Ein Gespräch mit den ehemaligen Bürgerrechtlerinnen Marianne Birthler und Ulrike Poppe über Verlauf und Folgen der Friedlichen Revolution und des Mauersturzes in der DDR vor über 35 Jahren. Das Interview führte Florentine Schmidtmann.
Florentine Schmidtmann: Lassen Sie uns über die Umbruchszeit 1989/1990 sprechen. Welche Werte fallen Ihnen ein, die für die oppositionellen Bewegungen, in denen Sie beide selbst aktiv waren, Bedeutung hatten?
Marianne Birthler: Obwohl das selten Gesprächsgegenstand ist, fällt mir als Erstes das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ein. Das liegt daran, dass wir zu DDR-Zeiten alle unterprivilegiert waren. Karriere war für niemanden von uns ein Thema.
Ulrike Poppe: Wenn du von wir sprichst ...
Birthler: … meine ich die Oppositionsgruppen. Wir hatten alle wenig Geld, viele haben irgendwo gejobbt, und dadurch war diese Konkurrenz, die man von Männern im Job oder in der Politik erlebt, völlig irrelevant. Die einen arbeiteten im Baubüro, die anderen auf dem Friedhof, weil sie in ihren gelernten Berufen keine Chance mehr hatten. Und das war für Männer und Frauen gleich. Zwar haben die Frauen immer noch den Kaffee gekocht und die Schmalzstullen gemacht, aber ich glaube, im Politischen gab es diesen Unterschied nicht. Das habe ich aber erst gemerkt, als es sich nach 1989 änderte.
Poppe: Die Oppositionellen haben ja ganz bewusst auf Karriere verzichtet. Für uns waren diejenigen, die beruflich in der DDR hochgekommen waren, zwielichtig, weil wir wussten, dass man nur Karriere machen konnte, wenn man sich weit genug anpasste.
Wie kommt man eigentlich in die Opposition? Warum und wofür haben Sie und andere sich engagiert?
Birthler: Manche sind ganz bewusst reingegangen, wussten auch, worauf sie verzichten. Und bei manchen hat sich das so entwickelt. Ulrike und ich finden ja beide, dass Opposition irre Spaß gemacht hat. Wir haben einen Preis dafür bezahlt, in mehrfacher Hinsicht, aber es war ein irres Gefühl sich einig zu sein, die Mächtigen herauszufordern.
Poppe: Wir fühlten uns den angepassten Karrieristen moralisch überlegen. Auch wenn wir sonst nichts vorzuweisen hatten und in alten, verfallenen Häusern wohnten, von denen mein Neffe damals sagte, in solchen Verhältnissen möchte er niemals leben. Und meine Familie war sehr traurig, dass aus mir nichts geworden ist: kein Studienabschluss, kein ordentlicher Beruf, eine ärmliche Lebenssituation. Es war schon nicht so einfach mit diesem gesellschaftlichen Makel. Ich hätte wirklich sehr gerne noch mal studiert, aber ich hatte keine Chance mehr zu irgendeiner Ausbildung. Andererseits konnte ich mich dadurch auch freier fühlen, denn ich hatte ja nichts mehr zu verlieren.
Birthler: Wir waren letztlich auch denen gegenüber überheblich, die in den letzten Jahren der DDR einen Ausreiseantrag gestellt hatten und in den Westen gingen. Unsere Bewegung wurde schwächer mit jedem, der ging. Sie fehlten. Und diese Trauer ist schwer auszuhalten. Das haben wir dann eher in Überheblichkeit umgewandelt. Weil unser Ethos das Standhalten war und nicht das Nachgeben.
Welche Rolle spielt die Familie und das Umfeld auf dem Weg in die Opposition? Gibt es Momente, die Sie kritisch geschärft haben?
Poppe: Meine Eltern haben uns Kinder immer davor gewarnt, in der Schule oder in anderen öffentlichen Einrichtungen über Politik zu reden. Aber zu Hause wurden wir aufgefordert, uns unser eigenes Urteil zu bilden und niemals nachzuplappern, was andere uns vorgaben. Eine Rolle hat auch gespielt, dass wir uns als Jugendliche in der Phase der Selbstfindung am Widerstand gegen den Nationalsozialismus orientiert haben. Und wir suchten uns Vorbilder aus den Befreiungsbewegungen Südamerikas oder Afrikas. Ich erinnere mich an eine Situation, wie ich mit meinem Vater Anfang der 1960er vor dem Fernseher saß und von dem antikolonialen Kampf der Kongolesen erfuhr. Das hatte mich damals stark beeindruckt. Solche Informationen über Freiheitskämpfe in Geschichte und Gegenwart trugen dazu bei, dass wir uns irgendwann entschieden haben, nicht dort mitzumachen, wo wir, nur um des eigenen Vorteils willen, Ungerechtigkeit und Verletzungen erzeugen.
Birthler: Meine Mutter war eher sozialdemokratischer Gesinnung. Sie hat uns oft gesagt: »Kinder, ich schäme mich so, dass ich bei Hitler nicht den Mund aufgemacht habe.« Das war eine wichtige Botschaft. Sie war zwar ein kleines Hasenherz, aber sie wusste, was richtig ist. Auf der anderen Seite hat sie aber gesagt, als ich in der neunten Klasse aus der FDJ ausgetreten bin, was in der DDR eigentlich nicht vorgesehen war: »Nein, Mädel, du redest dich ja um Kopf und Kragen.« Und dann ging ich, ganz im Gegensatz zu dem, was sie sich wünschte, auch noch zur Kirche. Da gab es natürlich andere Einflüsse.
Poppe: Als ich mit 18 Jahren mein Elternhaus verließ und nach Berlin gezogen bin, geriet ich in Kreise, in denen in der DDR verbotene Bücher gelesen und diskutiert wurden. Die haben mein Weltbild auch geprägt. Das war zum Beispiel Jewgenia Ginsburgs »Die Gratwanderung« oder Margarete Buber-Neumanns »Als Gefangene bei Stalin und Hitler«. Was ich überhaupt nicht fassen konnte: dass Stalin Kommunisten an Hitler ausgeliefert hatte.
Birthler: Eins stimmte in diesen unzähligen Kinderbüchern mit Geschichten über von Nazis verfolgte Kommunisten: Die Faschisten waren die Bösen, und die Kommunisten beziehungsweise die, die gegen die Faschisten gekämpft haben, waren die Guten. Und das hat sich mir tief eingeprägt, auch wenn ich nachher manches von diesen sehr einseitigen Bildern korrigieren musste. Vom Widerstand gegen die Nazis war dann der Widerstand gegen Kommunismus nicht grundsätzlich entfernt.
Poppe: Ich habe dann Geschichte studiert und erinnere mich an die Frage eines Studenten im Sowjetunion-Geschichtsseminar: »Warum sprechen wir eigentlich nicht über Stalinismus?« Uns stockte der Atem, weil es diesen Begriff gar nicht gab, nicht geben durfte in der DDR. Und der Professor antwortete ruhig: »Solange unsere sowjetischen Freunde ihre eigene Geschichte nicht aufarbeiten, steht es uns Deutschen nicht zu.« Und sofort kamen uns die 20 Millionen Toten und die deutsche Schuld in den Kopf und niemand sagte mehr etwas. Der 17. Juni 1953 war für meine Eltern ein Trauma. Ich habe noch die Stimme meiner Mutter im Ohr: »Du kannst die Welt nicht ändern. Wir sind hier von der Sowjetunion abhängig.« Die Angst vor den russischen Panzern und der Übermacht, sie saß tief in der Generation unserer Eltern.
Birthler: »Gegen die Russen hat bisher jedes Land den Krieg verloren«, den Satz habe ich auch noch von meiner Mutter im Kopf. Bis heute spielt dieses Gefühl, es ist ja mehr ein Gefühl als ein Gedanke, eine wichtige Rolle in den aktuellen Debatten im Osten.
Im Herbst 1989 gingen immer mehr Menschen auf die Straße. Der sehr kleine und eher vertraute Kreis der Oppositionellen wurde durch die explosive Bewegung geöffnet und vergrößert. Wie hat sich das für Sie angefühlt?
Poppe: Ich erinnere mich an die Aufbruchstimmung im September und Oktober 1989. Als eine der Sprecherinnen von »Demokratie Jetzt«, eine der Bürgerbewegungen 1989, wurde ich in manche Ortschaften zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen. Die Menschen dort haben, gar nicht darauf gewartet, von mir zu hören, welche Gesellschaftsvorstellungen wir in der Bürgerbewegung hegten. Sondern sie diskutierten mit einer ungeheuren Wucht und Entschlossenheit über eine selbstbestimmte Gestaltung ihres Gemeinwesens, ob man den Bürgermeister absetzen sollte oder welche Reformen nötig seien. Was sich da plötzlich für eine Kraft entfaltete in der Basis, das kannten wir bis dahin nicht. Wir wussten, dass es viele gab, die die Faust in der Tasche geballt hielten. Aber, dass sich das auf so konstruktive Weise in Ideen für eine andere Politik äußerte, hat mich doch sehr erstaunt und begeistert.
Birthler: Nach dem erkämpften Fall der Mauer wurde der Zentrale Runde Tisch von der Opposition ins Leben gerufen. Ich werde die große Runde nie vergessen, in der wir alle zusammen überlegten, wer für die Volkskammer kandidieren sollte. Da hat nicht einer »Hier« gerufen. Das ist vielleicht auch noch etwas, das eine bestimmte Haltung aus dieser Zeit wiedergibt: Wir kommen aus einer Kultur des Gerufen-Werdens, und nicht der Kultur des Sich-selbst-Meldens. Man kann es Bescheidenheit nennen, aber auch falsche Bescheidenheit, weil wir nicht gelernt hatten zu sagen: »Das bin ich, das kann ich, und das will ich.«
Poppe: Als wir bei »Demokratie Jetzt« überlegt haben, wer von uns am Zentralen Runden Tisch sitzen könnte, gab es niemanden, der sich dazu bereit zeigte. Wir wollten paritätisch besetzen, aber hatten nur relativ wenig Frauen in der Gruppe, und so habe ich mich überreden lassen. Ich hatte Skrupel, weil ich nicht wusste, ob ich mir das wirklich zutrauen kann. Wir waren misstrauisch gegenüber Macht schlechthin und begriffen erst allmählich, welche politischen Gestaltungschancen darin auch bestehen können.
Birthler: Wir hatten eine Wahlzeitung, die erste Zeitung, die vom »Bündnis 90« herausgegeben wurde. Da gab es eine Überschrift: »Wir wollen nicht die Macht, wir wollen Verantwortung!«. Das zeigt die Absurdität. In den Monaten der Revolution hat sich unsere Haltung allmählich gewandelt. Bei manchen aber nicht. Deswegen sind ja viele den Weg aus der Bürgerbewegung heraus in die Parteien nicht gegangen, weil sie genau an dieser Stelle ihre Vorbehalte hatten. Wir haben unterschiedlich schnell gelernt, so kann man das vielleicht sagen. Die Bescheidenheit trifft aber eigentlich auf alle zu. Als ich das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg aufgebaut habe, konnte ich jeder Bewerbung sofort ansehen, ob sie erstens von einer Frau oder von einem Mann kam und zweitens, ob sie aus dem Osten oder Westen kam. Weil Frauen wie Ostdeutsche in der Bewerbung zu oft sagen, was sie alles nicht können. Da gibt es eine Analogie zur Kultur des Gerufen-Werdens, von der ich gerade sprach. Diese Zurückhaltung war aber auch nicht immer echte Bescheidenheit, da steckte auch ein ganzes Stück DDR-Sozialisation drin, vielleicht auch Angst und Unsicherheit.
Die von Ihnen angeführte Eigenschaft der Bescheidenheit in der DDR hat nicht zu dem dominanten Verhalten in der Bundesrepublik gepasst. Hat Deutschland durch diese ostdeutsche Zurückhaltung bei der politischen Einmischung nicht viele Chancen und Möglichkeitsfenster im Einigungsprozess verpasst?
Poppe: Wir wollten erst mal eine stabile, demokratische und rechtsstaatliche DDR, um dann auf Augenhöhe mit der Bundesrepublik Deutschland über die Modalitäten der deutschen Wiedervereinigung zu verhandeln. Aber andererseits gab es doch Zwänge, vor allen Dingen die massenhafte Abwanderung von jungen und gut ausgebildeten Menschen und viele Unsicherheiten, einschließlich der Möglichkeit, dass Gorbatschow nicht mehr lange an der Macht bleiben könnte. Sie führten zu einem möglichst schnellen Weg mit all den schlimmen Konsequenzen, die diese übereilte und überstürzte Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik hatte. Die Bundesrepublik war Anfang der 1990er Jahre zudem in hohem Maße reformbedürftig.
Birthler: Leider war dieser allmähliche Weg eine Illusion. Mir tut es im Nachhinein ein bisschen weh, wenn ich mir die schlechte Verhandlungsposition der DDR vergegenwärtige. Abgesehen davon, dass die DDR wirtschaftlich und politisch zerrüttet war, verhandelten auf Seiten der DDR Lothar de Maizière und Günther Krause. Zwei Personen, die von uns, also der Opposition, Lichtjahre entfernt waren, die überhaupt nicht wussten, was es heißt, selbstbewusst in die deutsche Einheit zu gehen. Und die waren natürlich leichte Beute in den Händen von Schäuble, Kohl und all den anderen. Diese hatten den Wunsch, dass alles so werden muss, wie im Westen, obwohl es auch im Westen welche gab, die sagten, macht bloß nicht die ganzen Fehler, die wir gemacht haben. Aber diese Stimmen kamen aus der politischen Opposition. Dazu kam, dass die Stimmung in der ostdeutschen Bevölkerung natürlich auf der Seite von Helmut Kohl war. Die haben den Versprechungen geglaubt, und es konnte ihnen nicht schnell genug gehen. Inzwischen waren ganz andere im Osten tonangebend, das waren nicht wir.
Poppe: Man hätte die Rechtsangleichung nicht in einem Wurf vollziehen müssen, sondern bestimmte Strukturen und rechtliche Regelungen noch in der DDR fortbestehen lassen können, zum Beispiel die Gemeindeschwestern, die Dispensaire-Versorgung von chronisch Kranken und anderes im Gesundheitswesen, das nicht so schlecht war, sowie die Erhaltung von Kindertagesstätten und anderen Einrichtungen, die allen Müttern und Vätern eine Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft ermöglichen. Die Rigorosität, mit der sämtliche Strukturen nach den Mustern der Bundesrepublik umgestellt wurden, anstatt sie im Einzelnen erstmal auf den Prüfstand zu stellen, hat viele Menschen mit Reformideen vor den Kopf gestoßen. Andererseits hat es in der DDR-Bevölkerung sicher auch an Mitwirkungswillen und Widerstandskraft gemangelt. Ganze Landstriche waren von Massenarbeitslosigkeit betroffen, was man sozial besser hätte auffangen müssen. Für viele Menschen brach mit dem Verlust des Arbeitsplatzes das ganze soziale Umfeld von heute auf morgen weg.
Birthler: Ein positives Beispiel ist der Umgang mit den Gesetzen zu Schwangerschaftskonflikten. Diesbezüglich hatte man beschlossen, die zwei unterschiedlichen Regelungen zwei Jahre stehen zu lassen, bevor der gesamtdeutsche Bundestag 1992 eine Kompromisslösung aus Ost und West schuf. Warum gab es nicht mehr solcher Moratorien? Damit hätte man auch den Reformbedarf im Westen auffangen und umsetzen können. Auch in der BRD wurde gehofft, dass der Westen sich in diesem Prozess verändern würde. Aber das war von der Regierung nicht gewollt, und auf Ostseite gab es null Widerstand in den Verhandlungen.
Poppe: In einem einzigen Punkt ist den Ostdeutschen eine Durchsetzung gegen den Willen der Westpolitiker gelungen, nämlich was die Stasi-Akten betraf. Mit allen Mitteln, einschließlich der Besetzung der Stasizentrale, konnte erreicht werden, dass die Akten nicht in Koblenz unter Verschluss kamen, sondern in Ostdeutschland blieben. Dann gab es noch die Initiative des »Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder«, eine erste deutsch-deutsche Bürgerinitiative. Ihr Ziel war, eine neue Verfassung für die Bundesrepublik per Volksentscheid zu verabschieden. Die Befassung mit dem Entwurf einer DDR-Verfassung, der von einer Arbeitsgruppe des Runden Tisches ausgearbeitet wurde, ist in der Volkskammer abgelehnt worden. Aber darin enthaltene Ideen flossen in einen gesamtdeutschen Verfassungsentwurf ein, der in breiter Öffentlichkeit zur Diskussion stand. Wahrscheinlich wären in einer neuen Verfassung keine großen Veränderungen gegenüber dem Grundgesetz durchsetzbar gewesen. Aber eine Volksabstimmung und die dazu gehörigen Aussprachen über eine neue Verfassung der Bundesrepublik Deutschland hätte der ostdeutschen Bevölkerung das Gefühl gegeben, über die Gestaltung des Gemeinwesens mit einbezogen zu werden und mitentschieden zu haben. Letztlich hatte sich dann Anfang der 1990er Jahre der Verfassungsausschuss von Bundestag und Bundesrat gegen diesen Weg ausgesprochen.
Birthler: Bei mir löst das immer noch Bitterkeit aus.
Poppe: Es ist nicht mehr rückholbar. Manche haben das noch mal versucht. Es ist wirklich eine verpasste Chance.
Was ist nach 1990 aus der Gruppe der Oppositionellen geworden? Gab es einen Rückzug aus der Politik, erschöpft und desillusioniert?
Birthler: Es gab keinen Rückzug. Erstens waren wir wenige. Viele messen unsere Zahl fälschlicherweise an den Bildern der großen Demonstrationen. Und zweitens werden heute nur diejenigen gesehen, die bundesweit bekannt sind. Es gibt sehr viel mehr Leute aus der früheren Opposition, die jetzt entweder als Bürgermeister oder in Land- und Kreistagen oder aber zivilgesellschaftlich aktiv sind. Ich freue mich auch immer wieder über die Generation meiner Kinder und Enkelkinder. Ich erkenne mich so in ihnen wieder, sie haben eine ganz ähnliche Art, an Dinge heranzugehen und zu beurteilen, obwohl sie nie im »Bündnis 90« oder in der Opposition der DDR waren. Zum großen Teil kommen sie aus dem Westen. Und was ich 1990 als meine Werte bezeichnet hätte, das lebt in vielen von ihnen weiter, und das ist schön. Mir geht das Herz auf, wenn ich sie diskutieren sehe, und mit welchem gegenseitigen Respekt sie das tun. Ganz anders als die Grünen, die ich 1990 im Westen kennenlernte.
Vielen Dank für den Hinweis auf das lokale und zivilgesellschaftliche Engagement, das selten auf der großen Bühne sichtbar ist. Ich glaube, dass es in Deutschland gerade weniger um Ost und West geht, als um die Kluft zwischen Stadt und Land. Da braucht es lokales Engagement und Leute, die dableiben und anpacken. Das ist etwas sehr Wertvolles.
Poppe: Ich will den Optimismus nicht trüben und teile ihn auch. Aber vor einiger Zeit traf ich eine Frau, die nachweislich zu DDR-Zeiten mit der Stasi zusammengearbeitet hatte. Eine relativ prominente Frau, die mit mir einen Kaffee trank und lächelnd sagte: »Weißt du, früher warst du in der Opposition und ich war staatsnah. Und heute bist du staatsnah, und ich bin in der Opposition.« Und das fand sie irgendwie lustig oder war sogar stolz darauf. Ich habe mich etwas erschrocken. Mich erinnert das an diejenigen, die AfD-nah sind und behaupten, sie würden die Revolution 2.0 fortführen und seien das Volk. Ich habe nichts dagegen, dass sie mit dieser Parole auf die Straße gehen und würde es nicht verbieten. Meinetwegen können sie auch mit einem Transparent »Die Erde ist eine Scheibe« demonstrieren. Aber es zeigt doch, dass es bei sehr vielen eine Geschichtsvergessenheit gibt. Und das macht mir Sorgen. Birthler: Da fällt mir noch einmal meine Mutter ein. Wenn meine Schwester und ich aus der Schule kamen und sagten, wie schlimm das im Westen sei, die Arbeitslosen, Obdachlosen und Drogensüchtigen, dann guckte sie uns an und sagte: »Ach Kinder, ihr wisst nicht, wie die Freiheit ist. Da kann man das nicht alles verbieten.«
Marianne Birthler war Bürgerrechtlerin in der DDR, Vertreterin der ersten frei gewählten Volkskammer, Ministerin für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg und Sprecherin vom neuen »Bündnis 90/Die Grünen«. Von 2000 bis 2011 war sie Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (damals abgekürzt BStU).
Ulrike Poppe war Gründungsmitglied des oppositionellen Netzwerks »Frauen für den Frieden« und wurde von der Staatssicherheit verhaftet. Sie war Mitbegründerin der Bürgerbewegung »Demokratie Jetzt«. Nach der Studienleitung an der Ev. Akademie Berlin-Brandenburg wurde sie zur ersten brandenburgischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (LAKD) gewählt.
Zitierweise: Florentine Schmidtmann im Gespräch mit Marianne Birthler und Ulrike Poppe: "Woher kam die Zivilcourage?“, in: Deutschland Archiv, 08.11.2025. Link: www.bpb.de/572451. Erstveröffentlicht in der Oktoberausgabe der Monatszeitschrift "Politik & Kultur" des Deutschen Kulturrats. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Marianne Birthler war Bürgerrechtlerin in der DDR, Vertreterin der ersten frei gewählten Volkskammer, Ministerin für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg und Sprecherin vom neuen »Bündnis 90/Die Grünen«. Von 2000 bis 2011 war sie Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU).
Ulrike Poppe war Gründungsmitglied des oppositionellen Netzwerks »Frauen für den Frieden« und wurde von der Staatssicherheit verhaftet. Sie war Mitbegründerin der Bürgerbewegung »Demokratie Jetzt«. Nach der Studienleitung an der Ev. Akademie Berlin-Brandenburg wurde sie zur ersten brandenburgischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (LAKD) gewählt.
Florentine Schmidtmann ist wissenschaftliche Referentin bei der Stiftung Berliner Mauer. Ihre Schwerpunkte liegen auf der deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte und der Transformationszeit nach 1989.
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