Aktuelle Diskussionen um Ostdeutschland und die mittelosteuropäischen Staaten drehen sich sehr oft um die Frage, wie es sein kann, dass gerade in diesen Ländern autoritäre Parteien einen so großen Zuspruch finden, obwohl ihre Freiheitsbewegungen in den 1980er Jahren so stark waren. Bei der Bundestagswahl 2024 konnte anhand der Wahlergebnisse die ehemalige deutsch-deutsche Grenze nachgezogen werden. In den östlichen Bundesländern konnte die AfD erhebliche Zustimmungswerte verzeichnen. Die Präsidentschaftswahl in Polen hat jüngst mit einer knappen Mehrheit der nationalkonservative Karol Nawrocki gewonnen. Ungarn, das Land, das wie kein anderes am Beginn der friedlichen Revolution aktiv den Freiheitswillen der DDR-Bürger unterstützt hat, ist bereits seit vielen Jahren kein Ort der Freiheit mehr. Was ist aus den Freiheitsbewegungen, was ist aus dem Aufbruch 1989 geworden?
Der Potsdamer Historiker Frank Bösch hat in dem viel beachteten Buch »Zeitenwende 1979« herausgearbeitet, dass nicht 1989 als Umbruchsjahr gesehen werden sollte, sondern vielmehr der Blick auf ein Jahrzehnt zuvor gerichtet werden sollte. 1979 ist nicht nur das Jahr, in dem die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte, im Iran die Islamische Republik errichtet wurde und China auf den Weltmarkt drängte, es ist auch das Jahr, in dem sich die Proteste in Polen ausweiteten. Die Streiks in Danzig und die Gründung der polnischen Gewerkschaft Solidarność, sie sind die Vorboten für jenen Aufbruch, der dann mit dem Fall der Mauer auf den Höhepunkt zulief. Es schien für einen Moment, als sei das Ende der Geschichte erreicht, als sei die Blockkonfrontation am Ende, als sei eine friedliche Entwicklung möglich.
Keine Bewegung aus dem Nichts
Auch in der DDR kam die Oppositionsbewegung nicht aus dem Nichts. Schon lange vorher hatten sich Menschen engagiert, hatten sich für Demokratisierung und mehr Mitsprache eingesetzt oder hatten sich einfach dem System entzogen. Gerade im Kunst- und Kulturbereich gab es nicht wenige, die nicht »mitmachten«. Bei einer Journalistenreise Mitte der 1980er Jahre lernte ich Künstlerinnen und Künstler in Leipzig kennen, die nicht dem Verband Bildender Künstler angehörten und damit offiziell nicht künstlerisch tätig sein durften. Sie bekamen einmal im Jahr einen Auftrag, um zum Beispiel einen Spielplatz zu gestalten oder ein Wandbild an einer Schule zu malen. Davon konnten sie in sehr bescheidenen Verhältnissen wieder ein ganzes Jahr leben und sich ihrer Kunst widmen. Sie lebten im Widerstand gegen den Staat, sie wollten einfach ohne Zwang frei künstlerisch arbeiten.
Als junger Galerist habe ich einige dieser widerständigen Künstlerinnen und Künstler in meiner Galerie in Köln ausgestellt. Viele ihrer eindrucksvollen Werke waren ohne DDR-Hintergrund schwer zu entschlüsseln, da sie es verstanden, subkutan Botschaften zu setzen. Die meisten dieser Künstlerinnen und Künstler konnten später im vereinigten Deutschland nicht reüssieren. Sie waren zu wenig stromlinienförmig, zu wenig angepasst, zu sehr auf sich und ihre Arbeit konzentriert, und, das gehört auch zur Wahrheit dazu, der Widerstand gegen den SED-Staat war auch eine Quelle der künstlerischen Inspiration. Mit dem Sterben des verhassten Regimes starb auch bei einigen die künstlerische Kraft.
Was waren diese besonderen Werte 1989? Gab es gemeinsame Werte? Ging es um Freiheit und Demokratie, oder stand für die DDR-Bürger die Freiheit des Reisens und des Konsumierens im Vordergrund? Wie schnell konnte aus »Wir sind das Volk« »Wir sind ein Volk« werden? Kam die Wiedervereinigung zu schnell? War sie eine Annexion der DDR?
Nach über 35 Jahren deutscher Einheit am 3. Oktober dieses Jahres lohnt sich ein vielperspektivischer Blick zurück. Ein Blick zurück in eine Zeit des Aufbruchs, der Neugierde und des Gefühls, dass alles möglich ist. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich kurz nach dem Fall der Mauer nach Leipzig fuhr. Ich überlegte, meine Galerie in Köln zu schließen und in Leipzig neu anzufangen. Im Westen Deutschlands erschien mir alles saturiert und eingefahren. Jeder hatte seinen Platz und zumindest der Kunstmarkt wurde von den Platzhirschen, zu denen ich nicht gehörte, dominiert. Im Osten und speziell in Leipzig schien alles möglich zu sein. Es gab eine lebendige Kunstszene, viele leerstehende, teils baufällige Gebäude und die Atmosphäre des Aufbruchs, der Revolution. Letztlich habe ich mich persönlich dann doch dagegen entschieden.
Menschen zwischen Enthusiasmus und Frust
Dennoch denke ich, dass die mittlerweile mehr als 35 Jahre seit dem 3. Oktober 1990 dazu genutzt werden sollten, sich der damaligen Aufbruchstimmung in Ost und West zu erinnern. Heute wird oft über diejenigen, die von West nach Ost zogen, zunächst unter dem Signum der Gewinner, die sich »den Osten unter den Nagel reißen wollten«, geschrieben. Ohne Zweifel, es gab diese Glücksritter, es gab die Hochstapler, die das Blaue vom Himmel versprochen haben, es gab die Treuhand, jenes Symbol des brutalen wirtschaftlichen Ausblutens der DDR-Betriebe.
Doch ist dies nur ein Teil der Geschichte. Der andere ist, dass Menschen mit Enthusiasmus von West nach Osten zogen, gerade weil sie, berührt und beeindruckt von den Werten 1989, von diesem Wunsch, die Demokratie zu gestalten und noch einmal neu zu beginnen, fasziniert waren. Ebenso waren jene anzutreffen, die von Ost nach West zogen, weil sie sich dort bessere Arbeit, bessere Lebensbedingungen und mehr Wohlstand versprachen.
Was war mit jenen, die in der DDR für Demokratisierung stritten, die sich für Umweltschutz einsetzten und die ein anderes, ein freies Land wollten? Einige derjenigen, die 1989 in der ersten Reihe standen, haben sich schon im Laufe der 1990er Jahre zurückgezogen. Einigen war die Einheit und vor allem die schnelle Integration suspekt. Andere haben den Gang durch die Institutionen gewählt. Sie arbeiten in Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen, in Medien, in Verbänden und in Parteien.
Wer ist eigentlich ostdeutsch?
Jedes Jahr zum Tag der deutschen Einheit wird beklagt, dass zu wenige Ostdeutsche in Führungspositionen anzutreffen sind. Das mag richtig sein. Doch wer ist ostdeutsch? Sind es diejenigen, die in der DDR oder in Ostdeutschland geboren wurden und ostdeutsche Eltern haben? Können es auch diejenigen sein, die zwar in Ostdeutschland geboren wurden, deren Eltern aber aus Westdeutschland kommen? Oder sind damit auch jene gemeint, die zwar in Westdeutschland geboren wurden, deren Eltern aber aus Ostdeutschland kamen? Allein diese Fragen zeigen, dass die Betrachtung der deutschen Einheit unter dem Blickwinkel von Himmelsrichtungen und Geburtsorten wenig weiterführt.
Im 36. Jahr der deutschen Einheit steht es meines Erachtens dem ganzen Land gut an, zu reflektieren, welche Werte 1989 einen Aufbruch schufen, der so stark war, dass die sprichwörtliche Mauer fiel. Ich bin mir sicher, dass wir für die aktuellen Herausforderungen viel Kraft und Ideen aus der Besinnung auf die Werte 1989 schöpfen können. Die Mauer ist gefallen, ohne dass ein einziger Schuss fiel, welch einmaliger heroischer Kampf um die Freiheit, gepaart mit Friedfertigkeit. Diese Werte sind bis heute ein weltweites Vorbild.
Zitierweise: Olaf Zimmermann, "Werte 1989 - 2025“, in: Deutschland Archiv, 01.11.2025. Link: www.bpb.de/572430. Erstveröffentlicht in der Oktoberausgabe der Monatszeitschrift "Politik & Kultur" des Deutschen Kulturrats. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Ergänzend:
Norbert Dittmar, 
Uwe Kolbe, 
Clemens Meyer, 
Eckhart J. Gillen, 
Lucia Lucia und Aron Boks, 
Lutz Wohlrab, 
Thomas Krüger,