Interner Link: Hier als PDF das fünfseitige Manuskript, das der spätere Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk Anfang November 1989 an die DDR-Wochenzeitung „Sonntag“ schickte, gedruckt werden durfte es allerdings nicht. Der Redaktion gingen Kowalczuks Reformvorschläge offensichtlich zu weit, zu denen die Gründung einer Historikerkommission zur Erforschung der Folgen des Stalinismus gehörte. Der Text stand damals unter der Überschrift: „Für eine Memorial-Gesellschaft. All den noch namenlosen oder schon bekannten Opfern.“ Nachfolgend schildert Kowalczuk die Zeitumstände – und wie er zum Historiker und einem oft unbequemen „Einmischer“ wurde (hk):
In meinem Buch „Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR“ schrieb ich 2009: „Ich forsche, schreibe, denke und urteile anders über die hier dargelegten Sachverhalte als jemand, der der DDR nachtrauert, als jemand, der glaubt, objektiv urteilen zu können, als jemand, der die Zone nur aus Akten, Büchern, Filmen, flüchtigen Besuchsreisen kennt, als jemand, der vor mir, nach mir oder anderswo als ich selbst geboren wurde. Fast keines der von mir beschriebenen Ereignisse kenne ich aus eigener Anschauung, ich war weder in der Opposition noch in der SED, ich zählte zur uneinheitlichen Masse dazwischen.“
Immer wieder seit 1990 habe ich in vielen Beiträgen, Interviews und Podcasts betont, dass ich nicht zur organisierten DDR-Opposition bis 1989 zählte. Ich kam aus einem staatsnahen Elternhaus und habe mich als 14-, 15-Jähriger mit unbeabsichtigten, gleichwohl schlimmen Folgen für mich durch die Zurücknahme meiner Bereitschaftserklärung, die ich mit 12 Jahren abgegeben hatte, Offizier der Nationalen Volksarmee (NVA) zu werden, von der politisch-ideologischen Einstellung meines Vaters und des SED-Staates gelöst. Darüber habe ich oft berichtet in der Öffentlichkeit.
Staat, SED, Schule, Armee, Stasi ließen mich nicht so einfach aus ihren Fängen, immerhin war ich ein Quotenbringer, ein Planerfüller für die Vorgabe, wie viele Anwärter für militärische Berufe zu stellen seien. Mir war am Ende eines unwürdigen, für mich traumatischen anderthalbjährigen Ringens um mich gesagt worden, meine Zukunft sei vorbei und ich würde über kurz über lang in einer Anstalt des sozialistischen Justizwesens landen. Meine Mutter, eine Unterstufenlehrerin, saß neben mir und wurde fast ohnmächtig.
Mein Vater musste sich als SED-Genosse vielen unangenehmen Fragen stellen, die er mir wütend auf den Tisch knallte. Als seine SED-Genossen mich in Anwesenheit meiner Mutter nach anderthalb Jahren, die mich stark veränderten, am Ende fragten, ob ich mir nicht bewusst sei, was ich diesem Staat schulde, wie viel Geld man bereits in meine Ausbildung investiert habe – ich war in der 10. Klasse der POS –, entgegnete ich zum Entsetzen meiner Mutter: Schreiben Sie mir eine Rechnung, ich werde diesem Staat alles auf Heller und Pfennig zurückzahlen. Meine Mutter hatte nicht sehr viel gegen die DDR – dass sie die Hälfte ihrer Geburtsstadt nicht sehen durfte, nervte sie zwar –, dass sie aber nach diesem letzten Gespräch im Wehrkreiskommando Berlin-Köpenick glaubte, wir würden nach meiner Frechheit sofort verhaftet von Männern in schwarzen Ledermänteln und nie wieder auftauchen, was ich damals ziemlich lächerlich fand, zeigt, was sie diesem Staat zutraute. Ich war am Ende dieser anderthalb Jahre ideologisch-politischer Malträtierung mit fast wöchentlichen „Aussprachen“ mit mir meist unbekannten Menschen gerade 15 Jahre alt.
Zum Pförtner degradiert
Der Staat war mit mir fertig. Der Abiturplatz war weg. Ich durfte nun Baufacharbeiter erlernen. Ein ehrenwerter Beruf, aber nicht wirklich meine Sache, auch wenn ich nun vieles für mein Leben lernte. Anschließend arbeitete ich als Pförtner in einem kleinen Institut am Berliner Müggelsee. Auch das war nicht gerade mein Traumjob, aber hier war symbolisch klar: Ich will von diesem Staat nichts mehr.
Das stimmte aber nicht. Denn ich war nicht fertig mit ihm. Er hatte mich zu seinem Gegner gemacht. Dafür konnte ich nichts. Ich schloss immer mehr Freundschaften mit Menschen, die aus ganz anderen Elternhäusern kamen, aus christlichen etwa, und ich lernte eine Gegenwelt, eine Parallelwelt kennen, die mich immer stärker anzog und faszinierte. Ich bin von ihnen aufgefangen worden, meinen vielen Freunden, von denen die meisten nicht wussten, dass sie mich retteten. Denn ich war eigentlich verloren. Voller Wut und Hass und ohne jeden Sinn für Auswege.
Durch meine Freund*innen erlernte ich mit 15, 16, 17 Jahren nun, dass es möglich ist, in der Unfreiheit freiheitlich zu leben – oder es wenigstens zu versuchen. Ich fasste neuen Mut. Wollte mich einbringen, wollte zu Veränderungen beitragen. Ich las und las – und wurde zwar aus der Staatsbibliothek als Leser ausgeschlossen, war aber zugleich privilegiert, weil ich praktisch an alles herankam, was ich lesen wollte.
Als Pförtner habe ich sogar drei wissenschaftlich-historische Aufsätze publiziert – ich war 20 und 21 Jahre alt, als ich diese ohne jede Ausbildung und Anleitung auf der Grundlage von Archivstudien in Berlin und Merseburg und mit Hilfe von mir zugesandten Archivalien aus der Bundesrepublik, Italien und Argentinien schrieb. Denn längst schon wollte ich Historiker werden.
Nach 1990 schrieb die Journalistin Mechthild Küpper in einem Porträt über mich: „Die DDR behinderte den Historiker Kowalczuk, verhindern konnte sie ihn nicht.“ Ja, das gefiel mir, es stimmte ja auch. In meiner Dissertation habe ich später Quellen verwendet, die ich 1987/88 illegal in dem Institut, in dem ich arbeitete, vor der Vernichtung bewahrte, mit großer Angst zu mir nach Hause brachte und dort aufbewahrte.
Über dreißig Jahre später fiel das einer Historikerin auf, und sie bat mich, diese Unterlagen dem Institut zurückzugeben. Ich tat das sehr gern, und seither gibt es in einem Archiv, einer Bibliothek eines wissenschaftlichen Instituts, eine „Sammlung Kowalczuk“, das heißt: ein Depositorium eines ehemaligen Pförtners – so häufig dürfte das in der Wissenschaftsgeschichte nicht vorgekommen sein.
Doch ich interessierte mich nicht nur für historische Vorgänge. Ebenso stark bewegten mich politische, kulturelle, gesellschaftspolitische und internationale Vorgänge. Über meine Freund*innen war ich in den Umkreis von Menschen geraten, die Zugang zu Oppositionsgruppen, zu kirchlichen Veranstaltungen und zu Untergrunderzeugnissen hatten. Das interessierte mich sehr. Ich lernte eine ganz andere Welt kennen, die mir durchaus fremd blieb, die mich aber auch anzog, die mich faszinierte. Etwa ab 1986 begann ich – ich war 19 Jahre alt –, politische Texte, Essays und Briefe zu schreiben. Das verstärkte sich von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr. Ich suchte - und fand dabei zu wenig. In meinen Kreisen diskutierten wir von morgens bis morgens, oftmals ich auch ganz allein mit mir. Denn ich war nur selten fröhlich, ich glaubte, es gebe kein Recht, fröhlich zu sein in dieser Diktaturwelt.
"Ostoid"
Natürlich nannten meine Freund*innen und ich die DDR eine Diktatur. Ich schuf zudem eine Bezeichnung, so um 1986/87 herum, die eindeutig war: „ostoid“. Das war als Analogie zu „faschistoid“ gedacht. Meine Freund*innen und ich standen überwiegend – nur wenige studierten – am Rand der Gesellschaft, als Pförtner, Essensausträger bei der Volkssolidarität, Friedhofsgärtner, Sozialarbeiter in kirchlichen Einrichtungen, als Arbeitslose mit einer Sozialversicherung (ich war das auch zwei Mal). Den SED-Staat lehnte ich ab – die DDR aufzugeben, kam mir nie in den Sinn. Zwei Freunde von mir saßen 1988/89 im Knast, weil sie die Mauer abschaffen wollten. Das wollte ich natürlich auch. Aber nicht die DDR. Ich hätte gar nicht gewusst, wie das gehen soll. Aber die Mauer musste fallen.
Anders als meine Freund*innen, die ganz bewusst am Rand der DDR standen und dort auch immer bleiben wollten (oder für immer gehen wollten, was auch einige taten), wollte ich wieder zurück in die Mitte. Zu meinen Bedingungen, mit meinen Ansprüchen. Aber durchaus bereit, Kompromisse dafür einzugehen. Ich wollte nicht alle Brücken abbrechen. Ich hatte für alle, die das taten, Verständnis. Mein Weg war das nicht. Daher war ich auch zu weitaus mehr Kompromissen bereit als viele meiner Freund*innen. Unser Dauerthema: Den Grundwehrdienst total verweigern oder zu den Bausoldaten gehen, die keine Waffe tragen mussten Das erste könnte Knast bedeuten (aber wir wussten auch, dass seit 1985 deshalb niemand mehr länger als ein paar Tage ins Gefängnis gekommen war). Das zweite zog fast immer nach sich, nicht mehr studieren zu können (auch hier gab es seit 1986/87 einige wenige Ausnahmen, nicht nur bei den Theolog*innen und Studierenden an Kunsthochschulen, wohin es die meisten meiner Freund*innen, die studieren wollten, zog).
Nur ganz wenige in meinem Freundeskreis gingen zum normalen Grundwehrdienst – kein einziger zu einem längeren, das wäre auch mit unserem politischen Grundkonsens nicht vereinbar gewesen. Ich zählte zu den ganz wenigen, die trotz größter Bauchschmerzen und vielfacher Ängste weder verweigerten noch zu den Bausoldaten gingen, sondern anderthalb Jahre Grundwehrdienst ableisteten. Ich hatte mich darauf intensiv vorbereitet: keine Freunde dort, nie die Kommandosprache mitmachen, standhaft bleiben, keine Schikanen gegenüber anderen und anderes mehr. Es war die schlimmste Prüfung meines Lebens, untergebracht in einem kleinen Barackenlager am Rande Berlins in einer Einheit, die unterirdische Bunker bewachte und im Wald Schutzanlagen baute. Aber ich überstand diese Zeit – ausgerechnet 1988/89.
Zuvor hatte ich gegen das Verbot des „Sputniks“ im November 1988 bei der Volkskammer, dem Postministerium und dem SED-Zentralkomitee schriftlich protestiert. Das brachte mich in eine besondere Lage: Ich wurde isoliert, und niemand durfte mehr mit mir in einer Gruppe reden – die per Definition aus mehr als zwei Mann bestand. Zwei Unteroffiziere mussten ihre Bude räumen, damit ich sie beziehen kann und im Einzelzimmer isoliert war. Das war gar nicht schlecht, denn die hatten ein eingebautes Radio, und ich konnte hier Westsender hören. Lustig war das freilich nicht, weil mein weiterer Weg heftig umkämpft war – einige Offiziere wollten mich weghaben, ein eingeschalteter Staatsanwalt, der mir unverhohlen drohte, ebenfalls, andere Offiziere müssen ihre Hände über mich gehalten haben.
Am Ende hatte ich großes Glück und wurde praktisch mitten im Oktober 1989, nachdem ich im September bereits auf einen Urlaub mit Folgen geschickt worden war – ich hatte Unterschriften für das Neue Forum gesammelt und war dabei aufgefallen –, in einen langen Erholungsurlaub geschickt. Erich Honecker war indessen nicht mehr SED-Generalsekretär. Ich musste fortan nur noch alle sieben bis zehn Tage für eine Nacht zurück in das Waldbarackenlager und durfte ansonsten zu Hause bleiben. Offenbar wollten einige ihr schlechtes Gewissen beruhigen – mir war es egal, meine irre (und zugleich irre traumatische) Armeezeit war Mitte Oktober 1989 auf kuriose Art praktisch nach einem Jahr fast beendet.
Briefe an Künstler, Politiker und Redaktionen, oft ohne Reaktion
In all den Monaten bei der Armee habe ich weiter getan, was ich auch zuvor bereits gemacht hatte: Briefe und Essays geschrieben und verschickt. So schrieb ich etwa Hermann Kant oder Stephan Hermlin nach dem X. Schriftstellerkongress 1987 und kritisierte ihre Haltung. Ich schrieb dem Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski oder dem Theaterwissenschaftler Werner Mittenzwei. Auch der Chefredakteur der „Jungen Welt“, Hans Dieter Schütt, bekam Post von mir. Und er antwortete mir im September 1988: „Ich glaube, Ihre Gedanken sind aus tiefstem Herzen heraus geschrieben, so dass ich Ihnen jene Worte, mit denen Sie unsere Arbeit und mich persönlich belegen, nicht einmal übelnehme (demagogisch, dümmlich, gefährlich, absurd, unfähig, mechanisch, große Gruseln etc.) (…) Wer 100 Redakteure zu 100 Idioten stempelt, der heuchelt, wenn er die Mitbeteiligung wünscht.“
Offenbar habe ich mehr Klartext gesprochen, als ich in Erinnerung habe. Aber ich schrieb nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Zeitschriften an: „Sinn und Form“ oder der „Weltbühne“ übersandte ich unaufgefordert Essays. Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass die nicht gedruckt wurden. Damals waren das Versuche, für Pressefreiheit, für Meinungsfreiheit, für Freiheit, gegen Rechtsradikalismus einzutreten. Einmal bekam ich sogar ein „Ideenhonorar“ von der „Weltbühne“ – es ging um Pressefreiheit in meinem Manuskript. Gedruckt wurde es natürlich nicht.
Ich schrieb auch dem SED-Zentralkomitee, der Volkskammer, dem DDR-Ministerrat – was man eben so machte, um politischen Widerspruch zu artikulieren. Im September 1989 schließlich schrieb ich auch an Oppositionelle – etwa an Bärbel Bohley, Ludwig Mehlhorn oder manche SDP-Gründer. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Gründungsaufrufs für das „Neue Forum“ bekam ich diesen ebenfalls in die Hände und habe beim erwähnten Sonderurlaub selbst Unterschriften gesammelt.
Nicht nur mein Vater unterschrieb mit matten Argumenten nicht, auch einige „stadtbekannte“ DDR-Kritiker wichen aus. Wenige Tage nach dem Verbot des „Neuen Forum“ am 21. September 1989 schrieb ich Bärbel Bohley: „Es ist tatsächlich bitter nötig, daß sich ein ‚Neues Forum‘ konstituiert. Zum einen um die gesamte, zersplitterte Opposition in diesem Land unter einem großen und weiten Schirm zu vereinen, und zum anderen, um deutlich erkennen zu geben, daß es eine bewußte Opposition zu diesem Staat und den darin herrschenden Verhältnissen gibt.“
Die meisten dieser Briefe sind von der Stasi registriert, die meisten nicht weiterbefördert worden (zum Beispiel der Brief an meinen späteren Freund Ludwig Mehlhorn, wir fanden ihn in den Stasi-Unterlagen). Ich habe diese Briefe aus der Waldkaserne hinausgeschmuggelt, um die dortige Briefzensur nicht zu arg zu beschäftigen. Einen Zugang zu einer Schreibmaschine hatte ich – zu einer Waffe allerdings nicht. Ich durfte schon seit Wochen nicht mehr in die Nähe von Waffen; zuletzt hatte ich Ende November 1988 eine MPi nicht nur zum Reinigen in der Hand gehabt. Diese Briefe trugen meine offizielle Absenderadresse in Friedrichshagen, nicht meinen tatsächlichen, allerdings noch illegalen beziehungsweise inoffiziellen Wohnort im Prenzlauer Berg. Ich besaß auch einen zweiten Personalausweis, weil man den PA während der Armeezeit abgeben musste. Ich hatte mir bereits 1987 einen zweiten besorgt, indem ich den alten verlustig meldete – ein verbreiteter Trick, der freilich nicht ohne Risiko war.
Also schrieb ich und schrieb und schrieb. Und ich versuchte, meine geschichtswissenschaftlichen, geschichtspolitischen und gesellschaftspolitischen Interessen zusammenzubringen. Die Geschichtsdebatten in der Gorbatschow-Sowjetunion fesselten mich. Fast täglich erfuhr ich ab 1985/86 neues, bislang Ungehörtes und vor allem Unerhörtes. Diese Geschichtsdebatte prägte mich stark.
Alles, was ich bekommen konnte, sog ich auf. In der Staatsbibliothek versuchte ich, russische Publikationen, Zeitungen, Zeitschriften im Original zu lesen. Das hätte ich mir noch 1984 nicht vorstellen können. Ich quälte mich hindurch, denn ganz so war mein Russisch nicht. Dann bekam ich auch immer mehr Einblicke in die Debatten im Untergrund in der CSSR, in Ungarn und vor allem in Polen.
Verstärkt wurde das alles durch die Anti-Glasnost-Politik der SED-Führung, die sich zum Beispiel in den rüden Attacken auf den Film „Die Reue“ von Tengis Abuladse im „Neuen Deutschland“ und der „Jungen Welt“ zeigte. Der Film wurde am 13. Oktober 1987 im ZDF ausgestrahlt und war in der DDR tagelang Gesprächsthema. Das „Neue Deutschland“ und die „Junge Welt“ brachten schlimme Verrisse des Films von Harald Wessel und Hans Dieter Schütt – im direkten Auftrag von Erich Honecker und Egon Krenz.
In meinem Buch „Endspiel“ schrieb ich: „Ein 20-jähriger notierte einen Tag nach der Ausstrahlung in sein Tagebuch: ‚Ein bewegender Abend liegt hinter mir. Gestern Abend lief im ZDF der 1984 gedrehte sowjetische Film ‚Die Reue‘. Vor Augen wurde ein Stück realer Sozialismus geführt. Der Teil des Sozialismus, den ich und Tausende andere bekämpfen, ausmerzen wollen. Meine Haltung wurde eher noch verschärft: Diese korrupten Verbrecher sind physisch zu vernichten, eine Psyche besitzen diese Schweine nicht. Ich bin ohne Worte.“ Als Fußnote fügte ich hinzu: „Ich danke den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Robert-Havemann-Gesellschaft für die Möglichkeit, Auszüge (Kopien) dieses Tagebuchs und anderer unerschlossener Selbstzeugnisse nutzen zu dürfen.“
Tatsächlich stammte das Zitat aus meinem eigenen Tagebuch. Wie oben schon erwähnt, wollte ich meine Zeitzeugenschaft in diesem Buch von 2009 bemänteln. Ich hoffte noch auf eine akademische Karriere, und ich wusste, die deutsche Historiographie an den Universitäten mag es gar nicht, wenn man die angeblich so objektive Geschichtswissenschaft mit subjektiven Einsprengseln „beschädigt“. Darüber machte ich mich bereits in der Einleitung lustig – und bin dafür auch immer wieder von einigen maßgeblichen Fachvertretern hart angegangen worden.
"Entweder ein ganz Überzeugter oder einfach nur durchgeknallt"
In dieser Zeit begann ich, immer intensiver darüber nachzudenken, wie man eine Geschichtsschreibung fern der offiziellen Vorgaben umsetzen könnte. Ich sammelte alles Material, was ich in die Finger bekam. Manche glaubten mir nicht, dass ich das für eine zu schreibende Geschichte sammelte, sie dachten wohl, ich sei entweder ein ganz Überzeugter oder einfach nur durchgeknallt. Meine ersten eigenen Versuche, die ich oben benannt habe, waren selbstverständlich keine Lösung und hatten damit auch nichts zu tun. In meinen ersten Aufsatz schrieb mir der Chefredakteur sogar einen Absatz hinein, den ich – wie die Überschrift – erst sah, als das Heft gedruckt vor mir lag. Wie peinlich war das denn! Also lernte ich und schrieb zunächst nichts mehr, was über das Jahr 1945 hinausreichte.
Aber natürlich war das für eine größere Debatte alles komplett irrelevant, die Themen viel zu abseitig. Immerhin aber beeindruckten meine Arbeiten die kleine Bewerberauswahl zum Studium der Geschichte an der Humboldt-Universität. Klaus Vetter und Laurenz Demps saßen dort und staunten, wie sie mir später sagten, was da für ein junger Typ vor ihnen saß, der schon publizierte und auch noch den Unterschied zwischen Joachim Petzold und Kurt Pätzold kannte. Gegen alle Vorgaben, Einwürfe und Vetos drückten sie mich als künftigen Geschichtsstudenten (Historiker) durch – einer von etwa 25 alle zwei Jahre in Ost-Berlin. Es nützte nichts – im Frühjahr 1989 war der Studienplatz wieder weg. Im September 1990, eine Epoche später, durfte ich anfangen zu studieren.
Mein Ziel ab 1987/88 war es, die geschichtspolitischen Debatten in der Sowjetunion auch auf die DDR-Verhältnisse zu übertragen. Dafür hatte ich keine Gesprächspartner: Die einen interessierte es nicht, die anderen warnten mich, die nächsten hatten Angst („ein ganz heißes Eisen, ganz heiß“), einige taten es als für die DDR irrelevant ab, und viele zwar zwar interessiert, hatten aber nicht wirklich etwas beizusteuern. Doch ich war wie elektrisiert: Ich versuchte mich an kleineren Texten, Essays, um meine Sicht zu formulieren. Immer wieder scheiterte ich. Mir fehlte eine Debatte, mir fehlten Hinweise, Korrektive, andere Sichten. Schließlich habe ich den oben beigefügten Text runtergeschrieben – wie das grüne Durchschlagpapier mir zeigt, ganz offenbar in der Kaserne, denn solches Papier hatte ich zu Hause nicht. Das ergibt auch Sinn, weil ich dort am Interner Link: 4. November 1989 die berühmte Alex-Demo am Bildschirm verfolgte.
Mein Anliegen bestand darin, mit diesem Papier eine geschichtspolitische und geschichtswissenschaftliche Debatte über die „weißen Flecken“ in der Geschichtsschreibung zu initiieren. Motiviert wurde ich auch durch die Erinnerungen des ehemaligen Chefs des Aufbau-Verlags Walter Janka („Schwierigkeiten mit der Wahrheit“), die ich hatte lesen können und die der Schauspieler Ulrich Mühe am 28. Oktober 1989 im Deutschen Theater teilweise vorgetragen hatte. Das Papier schrieb ich am 5. November 1989 ins Reine und schickte es an die Redaktion der Wochenzeitung „Sonntag“ des Kulturbunds der DDR – in der Annahme, dort ein den Zeitumständen entsprechend interessiertes Publikum zu finden. Ein Irrtum. Mehr oder minder kommentarlos bekam ich meinen Text zurückgeschickt. Warum, verstehe ich auch rückblickend eher nicht. Zwar ist es sicher kein nennenswerter literarischer Text, aber er spiegelt doch die damalige Zeit des Umbruchs und Aufbruchs auf seine Weise.
Im Januar 1990 gaben die beiden Historiker Armin Mitter und Interner Link: Stefan Wolle von der Akademie der Wissenschaften, Institut für Allgemeine Geschichte, den Gründungsaufruf für den „Unabhängigen Historiker-Verband“ (UHV) heraus. Ich war sofort Feuer und Flamme. Das war mein Ton, meine Sache. Als dieser UHV im April 1990 gegründet wurde, lief das an mir vorbei. Aber ich kannte Mitter schon einige Jahre lang dem Namen nach – ein ehemaliger Lehrer von mir war mit ihm eng befreundet und erzählte mir regelmäßig von ihm. So kam es 1990 doch noch zur Kontaktaufnahme, und ich wurde das jüngste UHV-Mitglied, bald auch studentisches Vorstandsmitglied. Meinen Text vom 5. November 1989 vergaß ich schnell – die Gründung des UHV und alle meine weiteren Aktivitäten liefen genau in diese Richtung. Ich brauchte keine theoretischen Ausarbeitungen mehr, ich wurde praktisch aktiv, sehr aktiv.
35 Jahre später erinnerte ich mich dieses Textes. Im Juni 2025 erhielt ich den „Karl-Wilhelm-Fricke-Preis“. Es ist die erste offizielle und institutionelle Ehrung, die ich in meinem Leben bekam (dass mir allerdings Wolf Biermann 2024 ein Lied widmete, ist eine noch höhere Ehre). Aber der Namensgeber Wilhelm Fricke war schon immer ein Vorbild für mich. In Vorbereitung auf meine Dankesrede überlegte ich, was ich darin erzählen könne. Ich ging auf mein Vorbild Fricke ein, erwähnte meinen gerade erst verstorbenen Freund Interner Link: Gerd "Poppoff“ Poppe, richtete mich spontan an den Laudator, meinen Freund Interner Link: Wolfgang Templin, und las dann unter anderem aus diesem Dokument vor.
Als ich es nach 35 Jahren erstmals wieder las, war ich angenehm überrascht: Für einen 22jährigen hinter der Mauer war das ein Dokument, für das man sich nicht zu schämen brauchte. Heute würde ich manches ganz anders formulieren, einige Inhalte würde ich hinzufügen –aber als eine Überlegung inmitten der Revolution, die gerade ablief und deren kleiner Teil ich war, ist es als historisches Dokument interessant. Also las ich daraus vor. Kurz nach der Preisverleihung trat das „Deutschland Archiv“ an mich heran und fragte mich, ob ich es nicht auf ihren Seiten mit einer kleinen persönlichen Einordnung publizieren möchte als Interner Link: Faksimile. Das tue ich hiermit sehr gern.