte John J. Maresca gestellt: „War sie [die KSZE] der Motor des Wandels – oder spiegelte sie ihn lediglich wider?“ Im Folgenden wird, erstens, ganz knapp auf Entstehung und Inhalt der KSZE-Schlussakte, zweitens auf die drei Dimensionen der KSZE und drittens auf die Einbettung des KSZE-Prozesses in die Ost-West-Beziehungen eingegangen. Der zweite Teil thematisiert, sehr viel kürzer, die Geschichte der KSZE seit 1990 und fragt nach deren Funktionen und nach den Ursachen für ihren Bedeutungsrückgang.
Die KSZE ging zurück auf die sowjetische Idee einer „Europäischen Sicherheitskonferenz“. Moskau wollte damit in den 1950er- und 1960er-Jahren ursprünglich eine Auflösung der Blöcke zugunsten eines europäischen Systems kollektiver Sicherheit ohne die USA erreichen. Das stieß im Westen zwangsläufig auf Ablehnung. Erst als Washington und Moskau in den 1960er-Jahren zu einer Politik der Entspannung übergingen, nahm die Konferenzidee konkretere Formen an. Die Sowjetunion hielt aufgrund ihres technologischen Rückstands eine Kooperation mit dem ideologischen Gegner für notwendig; außerdem erhöhte China mit den militärischen Zwischenfällen am Grenzfluss Ussuri 1969 den Druck auf deren Ostgrenze. Daher kam Moskau dem Westen nun stärker entgegen, der unter anderem auf einer Teilnahme der USA und Kanadas an der Sicherheitskonferenz bestand.
1972 trafen sich daraufhin Vertreter von 33 europäischen und den zwei nordamerikanischen Staaten zu multilateralen Vorgesprächen im Konferenzzentrum Dipoli bei Helsinki. Hier wurde die Verhandlungsmaterie auf vier Körbe verteilt: Prinzipien der Gestaltung der Beziehungen untereinander in Korb I, wirtschaftliche, wissenschaftliche und ökologische Kooperation in Korb II, grenzüberschreitende Kommunikation und menschliche Kontakte in Korb III und Vorschläge zu den Konferenzfolgen in Korb IV.
Die eigentlichen Verhandlungen von 1973 bis 1975 in Genf wurden von der Unterzeichnung der Schlussakte im Rahmen eines Treffens der 35 Staats- und Regierungschefs in Helsinki gekrönt. Eine Einigung konnte nur erreicht werden, weil beide Seiten ihnen wichtige Ziele, wenn auch etwas verwässert, erreichten. Die Sowjetunion und die Ostblockstaaten erhielten den Status quo in Europa garantiert, auch wenn sie die Möglichkeit einer friedlichen Grenzänderung zugestehen mussten. Auf westliche Forderungen ging die Aufnahme der Menschenrechte in den Prinzipienkatalog (Korb I) und die Zusage einer Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation und Kontakte (Korb III) zurück, auch wenn die Formulierungen alles andere als verbindlich waren.
Die Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle wurden 1973 aus der Konferenzmaterie ausgelagert und als Verhandlungen über Mutual and Balanced Force Reductions (MBFR) in Wien durchgeführt. Die KSZE-Schlussakte enthielt dazu lediglich einige nur freiwillig durchzuführende Bestimmungen zu Vertrauensbildenden Maßnahmen, etwa zu wechselseitigen Manöverbeobachtungen. Und in Korb IV wurde festgelegt, dass man sich zur Überprüfung der Implementierung der Schlussakte und zur Fortsetzung des Entspannungsprozesses periodisch treffen wollte, um zu verhindern, dass die KSZE eine Eintagsfliege blieb.
Die KSZE sowie der daraus hervorgehende KSZE-Prozess besaßen eine ordnungsstiftende, eine sicherheitspolitische und eine humanitäre Dimension. Die ordnungsstiftende Dimension ergab sich aus der weitgehenden Anerkennung des politischen Status quo in Europa im Jahr 1975. Das bedeutete einerseits, dass die westlichen Staaten weder die diktatorischen Herrschaftsformen in Osteuropa noch die dortige Dominanz der Sowjetunion grundsätzlich in Frage stellten; andererseits erkannte die Sowjetunion die enge Allianz zwischen den westeuropäischen und den nordamerikanischen Staaten an. Die kleineren, neutralen und nicht-gebundenen Staaten (N+N) konnten sich ebenfalls in diesem Status-quo-orientierten Europa sicher fühlen. Damit verbunden war ein gemeinsamer Katalog von Zielvorstellungen, Verhaltensregeln und Absichtserklärungen, dem sich alle Teilnehmerstaaten unterwarfen.
Besonders die Bundesrepublik sah darin einen Gewinn und eine Verpflichtung. „Das deutsche sicherheitspolitische Interesse erfordert es“, so eine Studie des Auswärtigen Amts und des Verteidigungsministeriums von 1976, „dem Osten immer wieder klarzumachen, daß die geschlossenen Verträge und Vereinbarungen – nicht zuletzt die Schlußakte der KSZE – Grundlagen der internationalen Beziehungen sind, deren Respektierung Voraussetzung für ein Funktionieren der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und für die Sicherung des Friedens ist.“ Hinzu kam der prozessorientierte Charakter der KSZE: Durch die Festlegung von Expertentreffen und Folgekonferenzen wurde ein Forum geschaffen, das Ost und West in einen Dauerdialog einband. Dieser Dialog war meistens nicht einfach, und das Forum lief, gerade in Krisenzeiten der Ost-West-Beziehungen, öfter Gefahr, marginalisiert zu werden. Letztlich wurde es jedoch nie aufgegeben. Mit einem gewissen Recht sind daher die Regeln der KSZE als „eine ‚Magna Charta‘ der Ost-West-Beziehungen in Europa“ bezeichnet worden.
Von der ursprünglich im Zentrum des Konferenzprojekts stehenden sicherheitspolitischen Dimension blieb, wenn man den Begriff auf militärische Sicherheit reduziert, in der KSZE-Schlussakte nicht viel übrig. Denn auf Wunsch der US-Administration unter Richard Nixon und gegen die ursprüngliche Intention Bonns beschloss die NATO bereits 1972, Fragen der Streitkräftereduzierung in separaten Verhandlungen mit dem Warschauer Pakt zu diskutieren. Im Rahmen der multilateralen Vorgespräche erfolgte daher die Trennung dieser Materie von den anderen Verhandlungsgegenständen der KSZE, sodass ab 1973 die konventionelle Rüstungskontrolle in den MBFR-Verhandlungen thematisiert wurde.
Für die KSZE blieben lediglich die sogenannten Vertrauensbildenden Maßnahmen (VBM) – später Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) –, die sich vor allem auf Transparenz durch Information, Inspektion und Kontrolle militärischer Aktivitäten der jeweils anderen Seite bezogen. Es ging konkret um die Ankündigung größerer Manöver und den Austausch von Beobachtern. Die Schlussakte enthielt dazu lediglich einen Abschnitt in Korb I in Form einer freiwilligen Verpflichtung, für die der Rahmen großzügig gesteckt war.
Das änderte sich erst mit der Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE), auf deren Mandat man sich auf der KSZE-Folgekonferenz in Madrid geeinigt hatte. Diese zwischen 1984 und 1986 in Stockholm tagende Konferenz kam zunächst aufgrund völlig unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen der westlichen und der östlichen Staatengruppe nicht voran. Die westliche Seite wollte die in der Schlussakte niedergelegten, allgemein gehaltenen und grundsätzlich freiwilligen VBM spezifizieren und verpflichtend sowie verifizierbar machen. Genau das wollte die sowjetische Führung verhindern und vielmehr die KVAE als Tribunal nutzen, um die NATO-Staaten anzuprangern und die Öffentlichkeit für die sowjetische Friedenspropaganda einzunehmen. Dazu machten die Warschauer-Pakt-Staaten die Zustimmung des Westens zu Gewaltverzichtsvereinbarungen und einem Verbot des Ersteinsatzes von Atomwaffen zur Vorbedingung von Verhandlungen über konkrete VBM.
Diese Blockadesituation löste sich auch nicht unmittelbar nach dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow im März 1985 auf, sondern erst im Verlauf des Jahres 1986, als sich das sowjetische Außenministerium gegen die Militärs und den KGB durchsetzen konnte. Erst jetzt erklärte sich die Sowjetunion bereit, verpflichtenden Vor-Ort-Inspektionen zuzustimmen. Damit vollzog sie eine komplette Kehrtwendung und eine Anpassung an die westliche Position. Am 22. September 1986 konnte das Schlussdokument der KVAE in Stockholm unterzeichnet werden – ein erster substanzieller Erfolg des KSZE-Prozesses, der, im Unterschied zu den auf der Stelle tretenden MBFR-Verhandlungen, auch den Abrüstungsverhandlungen auf anderen Gebieten einen wichtigen Impuls verlieh. Damit gewann die Dimension der militärischen Sicherheit für den KSZE-Prozess wieder an Bedeutung.
Die Behandlung der humanitären Dimension im Rahmen der KSZE ging auf die NATO-Außenminister zurück. Diese hatten im Dezember 1969 gefordert, auch humanitäre Faktoren – „eine größere Freizügigkeit für Menschen, Ideen und Informationen“ zwischen Ost und West – zum Verhandlungsgegenstand zu machen. Die westlichen Staaten traten zwischen 1972 und 1975 mit unterschiedlicher Intensität für diese „humanitären Fragen“ ein – die Bundesrepublik mehr und die USA weniger. Obwohl Bonn von der KSZE hier nur kleine Schritte erwartete, war dem Auswärtigen Amt 1973 bewusst, dass der Osten mit der Zustimmung dazu etwas riskierte: „Die Risiken der Konferenz gehen nicht einseitig zu Lasten des Westens. Für den Osten beginnt mit der KSZE ein Prozeß, der in seinen Auswirkungen auf die Stabilität des Systems und den inneren Zusammenhalt des ‚sozialistischen Lagers‘ nur schwer kalkulierbar ist.“
Die Sowjetunion war bereit, das Thema mit zu behandeln, weil sie mit der KSZE eine Garantie des politischen und territorialen Status quo in Europa erhalten wollte. Das wog für sie letztlich schwerer als die mit der KSZE verbundenen Risiken, die sie und ihre Verbündeten durchaus sahen. Außerdem hielt Außenminister Andrei Gromyko die Gefahr für kontrollierbar: „Wir sind die Herren im eigenen Haus“, soll er gesagt haben, und setzte sich damit in der sowjetischen Führung durch. Gegebenenfalls würde man also trotz ausländischer Vorhaltungen gegen Oppositionelle im eigenen Land vorgehen, und das unter Verweis auf die Schlussakte, die als Grundsatz auch die Zusage gegenseitiger Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten enthielt.
Die KSZE eröffnete allerdings dissidenten Gruppen in Osteuropa neue Möglichkeiten. Mit der Unterzeichnung der umgehend nach dem 1. August 1975 veröffentlichten Schlussakte durch die eigenen Staats- und Regierungschefs erhielten deren Proteste eine Berufungsgrundlage und eine neue Dynamik. So wurde 1975 die Moskauer Helsinki-Gruppe gegründet, die allerdings 1982 ihre Tätigkeit aufgrund massiver Repressionen und der Verhaftung ihrer führenden Mitglieder einstellen musste; weitere Gruppen in anderen Teilen der Sowjetunion folgten. 1977 bildete sich in der Tschechoslowakei die Charta 77.
All diese Gruppen machten es sich zur Aufgabe, Verstöße gegen die in der KSZE-Schlussakte festgeschriebenen Menschenrechte zu registrieren, zu dokumentieren und darüber zu informieren. Ähnlich arbeitete auch das in Polen 1976 gegründete Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR, später KSS KOR), das 1977 ein „Interventionsbüro“ eröffnete, das alle Fälle öffentlich machte, in denen Rechte der Arbeitnehmer verletzt worden waren. Seit 1980 arbeitete innerhalb des KSS KOR eine Helsinki-Kommission, die die Verletzung von Verpflichtungen der KSZE-Schlussakte in Polen überwachte.
Durch die Vernetzung untereinander und mit westlichen Menschenrechtsgruppen – am bekanntesten war sicher die US-amerikanische „Helsinki-Commission“ – wurden Menschenrechtsverletzungen in den Ostblockstaaten zu einem Thema auch der westlichen Öffentlichkeit. Hinzu kam, dass seit Anfang 1977 Jimmy Carter als US-Präsident versuchte, „Menschenrechte zu einem Fixpunkt der internationalen Beziehungen zu machen“. Auf dem Folgetreffen in Belgrad (1977-1978) griff die US-Delegation, munitioniert durch entsprechende Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Osteuropa, den Ostblock offen an. Auf dem nächsten Folgetreffen in Madrid (1980-1983) verschärfte sich die missliche Lage für den Ostblock weiter. An der konfrontativen Haltung der USA in der Menschenrechtsfrage änderte sich auch unter Präsident Ronald Reagan nichts, sodass in Madrid weit über hundert Fälle verfolgter und misshandelter Osteuropäer zur Sprache kamen. Dabei spielten vor allem die westlichen Helsinki-Gruppen eine wichtige Rolle. Denn sie schickten Vertreter in die spanische Hauptstadt, wo sie bei einzelnen Delegationen antichambrierten und weiter Aufmerksamkeit auf das Thema lenkten.
Da durch den KSZE-Prozess Korb III und die Menschenrechtsverpflichtungen der Schlussakte ständig präsent blieben, konnten diese auch Rückwirkungen auf den Ostblock entfalten, freilich in ganz unterschiedlicher Weise. So waren in der DDR Menschenrechte weniger ein Thema als Korb III mit den Empfehlungen zur humanitären Zusammenarbeit. Denn mehr als die Menschenrechte brannte den Ostdeutschen die Frage nach Reise- und Ausreisefreiheit auf den Nägeln. Und da es in der DDR kein Recht auf Ausreise gab, beriefen sich diejenigen, die die DDR auf legalem Weg verlassen wollten, zur Begründung immer mehr auf die Schlussakte. Infolge der KSZE stieg die Zahl der Ausreiseantragsteller rasant an, sodass es in den 1980er-Jahren zu einer veritablen Ausreisebewegung kam. Das führte in der Gesellschaft zu erheblicher Unruhe, der schon bald mit rein repressiven Mitteln nicht mehr beizukommen war.
Menschenrechte wurden, so Jan Eckel, „zu einer wichtigen Sprache der Opposition“. Das hing nicht nur mit der KSZE, sondern auch mit dem Scheitern des Prager Frühlings von 1968 zusammen, das das Aus für reformkommunistische Gegenentwürfe und gesellschaftliche Großvisionen bedeutete. An deren Stelle trat der Wunsch nach einem Mindestmaß an Freiheit und menschlicherer Behandlung. Und die KSZE half dabei, die menschenrechtliche Kritik in Osteuropa am Leben zu halten. Es wäre indes zu einfach, in der Schlussakte die alleinige Ursache für den Menschenrechtsaktivismus von relativ überschaubaren Gruppen im Ostblock zu sehen, die überdies zeitweise mundtot gemacht wurden. Es gab vielmehr eine Wechselbeziehung zwischen Konferenzgeschehen auf der einen und gesellschaftlichen Aktivitäten auf der anderen Seite, die sich bis in die 1980er- Jahre gegenseitig verstärkten.
III. Der KSZE-Prozess und der Wandel der Ost-West-Beziehungen (1977-1989)
Das Folgetreffen von Belgrad (1977-1978)
Als das Folgetreffen von Belgrad am 4. Oktober 1977 begann, waren die Ost-West-Beziehungen ersten schweren Belastungen ausgesetzt. Die NATO beobachtete kritisch die Stationierung moderner SS-20-Raketen durch die Sowjetunion, und die USA kritisierten die sowjetischen Menschenrechtsverletzungen heftig. Bereits vor Beginn der Verhandlungen hatten sich die Warschauer-Pakt-Staaten darauf verständigt, keine weiteren Zugeständnisse zu machen.
Insbesondere die US-Delegation verfolgte Menschenrechtsfragen mit Nachdruck, auch unter Nennung einzelner Namen, was auf erbitterten sowjetischen Widerstand traf. Weder die moderatere Haltung der Bundesrepublik noch die Versuche der N+N-Staaten, ein substanzielles Abschlussdokument zu erarbeiten, hatten angesichts dieser Situation Aussicht auf Erfolg. Daher endete das Folgetreffen mit einem kurzen, nichtssagenden Dokument. Als vollkommener Fehlschlag wurde das Treffen – zumindest in der Bundesregierung – jedoch nicht interpretiert. Denn zum einen war dort die Verbindlichkeit der KSZE-Schlussakte als Rahmen der multilateralen Kooperation bekräftigt und zum anderen das zweite Folgetreffen für den Herbst 1980 in Madrid terminiert worden – der Prozess ging also weiter.
Die DDR konnte mit dem Treffen zufrieden sein, da sich aufgrund der starren Blockkonfrontation „keine über die Schlussakte hinausgehenden Verpflichtungen“ für sie ergaben. Die starren Fronten trugen dazu bei, die Reihen des Ostblocks geschlossen zu halten, was mutatis mutandis auch für die NATO-Staaten galt. Aber hier gab es durchaus Differenzen: So war etwa die Bundesrepublik auf die Verhandlungsführung der USA und deren Betonung der östlichen Menschenrechtsverletzungen nicht vorbereitet, und Frankreich beharrte auf seiner Sonderstellung. Doch da der Osten keinerlei Entgegenkommen zeigte, wurden die Risse in der Allianz nach außen nicht sichtbar.
Das Folgetreffen von Madrid (1980-1983)
Die 1979/80 dramatisch gestiegenen weltpolitischen Spannungen aufgrund der sowjetischen Intervention in Afghanistan und des NATO-Doppelbeschlusses ließen auch für die Entwicklung des KSZE-Prozesses nichts Gutes erwarten. Jedoch war das Verhältnis der westlichen zur östlichen Staatengruppe in Madrid zu Beginn des Folgetreffens keineswegs so konfrontativ wie drei Jahre zuvor. Denn die Sowjetunion wollte dort ein Mandat für eine europäische Abrüstungskonferenz vereinbaren. Hintergrund war wohl das sowjetische Bedürfnis, ihr durch Aufrüstung und Afghanistan-Intervention beschädigtes Image als Friedensmacht für die öffentliche Meinung wieder aufzupolieren. Im Gegenzug war sie bereit, dem Westen in Korb III entgegenzukommen, insbesondere bei Familienzusammenführungen, Eheschließungen und bei Arbeitsbedingungen für ausländische Journalisten.
Gleichwohl kamen die Verhandlungen nach einem guten Start ab dem Sommer 1981 nicht mehr vom Fleck, weil nun vor allem die Vereinigten Staaten weitergehende sowjetische Konzessionen forderten und damit auf Ablehnung stießen. Im Dezember 1981 belastete die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen die Verhandlungen in Madrid zusätzlich, sodass die Delegationen im März 1982 unverrichteter Dinge auseinandergingen. Sie vereinbarten aber eine Fortsetzung des Treffens für November. Im Frühjahr 1983 gab es Fortschritte: Die westlichen Staaten signalisierten mehr Flexibilität, das sowjetische Interesse an einem zügigen Verhandlungsabschluss wuchs wegen des überragenden Interesses an der Abrüstungskonferenz, und die N+N-Staaten taten sich als Vermittler bei der Formulierung eines für alle Seiten akzeptablen Abschlussdokuments hervor. Die Konferenz endete im September 1983 nicht nur mit einem substanziellen Schlussdokument, sondern auch mit dem Mandat für die bereits erwähnte KVAE in Stockholm. Dafür hatte die Sowjetunion eine Ausdehnung der Kontrollzone „vom Atlantik bis zum Ural“ konzediert, also unter Einschluss des europäischen Teils der Sowjetunion.
Das Folgetreffen von Madrid hatte, anders als das von Belgrad, erhebliche Rückwirkungen auf den Zusammenhalt des Ostblocks. Zwar folgten alle Warschauer-Pakt-Staaten der sowjetischen Führung; die DDR war jedoch von dem weitgehenden sowjetischen Entgegenkommen gegenüber dem Westen überfahren worden und sah ihre Interessen massiv verletzt. Denn der Honecker-Führung war bewusst, dass die in Madrid vereinbarten Erleichterungen für Familienzusammenführungen und Eheschließungen wie ein Katalysator auf die Ausreisebewegung in der DDR wirken mussten.
Auch die Beziehungen zwischen den USA und der Bundesrepublik blieben in Madrid nicht spannungsfrei: Denn gerade nach Ausrufung des Kriegsrechts in Polen war Washington darauf bedacht, Moskau zu „bestrafen“ und eine Verbesserung der dortigen Menschenrechtslage zur Voraussetzung eines Schlussdokuments zu machen. Da Bonn den KSZE-Prozess jedoch nicht gefährden wollte, musste Außenminister Hans-Dietrich Genscher die US-Delegation davon überzeugen, die Verhandlungen nicht abzubrechen. Im Endeffekt ergänzten sich die USA mit ihrem beharrlichen Bestehen auf humanitären Zugeständnissen des Ostens und die Bundesrepublik mit ihrem Bemühen, die Konferenz zu retten. Letzteres war 1983, angesichts der Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenwaffen in Westeuropa, wichtiger denn je, da die KSZE nun, mitten im Zweiten Kalten Krieg, das einzig verbliebene Ost-West-Forum aus der Ära der Entspannung war.
Das Folgetreffen in Wien (1986-1989)
Nach dem Folgetreffen von Madrid fanden im Rahmen des KSZE-Prozesses neben den KVAE-Verhandlungen noch drei Expertentreffen statt, die aus unterschiedlichen Gründen zwar nicht zu Abschlussdokumenten führten, deren Ausgang aber differenziert zu beurteilen ist. Jedenfalls dienten sie dazu, die Kommunikation im KSZE-Rahmen aufrechtzuerhalten. Überdies führte die KVAE in Stockholm 1986 zu einem greifbaren Ergebnis, sodass der Westen bei der Eröffnung des Wiener Folgetreffens im November desselben Jahres von weiteren Fortschritten im KSZE-Prozess ausging, zumal man sich angesichts der zunehmenden Öffnung der Sowjetunion unter Gorbatschow ein größeres Entgegenkommen des Ostens erhoffte.
Die Konferenz begann mit einem Paukenschlag. Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse schlug in seiner Eröffnungsansprache eine Menschenrechtskonferenz in Moskau vor. Die westlichen Staaten waren irritiert, weil unmittelbar darauf einer der prominentesten sowjetischen Dissidenten, Anatoli Martschenko, im Haftlager starb. Die DDR-Delegation war über die in internen Diskussionen der östlichen Seite zum Ausdruck gebrachte sowjetische Umorientierung in Menschenrechts- und humanitären Fragen beunruhigt.
Als allerdings in der ersten Konferenzphase der Westen und die N+N konkrete Menschenrechtsverletzungen in den Ostblockstaaten anprangerten, schlossen sich die Reihen im Osten wieder, der auf gewohnte Weise mit Gegenangriffen reagierte. In der Sowjetunion wurden jedoch nach und nach zahlreiche Regimegegner aus den Gefängnissen entlassen, um dem Westen entgegenzukommen. Im Sommer 1987 entspannten sich die Fronten in Wien, und die Idee einer Menschenrechtskonferenz verschwand zunächst aus den dortigen Debatten. Erst im Herbst 1988 brachte die sowjetische Seite diese gegenüber dem Westen wieder ins Gespräch, allerdings mit einer neuen Begründung: Die Zusage einer solchen Konferenz in Moskau sei auch für Gorbatschows Reformkurs von erheblicher Bedeutung. Die sowjetischen Reformkräfte wollten also die KSZE auch zur Stabilisierung ihrer eigenen Position nutzen.
All dies hatte eine desintegrierende Wirkung auf den Ostblock. Das zeichnete sich schon 1987 ab, als Polen und Ungarn die meisten westlichen Vorschläge über humanitäre Fragen unterstützten. Spannungen ergaben sich zusätzlich zwischen Budapest und Bukarest wegen der ungarischen Minderheit in Rumänien. Als Hardliner traten vor allem die ČSSR, die DDR und Rumänien hervor; Bulgarien folgte der Sowjetunion, allerdings nicht aus Überzeugung, sondern aufgrund der Abhängigkeit Sofias von Moskau. Die DDR „mauerte“ bis zum Schluss, vor allem, weil sie keine unabhängigen Menschenrechts- und Überwachungsgruppen im eigenen Land dulden und sich nicht in die Festlegung der Mindestumtauschsätze für Besucher hineinreden lassen wollte.
Nach außen hin bot die westliche Staatengruppe einen geschlossenen Eindruck, aber auch sie war sich keineswegs in jeder Hinsicht einig. Im Unterschied zum Warschauer Pakt, der sich im Juni 1987 auf einen gemeinsamen Vorschlag zur militärischen Sicherheit verständigt hatte, wurde hier vor allem die Abrüstungsfrage zum Spaltpilz. Zum einen wegen des Formats der Verhandlungen: Sollten diese zwischen NATO und Warschauer Pakt oder im KSZE-Rahmen stattfinden? Zum anderen verfolgte die Bundesrepublik dabei einen anderen Weg als die USA, Großbritannien und Frankreich. Bonn drängte auf eine möglichst rasche Vereinbarung, um das abrüstungsfreundliche Klima der späten 1980er-Jahre zu nutzen und angesichts der weitgehenden Entnuklearisierung der westeuropäischen Verteidigung die konventionelle Bedrohung aus dem Osten möglichst rasch zu verringern. Die anderen drei westlichen Mächte hatten hingegen ein Junktim zwischen militärischer Sicherheit und den humanitären Fragen formuliert: Erst wenn der Osten bei Korb III substanzielle Zugeständnisse machte, sollte einer Abrüstungskonferenz zugestimmt werden.
Die Westmächte – einschließlich der Bundesrepublik – formulierten allerdings noch ein weiteres Junktim, indem sie ihre Zustimmung zu einer Menschenrechtskonferenz in Moskau ebenfalls von Fortschritten in humanitären Fragen abhängig machten. Jedoch gab es Unterschiede in den jeweiligen Positionen. Während die Bundesrepublik keine Maximalforderungen stellte, sondern für kleine, praktische Fortschritte plädierte, verlangte der US-amerikanische Delegationsleiter vom Gastgeberland einer solchen Konferenz „an exemplary record of performance“. Überhaupt kam es, nicht zuletzt aufgrund des Einflusses unabhängiger Helsinki-Gruppen, zu einem intensiven amerikanisch-sowjetischen Menschenrechtsdialog. Allerdings waren das amerikanische und das westdeutsche Engagement unterschiedlich akzentuiert:
Wollten die Amerikaner stets möglichst konkrete Taten sehen, etwa die Entlassung politscher Gefangener und Ausreisegenehmigungen für sowjetische Juden, war der Bundesrepublik daran gelegen, die Konferenz für konkrete Verbesserungen der KSZE-Regelungen zu nutzen. So ging es ihr etwa im Rahmen von Korb III um eine Abschaffung des Mindestumtauschs für Reisende in die DDR. Wenngleich die westliche Politik auf dem Wiener Folgetreffen besser koordiniert war als die des Warschauer Pakts, waren die Divergenzen zwischen den wichtigsten westlichen Staaten unübersehbar. Nicht nur beim Warschauer Pakt, sondern auch bei der NATO wurden im Verlauf des Wiener Folgetreffens die Blockstrukturen aufgeweicht. Denn in dem Maße, in dem die Ost-West-Spannungen schwanden, gewannen innerwestliche und inneröstliche Differenzen an Bedeutung.
Dabei waren die westlichen Differenzen nie so gravierend wie die östlichen, sodass die Konferenz am 19. Januar 1989 mit einem substanziellen Schlussdokument beendet wurde. Trotz aller Meinungsunterschiede im Westen einigte man sich auf das Mandat für eine Konferenz über konventionelle Abrüstung. Im KSZE-Rahmen sollte überdies eine zweite Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen das in Stockholm Erreichte weiterführen.
Damit war das Ende der MBFR-Verhandlungen besiegelt und die 1973 ausgegliederte Sicherheitskomponente wieder unter das KSZE-Dach zurückgeholt worden. Umfassender als je zuvor fielen die Verpflichtungen der Teilnehmerstaaten im Hinblick auf die humanitäre Dimension aus. So enthielt das Dokument detaillierte Bestimmungen zur Garantie bestimmter Menschen- und Bürgerrechte: insbesondere die Verstärkung des Rechtsschutzes gegenüber Staat und Verwaltung, das Recht auf Freizügigkeit, Religions- und Gewissensfreiheit und das Recht, sich mit anderen zusammenzuschließen und politisch aktiv zu werden. Von großer Bedeutung war darüber hinaus die Festlegung zur kontinuierlichen Überprüfung dieser Bestimmungen im KSZE-Rahmen.
Bilanz des KSZE-Prozesses bis 1989
Bereits nach dem Ende der Wiener Folgekonferenz war das Ende der Ost-West-Konfrontation zum Greifen nahe: Sowohl über die konventionelle Abrüstung, über die ab März 1989 ernsthaft verhandelt wurde, als auch über die Notwendigkeit, die Menschenrechte zu beachten, bestand zwischen Ost und West ein weitgehender Gleichklang. Doch war der KSZE-Prozess dafür verantwortlich? Die Annäherung des Ostens an den Westen wäre, wie gezeigt, sowohl bei den humanitären als auch bei den sicherheitspolitischen Fragen ohne den Wechsel zu Gorbatschow nicht erfolgt. Laufen wir also Gefahr, Resultate, die auf den Gorbatschow-Faktor zurückzuführen sind, fälschlicherweise dem KSZE-Prozess zuzuschreiben?
Beides lässt sich miteinander verbinden. Mit dem KSZE-Prozess wurde ein Forum etabliert, das die Möglichkeit regelmäßiger Ost-West-Kommunikation bot, das in Spannungszeiten besonders wertvoll war. Und in Zeiten zurückgehender Spannungen konnte mühelos auf das Forum zurückgegriffen werden, um Neuansätze – etwa bei den VSBM – wirkungsvoll umzusetzen. Überdies hielten der KSZE-Prozess und die Helsinki-Gruppen das Thema Menschenrechte auf der Tagesordnung der internationalen Politik. Ost(mittel)europäer, die sich in ihren Grundrechten verletzt fühlten, konnten sich daher wirkungsvoll auf die Schlussakte berufen, und auch die Regierungen in Ost und West konnten es sich nicht leisten, das Thema links liegen zu lassen.
Die Ostblockstaaten gerieten so in eine Defensive, die sie nur durchhalten konnten, wenn sie mit der Sowjetunion zusammen eine geschlossene Front bildeten. Mit der Aufweichung dieser Front durch die Führungsmacht selbst kam es zu Rissen im Ostblock, etwa beim Folgetreffen von Madrid. Ein regelrechter Zerfall des Ostblocks aufgrund der unterschiedlichen Haltungen in Menschenrechtsfragen wurde auf dem Wiener Folgetreffen sichtbar, in dessen Verlauf sich die sowjetische Haltung zur KSZE grundlegend änderte – mit der massenhaften Entlassung politischer Häftlinge und mit der Forderung nach einer Menschenrechtskonferenz in Moskau, um die eigene Stellung zu stabilisieren.
Der KSZE-Prozess war daher schon vor Gorbatschows Amtsantritt ein Element, das Unruhe in die osteuropäischen Gesellschaften brachte; danach verstärkte sich diese Unruhe aufgrund des in einigen osteuropäischen Staaten, insbesondere in der Sowjetunion, eingeschlagenen Reformkurses. Dieser Reformkurs wurde durch den KSZE-Prozess unterstützt und verstärkt, sodass dieser auf der einen Seite zum Wandel innerhalb der östlichen Staaten und auf der anderen Seite zum Zerfall des Ostblocks wesentlich beitrug.
IV. Von der KSZE zur OSZE
Der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre ein glühender Befürworter der KSZE, bezeichnete Ende Januar 1989 die Schlussakte von Helsinki und den KSZE-Prozess als „unser[en] Fahrplan zur europäischen Friedensordnung“. Und in der Tat schien die Bedeutung der KSZE angesichts der Revolutionen in Ost(mittel)europa und der Auflösungserscheinungen des Warschauer Pakts 1990 zu wachsen: So sah Genscher in der KSZE angesichts der damaligen dramatischen Entwicklungen einen „Stabilitätsrahmen“.
Die KSZE wurde gerade im Jahr der deutschen Wiedervereinigung vielfach als Ordnungsfaktor für Gesamteuropa beschworen, allerdings aus unterschiedlichsten, meist taktischen Motiven: Für die britische Regierungschefin Margaret Thatcher war sie ein Instrument, um Europa vor einer deutschen Dominanz zu bewahren; François Mitterrand wollte damit Helmut Kohl ausbremsen und ein vereinigtes Deutschland einrahmen; ähnlich dachte auch Gorbatschow, der allerdings für die Zukunft mit dem „gemeinsamen europäischen Haus“ auch ein wolkiges Konzept europäischer Kooperation verfolgte.
Wenngleich sich gerade die Bundesregierung 1990 für die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses ernsthaft einsetzte, sollten NATO und Europäische Gemeinschaft (EG) – später die Europäische Union – die tragenden Pfeiler der europäischen Ordnung werden. Das hing vor allem damit zusammen, dass im Zuge der Wiedervereinigung sowohl die USA als auch die Bundesrepublik in einer NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands einen Sicherheitsanker ersten Ranges sahen; und sie konnten die anderen Mächte ebenfalls von der Notwendigkeit überzeugen, das erweiterte Deutschland in eine reformierte NATO einzubinden. Angesichts des Zeitdrucks und der unvorhersehbaren Entwicklungen, insbesondere in der Sowjetunion, griffen die führenden Staatsmänner lieber auf die bewährten Bündnisse zurück als neue, im Rahmen von 35 Staaten auszuhandelnde Sicherheitskonzepte umzusetzen.
Dennoch wurde der KSZE-Prozess fortgesetzt. So fanden etwa im Frühjahr 1990 eine Wirtschaftskonferenz der KSZE in Bonn und im Juni ein Expertentreffen „zur menschlichen Dimension der KSZE“ in Kopenhagen statt. Am wichtigsten wurde indes das Gipfeltreffen vom 19. bis zum 21. November 1990 in der französischen Hauptstadt.
Die jetzt 34 Teilnehmerstaaten verabschiedeten hier die „Charta von Paris“, die die zehn Prinzipien der KSZE-Schlussakte bekräftigte und den Zusammenhang zwischen KSZE-Prozess, deutscher Einheit und Einheit Europas herstellte sowie den Grundstein für eine Institutionalisierung der KSZE legte. Letztere manifestierte sich zunächst in der Schaffung dauerhaft tagender Institutionen, wie einem mindestens alle zwei Jahre zusammentretenden Außenministerrat, einer eigenen parlamentarischen Versammlung, der Errichtung eines Sekretariats in Prag, eines Konfliktverhütungszentrums in Wien und eines Büros für freie Wahlen in Warschau. Für Genscher war die Charta von Paris „ein ‚Zukunftsdokument‘, an dem es weiter zu arbeiten galt“.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der die KSZE 1995 aufging, entwickelte unter anderem ein Feldmissionsmodell zur Konfliktprävention, zum Krisenmanagement und zur Konfliktfolgenbeseitigung. 20 solcher Missionen gab es bis 2003; eine der bedeutendsten war die 2014 eingesetzte OSZE-Sonderbeobachtermission in der Ukraine, die die dortige Waffenruhe überwachte. Das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte entwickelte Methodologien zur Wahlbeobachtung und beobachtete im vergangenen Jahrzehnt über 150 Wahlen.
Überdies wurde ein Hoher Kommissar für nationale Minderheiten und eine Helsinki-Bürgerversammlung geschaffen – ein Netzwerk für Helsinki- und andere zivilgesellschaftliche Vereinigungen. Unter dem Dach der KSZE wurden 1990 auch der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) und das Wiener Dokument über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen unterzeichnet; 1992 folgte der Vertrag über den Offenen Himmel, der gemeinsame Luftüberwachungsmissionen vorsah. Ist es vor diesem Hintergrund gerechtfertigt, der KSZE/OSZE „eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung Europas nach dem Kalten Krieg“ zu attestieren?
Bereits unmittelbar nach der Wiedervereinigung kam es nicht nur im Mittleren Osten, sondern auch in Europa zu kriegerischen Konflikten – insbesondere zu dem blutigen Bürgerkrieg in Jugoslawien, der mit dem Zerfall dieses Vielvölkerstaats auf dem Balkan endete. Die KSZE/OSZE-Institutionen hatten weder dessen Ausbruch verhindern noch dessen Ende erzwingen können, da sie nicht die Möglichkeit hatten, effektive Sanktionen zu verhängen. Weitaus wichtiger in diesem Prozess wurden die EG/EU und die NATO.
Sicher sind heute auch Größe und Heterogenität sowie die Aufgabenvielfalt der OSZE ein Problem für das Finden gemeinsamer Positionen. Entscheidend ist aber etwas anderes: Die KSZE war letztlich ohne die bipolare Welt nicht denkbar. Hier erfüllte sie eine wichtige Funktion und leistete ihren eigenen Beitrag zum Zusammenwachsen Europas, da ihr die Teilnehmerstaaten auch in schwierigen Zeiten – durchaus aus unterschiedlichen Gründen – eine wichtige Funktion zusprachen. Nach dem Zerfall des Ostblocks, insbesondere aber der Sowjetunion, verlor sie ihre Funktion als Brücke zwischen Ost und West. Denn nun entfalteten die bestehenden westeuropäischen und transatlantischen Strukturen eine ungeheure Sogkraft auf die Staaten Mittel- und Osteuropas, die in der EU nach Wohlstand und in der NATO nach Sicherheit strebten. Beide Organisationen verdrängten die KSZE/OSZE. Diese kann zwar im innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Zusammenhang unterstützend wirken; eine ordnungsstiftende Funktion kommt ihr jedoch nicht mehr zu.
Und aktuell?
Angesichts der von Kriegen und Krisen geprägten Gegenwart und der unübersehbaren Konfrontation zwischen den westlichen Staaten auf der einen und Russland sowie China auf der anderen Seite erscheint eine Neuauflage der KSZE als überaus wünschenswert. Allerdings ist dies alles andere als realistisch. Erstens dürfte sich eine „neue KSZE“ nicht auf Europa begrenzen, sondern müsste Asien mit einbeziehen, um nicht nur Russland, sondern auch China einzubinden. Zweitens erschwert der erratische außenpolitische Kurs von US-Präsident Donald Trump eine Verständigung im transatlantischen Rahmen, die für ein möglichst geschlossenes Auftreten der westlichen Staaten erforderlich wäre. Drittens war die weltpolitische Entspannung seit Ende der 1960er-Jahre eine notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen der KSZE.
Der Mangel an Kompromissfähigkeit bei den wichtigsten derzeitigen weltpolitischen Akteuren ist mithin das entscheidende Hindernis für eine „neue KSZE“. Erst nach einem dauerhaften Frieden zwischen Russland und der Ukraine und nach einem Verzicht Chinas auf eine gewaltsame Wiedervereinigung mit Taiwan ist ein derartiges Forum denkbar. Von einem solchen Zustand sind wir jedoch noch sehr weit entfernt.
Zitierweise: Hermann Wentker, „Die Dimensionen der KSZE als entspannungspolitisches Konzept vor und nach 1989. Und heute?“, www.bpb.de/571044, Deutschlandarchiv vom 19.9.2025. Alle veröffentlichten Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Der Historiker Prof. Dr. Hermann Wentker leitet die Forschungsabteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam, u.a. mit den Forschungsschwerpunkten Staat und Kirche in der DDR; Geschichte der Ost-CDU; Geschichte der Justiz in der SBZ/DDR und Außenpolitik der DDR.