Wie Brücken aufrechterhalten und neue bauen in ein Nachbarland im Kriegszustand? Diese Fragen stellte sich die Leipziger „Stiftung Friedliche Revolution 1989“ im Spätsommer 2025, unterstützt von der Stadt Leipzig. Organisiert wurde die Fahrt eine Leipziger Bürgerdelegation in die ukrainische Hauptstadt Kyjiv, Ziel war es, die nunmehr 65 Jahre alte Städtepartnerschaft zwischen Leipzig und Kyjiv zu beleben, mit Vertreterinnen und Vertretern der ukrainischen Zivilgesellschaft ins Gespräch zu kommen und aus der Begegnung zu lernen, wie Erinnerungskultur auch in Kriegszeiten Gestalt annehmen kann.
Tag I. Ankunft in einer Stadt im Ausnahmezustand
Es ist Nachmittag, als wir nach 26 Stunden Fahrt endlich in Kyjiv ankommen. Der Krieg ist da, noch ehe wir die Koffer auspacken können. Kaum öffnen wir die Zimmertür, heult der erste Luftalarm. Sirenen, eine Stimme aus den Lautsprechern. Willkommen in einer Realität, die hier seit drei Jahren den Alltag bestimmt. Wir sind die erste Leipziger Bürgerdelegation in Kyjiv, eingeladen von Journalistinnen, Museumsdirektorinnen, Frauenaktivistinnen, Kommunalpolitikerinnen, organisiert von der Stiftung Friedliche Revolution, unterstützt von der Stadt Leipzig.
Wir sind gekommen, um zu verstehen. Um zu hören, wie es ist, in einem Land zu leben, das Tag für Tag angegriffen wird. Und um herauszufinden, was Städtepartnerschaft in Kriegszeiten bedeuten kann. Euromaidan: Jeder Tropfen zählt.
Zuerst treffen wir Jana Salachowa, Leiterin des Kyjiver Schauspielerprojekts Theater im Wandel, das Menschen ermutigen möchte, wach und engagiert zu sein. Ihre Augen leuchten, als sie vom Euromaidan erzählt, jener Zeit, als das Land zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankte. Jeder Einzelne sei damals nur ein Tropfen gewesen, sagt sie, aber Tausend Tropfen könnten etwas bewegen.
Sie berichtet, wie es kürzlich gelang, abermals mit „Tausend Tropfen“ ein umstrittenes Vorhaben der Regierung zu stoppen, die Antikorruptionsbüros in der Ukraine zu schwächen. Dank der Proteste vieler junger Menschen in der gesamten Ukraine, die sich für unabhängige Institutionen wie das ukrainische Anti-Korruptionsbüros NABU und SAPO eingesetzt hatten, sei deren Autonomie, die die Regierung abschaffen wollte, durch ein neues Gesetz wiederhergestellt worden.
In Salachowas Stimme liegt Zuversicht: Veränderung beginne im Vertrauen und im Engagement, und beides sei selbst mitten im Krieg lebendig geblieben.
Glaube, Weisheit und Zukunft
Später, in der ehrwürdigen Sophienkathedrale, begegnen wir dem Priester Jury Kovalenko – besonnen, ruhig, wie ein Fels inmitten der Kriegshektik. Er spricht über den Glauben nicht als Floskel, sondern als geistige Kraft: Der Mensch brauche nicht nur Waffen, sondern auch Glauben, Weitsicht und Weisheit, um zu bestehen.
Die Sophienkathedrale selbst ist mehr als nur ein Kirchenbau. Erbaut im 11. Jahrhundert, heute UNESCO-Weltkulturerbe, bewahrt sie Fresken, Mosaike, Ikonen – Jahrhunderte ukrainischer Geschichte. Die Mauern erzählen von der Kiewer Rus, von Fürsten und Mönchen, von Belagerungen und Befreiungen. Wir stehen in der Mitte des gewaltigen Kirchenschiffs. Kovalenko legt die Hand an eine Säule, während er spricht. Er ist Rektor des von ihm gegründeten Projekts Freie Orthodoxe Universität und Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OCU). Er engagiert sich für interreligiösen Dialog und theologische Offenheit, eine Haltung, die gerade in Kriegszeiten von besonderer Bedeutung ist.
Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg äußert er sich kritisch zur Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOC-MP). Er weist darauf hin, dass rund hundert neue UOC-MP-Gemeinden im Ausland entstanden seien, und mahnt zu einer fundierten spirituellen wie sicherheitspolitischen Auseinandersetzung mit diesem Netzwerk. Für ihn ist das Moskauer Patriarchat längst nicht mehr nur eine religiöse Institution, sondern ein Akteur, der ideologische Funktionen erfüllt und russische Interessen stützt.
Realpolitik mit Herz
Am Abend lernen wir Victoria Kononenko kennen, die bald als ukrainische Generalkonsulin in Dresden arbeiten wird. Sie sagt, sie freue sich auf die Aufgabe, aber es liege viel Arbeit vor ihr – für ihre Landsleute in Deutschland und vor allem, um Verständnis für die anhaltende schwierige Lage in der Ukraine zu schaffen. Ohne Verständnis, betont sie, gebe es keine Zukunft.
Schon in diesem Moment beginnen wir, Ideen auszutauschen: Wie können Netzwerke entstehen, von kultureller Vermittlung bis zu Bildungsprojekten? Politik beginnt hier im Zwischenmenschlichen.
Nachtklang unter dem Maidan
Wir sind müde. Wirklich geschlafen hat keiner von uns. Auf dem Rückweg, nahe dem Maidan, bleiben wir plötzlich stehen: Ein Streichquartett spielt klassische Musik. Einige Menschen halten inne, lauschen, wiegen sich im Takt. Es ist einer jener Momente, in denen alles zugleich da ist – der Krieg, die Angst, die Müdigkeit und das Leben, das sich nicht vertreiben lässt, trotz nächtlich immer wiederkehrenden Raketenalarms, der viele Menschen besorgt auf Schutzsuche in Keller oder U-Bahnhöfe treibt.
Tag II. Alltag im Zermürbungskrieg
Am Morgen des zweiten Tages treffen wir den Journalisten Denys Trubezkoj, der als Freelancer auch für deutsche Medien arbeitet. Er wirkt sachlich, beinahe kühl – und gerade deshalb so eindringlich. Von „Kriegsmüdigkeit“ zu sprechen, sei falsch, erklärt er, der Wille, sich zu verteidigen, sei ungebrochen. Die Ukraine habe diesen Krieg keinen einzigen Tag gewollt, geschweige denn genossen. Dies sei ein nervenzehrender "Zermürbungskrieg", der voraussichtlich noch lange dauern werde. Putin wolle nicht verhandeln, sagt er, sondern vernichten. Seine Verblendung sei das Problem.
Trubezkoj spricht von Spannungen im Land: von Männern, die seit drei Jahren kämpfen, und von anderen, die vorm Kriegseinsatz fliehen. Manche verurteilten sie, andere hätten Verständnis. Diese Ambivalenz, meint Trubezkoj, quäle die Gesellschaft.
Ein neues Wort habe Einzug in den Alltag gehalten, das mit Bedrückung ausgesprochen wird: „Busifizierung“, die Einziehung von Männern direkt auf offener Straße, zum Beispiel an Bushaltestellen. Zum Abschied legt die Delegation einen Kranz in den Leipziger Farben nieder. Kurz darauf findet ein Fototermin mit Bürgermeister Vitali Klitschko statt. Aus Sicherheitsgründen nur Minuten der Begegnung – und doch genug für symbolische Gesten der Solidarität: Kyjiv und Leipzig, Partnerstädte in einer Zeit, in der Partnerschaft mehr bedeutet als Höflichkeit. Über 13.000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind mittlerweile auch in Leipzig zu Hause, das als besonders vorbildlich gilt, Geflüchtete aus der Ukraine in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Trauer und Mut – der Unabhängigkeitstag
Der 23. August ist der Tag der Flagge, der 24. August der Unabhängigkeitstag. Überall laufen die Vorbereitungen. Frauen demonstrieren stumm auf dem Maidan. Viele von ihnen haben ihre Männer und Söhne verloren – oder sie gelten als vermisst. „Ohne Leichnam, so heißt es hier, ist man kein Held“, sagt eine von ihnen leise. Der Schmerz in den Gesichtern ist unfassbar.
Butscha – Gedenken an die zivilen Opfer
Am Nachmittag fahren wir nach Butscha, der Stadt, die zum Symbol der Zerstörung geworden ist. Ein Ort, an dem man begreift, wie Zivilisten zwischen Machtansprüchen und Kriegsschauplätzen zermalmt werden. Der stellvertretende Bürgermeister Taras Shapravskyi empfängt uns. Er spricht ruhig, aber mit Nachdruck. Fast 600 Menschen seien getötet worden, viele davon Zivilisten, erzählt er – darunter eine Kollegin und ihre Kinder, „einfach erschossen“. Butscha könne man nicht vergessen, sagt er, und fügt hinzu: „Nie wieder!“
Wir legen einen Kranz nieder, ein Zeichen der Anteilnahme, ein Symbol dafür, dass menschliche Schicksale nicht unsichtbar bleiben dürfen. Regina Schild, die ehemalige Leitern der Leipziger Stasiunterlagenbehörde, sagt später, Butscha sei für sie eine besonders wichtige Station gewesen, weil dort nicht nur der Soldaten, sondern auch der besonders vielen zivilen Opfer gedacht werde: „Sie dürfen nicht vergessen werden.“
Am Mahnmal stehen Tafeln mit den Namen der Opfer. Daneben ausgebrannte Autos – stumme Zeugen des Grauens. Einige sind mit Sonnenblumen bemalt, einem ukrainischen Symbol der Hoffnung, das zugleich die Trauer über den Tod ausdrückt. In dieser Stadt, die das Schweigen in Sprache verwandelt, wird die Dimension des Verlustes spürbar. Jede verkohlte Karosserie, jeder dort eingravierte Name ist ein Aufruf: nicht wegzusehen, nicht zu verdrängen, nicht zu vergessen.
Zivilgesellschaft gegen das Schweigen
Am späten Nachmittag treffen wir Serhiy Danylov von Think Tank UAMES und Alena Lunova vom ZMINA Human Rights Center – zwei Organisationen, die sich dem Zeugnis verpflichtet fühlen.
UAMES – Wissen als Widerstand
UAMES, die „Ukrainian Association for Middle East Studies“, ist ein Forschungs- und Analysezentrum, das sich mit geopolitischen Spannungen, Sicherheitsfragen und den Folgen der russischen Okkupation beschäftigt. Danylov beschreibt, wie ihre Arbeit hilft, politische Entscheidungen auf Fakten statt auf Ideologie zu stützen. Wissen, sagt er, sei eine Form des Widerstands.
ZMINA – Dokumentieren, damit niemand schweigen kann
ZMINA, 2012 gegründet, setzt sich für Menschenrechte und Zivilgesellschaft ein. Seit Beginn des großangelegten russischen Angriffs konzentriert sich die Organisation auf die Dokumentation von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen.
Unter der Leitung von Tetiana Pechonchyk arbeitet ZMINA mit über 30 weiteren NGOs in der „Ukraine 5AM Coalition“ zusammen, um Beweise zu sichern – nach internationalen Standards wie dem Istanbul- und dem Berkeley-Protokoll. Sie dokumentieren Folter, führen Interviews mit Betroffenen, oft unter Einsatz ihres Lebens. Es gehe, wie Lunova sagt, um mehr als Waffen oder Geld: Es gehe darum, die Stimmen der Menschen zu hören und ihre Erfahrungen in jede Verhandlung einzubeziehen. Dieser Gedanke bleibt hängen. Denn hier geht es nicht um militärische Stärke, sondern um das Sammeln von Stimmen, Fakten und Erinnerungen.
Zwischen Tanz und Tod
Auf dem Heimweg, am Ende dieses dichten Tages, überrascht uns ein Moment, der alles überlagert: Junge Menschen tanzen auf der Straße. Sie halten sich an den Händen, drehen sich, lachen, singen. Ein Fest des Lebens. Das Nebeneinander von Lachen und Weinen, von Hoffnung und Verlust, von Leben und Tod – es ist kaum auszuhalten und doch tröstlich zugleich.
Und die Reise geht weiter
Doch unsere Tage in Kyjiv sind noch nicht vorbei. Am Unabhängigkeitstag wird die Stadt zum Symbol für Trauer und Stolz zugleich. Fahnen, Gesichter, Gedenken auf dem Maidan. Dort begegnen wir Ihor Poshyvailo, dem Direktor des Externer Link: EuroMaidanMuseums, der erklärt, warum Erinnerungskultur für die Ukraine nicht nur Vergangenheitsbewältigung, sondern eine Überlebensfrage ist.
Wir werden an den Orten stehen, wo Geschichte und Gegenwart ineinandergreifen: bei den offiziellen Gedenkfeiern am Maidan, später in Babyn Jar – der Stätte des Massakers an zehntausenden Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg. Und wir sprechen weiter mit Vertreterinnen der Zivilgesellschaft: mit Psychologinnen der NGO Vostok, die Menschen aus den besetzten Gebieten begleiten, und mit Frauen, die Nachbarschaften organisieren, Alltage aufrechterhalten, Familien stützen – und damit dem Krieg etwas entgegensetzen, das stärker ist als Gewalt: Solidarität.
Zwischen den offiziellen Terminen, den diplomatischen Gesprächen und den stillen Momenten an den Gedenkstätten bleibt die Frage: Wie hält eine Gesellschaft das aus? Mehr als drei Jahre Krieg, mehr als drei Jahre Alarm, mehr als drei Jahre ständige Nähe des Todes – und doch immer wieder die Kraft, das Leben zu feiern.
Tag III. Erinnerung und Gegenwart
Der 24. August ist der ukrainische Unabhängigkeitstag. Schon am Vormittag ist Kyjiv voller Menschen. Überall Fahnen, blau-gelbe Bänder an Taschen, Autos, Fenstern. Familien spazieren, Kinder tragen kleine Flaggen, Straßenmusiker spielen Volkslieder. Fast alle tragen ihre Wyschywanka, die traditionelle Bluse mit kunstvoll gestickten Mustern.
Es wirkt ausgelassen, als sei dieser Tag für viele ein kurzes Aufatmen – und gleichzeitig steht an fast jeder Ecke das Gedenken. Fotos der Gefallenen, Kerzen, Blumen. Erinnerung an die Revolution von 2014, an die 93 Tage auf dem Maidan und an die Toten dieses Krieges, der täglich neue Opfer fordert. Wir gehen hinauf zum Wolodymyr-Denkmal für Fürst Wladimir, den Heiligen. Von dort öffnet sich der Blick weit über den Dnipro. Ein sonniger, friedlicher Moment und doch überall die Zeichen des Krieges. Männer mit Krücken, mit Prothesen. Der Krieg ist immer da, er ist Teil des Alltagsbildes, selbst an diesem Feiertag. Am Mittag führt uns Ihor Poshyvailo, Direktor des Maidan-Museums, durch die Ausstellung. Er erzählt von den 93 Tagen der Revolution der Würde und den Plänen für ein neues Denkmal. Man höre auf die Stimmen der Opfer, sagt er, doch Erinnerung dürfe nicht nur zurückschauen – sie sei auch für die kommenden Generationen.
Skepsis in der Bevölkerung sei normal, fügt er hinzu. „Das ist ein offener Prozess, politisch muss er gewollt sein.“ Wir schmunzeln – denn Parallelen zum Freiheits- und Einheitsdenkmal in Leipzig, dessen Grundsteinlegung gerade erfolgte, liegen auf der Hand.
Bemerkenswert ist auch die Verbindung zwischen den Städten: Den internationalen Wettbewerb für Museum und Memorial betreut das Berliner Büro phase eins von Benjamin Hossbach und Christian Lehmhaus, dasselbe Büro, das auch den Wettbewerb für das Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal organisiert hat.
Am Nachmittag findet das offizielle Gedenken auf dem Maidan statt. Blumen, Kerzen, Fotos. Familien stehen schweigend, junge Frauen in Nationalkleidung halten Plakate mit Freiheitsslogans hoch. Am Abend treffen wir Robert Pröse, den stellvertretenden Verteidigungsattaché der Deutschen Botschaft. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich im weitesten Sinne mit Krieg, war in acht verschiedenen Einsätzen. Drei Stunden spricht er mit uns – besonnen, klug, realistisch. Pröse beschönigt nichts: Waffen, Frontlage, Verluste, die Dauer des Krieges. „Krieg ist das Schrecklichste, was es gibt“, sagt er. Ein Satz, der nüchterner nicht klingen könnte. Keine Dramatisierung, keine Beschwichtigung – nur die klare Analyse eines Mannes, der den Krieg von innen kennt.
Wir hören zu, stellen Fragen, und manchmal bleibt nur Schweigen. Ein langer Tag endet. Ein Tag zwischen ausgelassener Freude, stillem Gedenken und der ungeschönten Realität eines Landes im Krieg.
Tag IV: Zerstörung, Erinnerung, Aufbruch
Der Montag beginnt früh: Bezirksbürgermeister Georgii Zantaraia, einst Judo-Weltmeister, empfängt uns in einem Stadtviertel, das am 31. Juli von einer Rakete getroffen wurde. 29 Menschen starben, darunter viele Kinder. 30 Häuser wurden in den vergangenen Monaten völlig zerstört, mehr als 160 beschädigt. Vor den Ruinen liegen Plüschtiere, Kerzen und wieder Fotos, Gesichter von Ermordeten, von Familien, die es nicht mehr gibt.
„Es war wichtig, dass die Gäste aus Leipzig mit eigenen Augen sehen, wie der Krieg das Leben unserer Menschen verändert“, sagt Zantaraia. Viele Familien seien obdachlos, erzählt er, man müsse ihnen so schnell wie möglich wieder Wohnungen geben. Eine Frau räumt Schutt, stapelt Ziegel; in der Ecke stehen Möbelreste. Es sind vor allem Frauen, die hier anpacken, das Land zusammenhalten, den Alltag am Laufen halten.
Am späten Vormittag besuchen wir den Gedenkort Interner Link: Babyn Jar. Slava Lichachev, Historiker und Vorstandsmitglied des Center for Civil Liberties, das den Friedensnobelpreis 2022 erhielt, führt uns durch den Park. Er erzählt vom September 1941: In nur zwei Tagen wurden hier über 33.000 Jüdinnen und Juden erschossen. Insgesamt starben an diesem Ort bis zu 300.000 Menschen – auch Roma, sowjetische Kriegsgefangene, Zivilisten. „Babyn Jar ist ein Symbol für die Gewaltgeschichte dieser Stadt“, sagt Lichachev. „Und für die Erinnerung, die nie abgeschlossen ist.“
Er beschreibt, wie Babyn Jar in den unterschiedlichen politischen Phasen der vergangenen Jahrzehnte zum Erinnerungsort geworden ist. In der Sowjetzeit sei das Massaker lange ein Tabu gewesen, offiziell habe man nur der „sowjetischen Opfer“ gedacht – nicht der ermordeten Jüdinnen und Juden. Erst 1976 wurde ein monumentales Denkmal für die „ermordeten sowjetischen Bürger“ eingeweiht. Nach 1991 kamen weitere Erinnerungszeichen hinzu: Denkmäler für jüdische Opfer, für Roma, für Kinder, für orthodoxe Priester. Zentral steht heute die Menora – 1991 eingeweiht als erstes dezidiert jüdisches Denkmal an diesem Ort. Sie ist Symbol für das Gedenken an die Shoah, aber auch für die Frage, wie eine Stadt, ein Land so viele Schichten von Gewalt erinnert.
Zwischen Zerstörung und Hilfe
Direkt danach treffen wir die NGO Skhid SOS. Sie wurde 2014 in Luhansk gegründet und hat seitdem rund 90.000 Menschen aus den besetzten Gebieten evakuiert – oft ältere Menschen, die lange gezögert hatten, ihre Häuser zu verlassen. „Die Menschen müssen verstehen, warum sie gehen sollen, wohin sie kommen, was sie dort erwartet“, erklärt eine Mitarbeiterin. Kommunikation sei entscheidend, Vertrauen überlebenswichtig.
Das Team zählt rund 200 Mitarbeitende, mehr als 70 Prozent davon sind junge Frauen. Sie organisieren Transporte, leisten psychosoziale Hilfe, dokumentieren Kriegsverbrechen – oft in Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften. Und es geht nicht nur um Menschen, sondern auch um das, was zu ihrem Leben gehört: Haustiere, Ziegen, sogar Bienenvölker. Alles wird, soweit möglich, mitgenommen – ein Versuch, wenigstens ein Stück Heimat zu bewahren.
Orte des Lebens
Am Nachmittag fahren wir in das Studentenviertel Podil. Dort zeigt uns das Netzwerk Samosad, wie junge Leute den Stadtteilpark mit Leben füllen. Der Kulturclub ist Treffpunkt, es gibt Sportevents, eine Teestube, Theateraufführungen, Monate im Voraus ausgebucht. Kleine, aber entscheidende Inseln der Normalität, die Gemeinschaft schaffen – Gegenräume zu Trauer, Einsamkeit und Alkohol.
Dann wieder Alarm. Nur ein paar Minuten. Eine junge Frau in der U-Bahn schaut auf ihr Handy. „Heute waren es insgesamt 14 Minuten“, sagt sie beiläufig. Für uns ist es zum vierten Mal während der Reise ein Schockmoment – für sie Alltag seit drei Jahren.
Kurz danach steigen wir in den Bus. Abfahrt am Montagabend, zurück über Nacht. 27 Stunden Fahrt bis nach Leipzig. Zerrissen, aufgedreht, schlaflos. Die Bilder der vergangenen Tage, die zerstörten Häuser, die Ambivalenz zwischen Leben und Tod – Butscha, die Frauen von Skhid SOS, die Musiker unter dem Maidan – sie alle fahren in uns zurück und werden uns noch lange begleiten: zerstörte Häuser, Gesichter der Frauen, die Trauer, Mut und Alltag zugleich verkörpern, die stillen Orte der Erinnerung und die lauten Klänge des Lebens mitten im Krieg.
Nachklang
Wir denken an die Gespräche, an die Orte, an die Hände, die uns geführt haben. Wir spüren, dass nichts, was wir gesehen haben, leicht zurückzulassen ist. Und viele Fragen fahren mit uns: Warum haben wir diese Reise gemacht? Und warum erst so spät? Warum fällt sie so vielen so schwer? Was bedeutet Erinnerung, wenn sie so schmerzt und doch stärkt?
Wir wissen, dass wir zurückkehren in Sicherheit, während dort der Krieg bleibt. Und doch nehmen wir etwas mit: die Stimmen der Menschen, die Bilder der Orte, die Hoffnung jener, die jeden Tag neu beginnen. Vielleicht liegt Hoffnung genau darin – nicht im Vergessen, sondern im Erinnern. Im Wissen, dass aus Begegnung Verantwortung wächst. Und dass Frieden nicht dort anfängt, wo der Krieg endet, sondern wo Menschen sich nicht abwenden.
Zitierweise: Siegbert Schefke und Susanne Tenzler-Heusler, "Nicht abwenden". Eine Brücke aus Leipzig nach Kyjiv. In: Deutschland Archiv, 12.11.2025, www.bpb.de/572433. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Ergänzend:
Wolf Biermann, "Die Moritat von den Liebespaaren im Jahre 2025“, DA vom 15.11.2025
Die studierte Germanistin, Rechts- und Kommunikationswissenschaftlerin Susanne Tenzler-Heusler war von 2002 bis 2009 Pressesprecherin der Leipziger Buchmesse. Seit September 2009 arbeitet sie in ihrer eigenen Agentur „brandvorwerk-pr“ und unterstützt den Buchkinder Leipzig e.V. bei der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.
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