Blankenhain bei Weimar, 12. April 1945. Ein deutscher Zivilist geht amerikanischen Soldaten mit weißer Fahne und Kapitulationsschrift entgegen. (© Quelle: National Archives Washington, 111-SC-39 27 38 / Fotograf: Adrien J. Salvas / Aus: Gerbergasse 18)
Blankenhain bei Weimar, 12. April 1945. Ein deutscher Zivilist geht amerikanischen Soldaten mit weißer Fahne und Kapitulationsschrift entgegen. (© Quelle: National Archives Washington, 111-SC-39 27 38 / Fotograf: Adrien J. Salvas / Aus: Gerbergasse 18)
Am 13. April 1945, dem Tag der Besetzung Jenas durch Einheiten der 3. US-Armee, klingelte um die Mittagszeit ein Junge an der Tür von Bruno Hinze-Reinhold. Der Pianist hatte 1933 auf Druck der Nationalsozialisten in Weimar die Leitung der dortigen Musikhochschule aufgegeben und versuchte zunächst, als freischaffender Künstler in Berlin die Naziherrschaft zu überleben. Ende 1944 war er unter dem Eindruck der ständigen Bombardements der Reichshauptstadt nach Jena geflüchtet. Doch auch hier erlebte er heftige Luftangriffe. Nun wurde ihm in seltsamer Verquickung der untergehenden Diktatur und einer möglichen neuen Zeit das Kriegsende verkündet. Der Junge vor der Tür, wie Reinhold ein Flüchtling, verkündete aufgeregt: „Heil Hitler! Die Amerikaner sind da!“
In diesem Ausruf spiegelt sich die fast schon schizophrene Wahrnehmung vieler Menschen über die Situation am Kriegsende im April 1945 wider: Der Krieg war verloren, das bis zuletzt von vielen Thüringern unterstütze NS-Regime zerbrochen, doch Sprache und Refexe der Diktatur wirkten noch nach.
Zwischen Kapitulation und Neubeginn, zwischen Angst, Hoffnung und Unsicherheit begann für Thüringen eine kurze, dreimonatige amerikanische Besatzungszeit – gefolgt vom Übergang zur sowjetischen Herrschaft, die nach ihrem Übergang in den DDR-Staat über vier Jahrzehnte andauern sollte.
Dem Beginn der amerikanischen Besatzung in Thüringen ging eine kurze Phase des „Krieges vor Ort“ voraus. Bisher als „Evakuierungs- und Bergegau“ genutzt, galt Thüringen lange als sicheres Gebiet innerhalb des Deutschen Reiches. Doch die seit Ende 1944 / Anfang 1945 zunehmenden Bombardierungen der größeren Städte wie Erfurt, Jena, Weimar oder auch Nordhausen zeigten bereits das Gegenteil. So wie die deutsche Luftabwehr den alliierten Angriffen keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte, gab es auch keinen nennenswerten Widerstand gegen die Einheiten der US-Armee am Boden, die Anfang April von Hessen kommend Thüringen erreichten.
Zwar versuchten Aufstellungen des „Volkssturms“ und nur noch wenig organisierte Wehrmachtseinheiten den Vormarsch der Amerikaner zu stoppen, doch beschränkten sich diese Bemühungen meist auf fanatische, militärisch aber sinnlose Verteidigungsaktionen. Sie führten in den letzten Kriegstagen zu unnötigen Opfern wie beispielsweise im Eichsfelder Dorf Struth, wo bei Kämpfen am 7. April 1945 bei der wohl einzigen größeren Auseinandersetzung zwischen US-Armee und Wehrmacht etwa 250 deutsche Soldaten ums Leben kamen. Für die meisten Wehrmachtsangehörigen und Volkssturmleute galt aber, was der im März 1945 noch zum Volkssturm verpflichtete Konrad Mann aus Hermsdorf in seinen Erinnerungen schrieb: „Für uns gab es nur ein Ziel, schnell nach Hause.“
„Der schrecklichste Anblick, den man sich vorstellen kann"
In nur 16 Tagen besetzte die schnell vorrückende US-Armee ganz Thüringen, dessen Bevölkerung sich mehrheitlich zum Aufgeben entschieden hatte. Weiße Fahnen hingen in vielen Orten, in vielen Städten versuchten einzelne Bürger durch Kapitulationsangebote weitere Zerstörungen zu verhindern. Im südthüringischen Schleusingen etwa hissten die Einwohner am 8. April Kapitulationszeichen – wenige Tage später entstandene Fotos zeigen amerikanische Soldaten vor den immer noch flatternden weißen Tüchern.
Doch die US-Soldaten begegneten nicht nur mehr oder weniger bereitwilliger Kapitulation. Thüringen ist für sie das Land, in welchem sie mit den Verbrechen der NS-Herrschaft zuerst und am heftigsten konfrontiert wurden. Auf ihrem Vormarsch erreichten US-Truppen im April 1945 zunächst das KZ-Außenkommando in Ohrdruf, wenige Tage später auch die Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Verhungerte und von den Nazis ermordete Häftlinge, aufgefunden nach der Befreiung des KZ Dora-Nordhausen durch Truppen der US-Armee Mitte April 1945. (© picture-alliance/dpa)
Verhungerte und von den Nazis ermordete Häftlinge, aufgefunden nach der Befreiung des KZ Dora-Nordhausen durch Truppen der US-Armee Mitte April 1945. (© picture-alliance/dpa)
Was sie hier sahen und worüber ihnen von den befreiten Häftlingen berichtet wurde, war anschließend nicht nur Thema in der internationalen Presse, es prägte maßgeblich die Haltung der US-Amerikaner gegenüber den Thüringern in den nachfolgenden Wochen. Es war, so der General der 3. US-Armee George S. Patton, „the most appalling sight imaginable“, „der schrecklichste Anblick, den man sich vorstellen kann“.
Dieser Ausgangssituation entsprechend war die Ankunft der US-Soldaten für viele Einwohner Thüringens mit einer Mischung aus Angst und Neugier verbunden. Zum einen war man neugierig, zum anderen ängstlich, welche unmittelbaren Konsequenzen nun folgen würden. Magarete Döbel aus Martinfeld im Eichsfeld notierte am 8. April in ihrem Tagebuch eher fasziniert: „In langen Kolonnen stehen Fahrzeuge – Menschen und Geräte grau wie der Staub der Landstraße. Männer springen heraus. In lässiger Haltung, große, gutgenährte Gestaltung, Bekleidung eng und doch sportlich. ‚The hunter, the farmer, the cowboy‘, alles in einem: jetzt Herren des Augenblicks, gekommen um die Herrenmenschen von gestern abzulösen.“
Ursula Preiß aus Wiesenthal in der Rhön konzentrierte sich in ihrem Tagebuch hingegen nüchtern auf die ersten Anordnungen der Amerikaner gegenüber der örtlichen Bevölkerung, die hier wie in allen Orten Thüringens nach der Besetzung galten und in der Regel bis zum tatsächlichen Kriegsende am 8. Mai aufrechterhalten wurden: „Alle Waffen, Munition, Brieftauben und Sendegeräte müssen bei Todesstrafe abgegeben werden. Alle Amtsgebäude sowie die Fabriken sind geschlossen. Im Übrigen wird für die Bevölkerung gesorgt – wie vorher auch.“
Demgegenüber stand die ambivalente Haltung der US-Soldaten. Wesley Yale, Soldat in einer Panzereinheit, schrieb aus Oberhof einen Brief an seine Eltern in den USA: „Oberhof […] the scenery around there was extremely beautiful. One couldn‘t help but wonder why these people, who had such a lovely country, wanted to start a war in the first place. Of all the countries that we had gone through we saw nothing to emulate the scenic beauty of this land. And the people, they didn‘t appear to be gullible. Couldn‘t they foresee the uselessness of all this bloodshed? That will always be an enigma to us.“
Vier große „D“: Demokratisierung, Denazifizierung, Demilitarisierung und Dekartellisierung
Das „Rätsel Thüringen“ versuchten die US-Amerikaner auch hier in Richtung ihrer vier großen „D“ zu lösen, die sie vorher als Eckpunkte ihrer Besatzungspolitik festgelegt hatten: Demokratisierung, Denazifizierung, Demilitarisierung und Dekartellisierung. Organisiert in Provisional Military Government Detachments, welche in allen größeren Städten und in Form eines zentralen Militärgouverneurs in Weimar eingerichtet wurden, bearbeitete man in Thüringen die vier großen „D“ im Bewusstsein des baldigen Abzuges aus der bereits definierten sowjetischen Besatzungszone sehr unterschiedlich. Am konsequentesten wurde in Thüringen die Demilitarisierung und die Dekartellisierung betrieben, die Denazifizierung wurde angestoßen, die Demokratisierung blieb weitgehend Theorie.
Hinzu kam eine Aufgabe, die vorher so nicht geplant war: Die Versorgung der Hunderttausenden befreiten Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge sowie der ebenso im Land weilenden und hierher strömenden deutschen Flüchtlinge, Evakuierten und Vertriebenen, deren Zahl ab Mai 1945 rapide zunahm. Schätzungen gehen davon aus, dass sich in Thüringen im Zeitraum zwischen April und Juni 1945 weit mehr als 1,2 Millionen Menschen aufhielten, die nicht aus Thüringen stammten. Die Versorgung und die Unterbringung dieser Massen einerseits und die Organisation ihrer möglichen Heimkehr andererseits bildeten wohl die größte Herausforderung der amerikanischen Besatzungszeit.
Über 200.000 Displaced Persons
Thüringen war 1945 ein Land in Bewegung. Und das in einem Ausmaß, was heute leicht übersehen oder unterschätzt wird. Über 200.000 sogenannte Displaced Persons (DP) – ehemalige Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge – befanden sich nach der Befreiung auf dem Gebiet Thüringens. Sie lebten in Hunderten von improvisierten Lagern, etwa in Schulen, Fabrikhallen oder weiterhin in den Baracken der vormaligen Zwangsarbeits- und Konzentrationslager. Für die amerikanische Militärregierung stand ihre Versorgung im Vordergrund. Ihr oblag es auch, in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, zum Beispiel mit der UNRRA, dem Vorgänger des späteren UN-Flüchtlingshilfswerkes, Essen, medizinische Betreuung und den Rücktransport dieser Menschen in ihre Heimatländer zu organisieren. Hierbei gab es viel Improvisation und Formen der Selbsthilfe, die von den US-Besatzungseinheiten geduldet wurden. Die Bevölkerung jedoch erlebte dies als Herrschaftsumkehr. Nun wurden nicht mehr sie, sondern jene bevorzugt behandelt, die noch vor wenigen Monaten für die Deutschen arbeiten mussten. Für viele Thüringer ein nicht akzeptabler Zustand. Sie kriminalisierten, wie schon zuvor, die sich selbstversorgenden oder in der Behandlung durch die Besatzungsmacht bevorzugten Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge als „Plünderer“ oder „Asoziale“.
Hier wie an anderen Stellen wirkten in der Wahrnehmung der alteingesessenen Bevölkerung rassistische und abwertende Stereotype fort, die man während der NS-Diktatur erlernt hatte. Doch auch gegenüber den über eine Million (deutschen) Flüchtlingen, Evakuierten und Vertriebenen verhielten sich die Thüringer distanziert bis ablehnend. Die Städte und Dörfer waren mit dieser großen Zahl an zusätzlichen Menschen schlicht überfordert; der Streit um Wohnraum, Verpflegung und Zuständigkeiten allgegenwärtig.
Ausgesperrte Flüchtlinge
Aus dieser Überforderung heraus entstand mit zunehmender Verschärfung der Situation ab Mai/Juni 1945 eine starke Ablehnung. So lassen sich aus einer Vielzahl von Orten wütende Schreiben an die zunächst provisorische und ab Juni 1945 an die neue Thüringer Landesregierung finden, in denen ein sofortiger Stopp der Zuweisung von Flüchtlingen gefordert wurde. Manche Städte wurden selbst tätig und verboten etwa durch Plakate an den Ortszugangsschildern das Betreten der Stadt durch Ortsfremde.
Während ein Großteil der Displaced Persons bis zum Besatzungswechsel Ende Juni 1945 das Land verlassen hatte, verblieben sehr viele Flüchtlinge und Vertriebene, vor allem aus den deutschen Ostgebieten, in Thüringen. Im zweiten Halbjahr 1945 und in den Folgejahren kamen weitere Hunderttausende hinzu. Sie prägten den Wandel innerhalb der Thüringer Bevölkerung maßgeblich. Ungefähr jeder vierte Thüringer war bis zum Abschluss dieser „kleinen Völkerwanderung“ ein dann sogenannter „Neubürger“ oder „Umsiedler“ – eine bis heute erstaunlich wenig präsente Erinnerung im Freistaat.
Vertuschen, verdrängen, rechtfertigen
Beim Aufbau der Besatzungsverwaltung stützten sich die US-Amerikaner vorwiegend auf ehemalige Verfolgte des NS-Regimes oder auf als unpolitisch eingestufte Verwaltungsfachleute. Das oft beschriebene „demokratische Labor Thüringen“ blieb somit überschaubar und wurde nach dem Besatzungswechsel durch die neuen sowjetischen Machthaber gemeinsam mit der sich ab 1946 etablierenden Thüringer SED im Schlepptau schnell und weitgehend liquidiert.
Der nebenstehende Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung der Geschichtswerkstatt Jena der Thüringer Aufarbeitungszeitschrift "Gerbergasse 18", Heft 3/2025 entnommen.
Der nebenstehende Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung der Geschichtswerkstatt Jena der Thüringer Aufarbeitungszeitschrift "Gerbergasse 18", Heft 3/2025 entnommen.
Die Gruppe der meist direkt nach der Besetzung von Ortschaften eingesetzten neuen Bürgermeister war in ihrer Zusammensetzung noch heterogen. Es befanden sich, so wie in Nordhausen und Weimar, überlebende KZ-Häftlinge darunter, an anderer Stelle wie beispielsweise in Arnstadt oder Erfurt übernahmen zunächst Kommunalbeamte oder Geschäftsleute die Leitung der Städte und Gemeinden. So unterschiedlich ihre politische Sozialisation und Mitträgerschaft im NS-Regime war, so unterschiedlich war ihre Haltung zu der von den Amerikanern in Thüringen angestoßenen Entnazifizierung. Diese begann vielfach mit Entlassungen, Verhaftungen und Anzeigen – vor allem gegen ehemalige NS-Funktionäre und Kommunal- sowie Staatsbeamte, die zuvor wichtige Funktionen innehatten. In einigen Städten wurden die Verhafteten kurzzeitig vor Ort interniert und später in das zentrale Internierungslager der US-Armee im hessischen Ziegenhain verbracht.
Den Verhaftungen und Entlassungen versuchte man sich – häufig noch nach der Besetzung – durch Flucht oder das Vertuschen von Sachverhalten zu entziehen. Hierbei halfen in nicht wenigen Fällen die kurz zuvor von den Besatzungsbehörden neu eingesetzten Bürgermeister oder andere Beamte. So forderte der neu eingesetzte Landrat in Arnstadt seine Mitarbeiter im April 1945 auf, alle belastenden Dokumente möglichst umgehend zu verbrennen. Der neue Sanitätsrat für Erfurt und Umgebung sah sich noch im Juni 1945 veranlasst, die ihm unterstellten Ärzte auf das Verbot des Entfernens von eintätowierten Blutgruppenbezeichnungen hinzuweisen. Solche Tätowierungen trugen SS-Angehörige und konnten hieran durch die Besatzungsmacht leicht identifiziert werden.
Neben solchen aktiven Vertuschungsversuchen dominierte die Verdrängung oder die Rechtfertigung gegenüber der eigenen Rolle während der NS-Zeit. Nicht nur in späteren Erinnerungen, sondern bereits in Dokumenten aus dem April und Mai 1945, heißt es: „Nichts gewusst!“ – eine Haltung, die für Jahrzehnte typisch und auch in Thüringen prägend werden sollte. Die sonstigen Aktivitäten der Besatzungsverwaltung hinsichtlich der Entnazifizierung blieben sehr begrenzt. Zwar wurden in Thüringen die allseits bekannten Fragebögen der Military Government of Germany ausgeteilt, ihre Auswertung und die daraus folgenden Konsequenzen überließ man aber der nachfolgenden sowjetischen Besatzungsmacht. Nur vereinzelt und auf Initiative einzelner Besatzungsoffiziere kam es zu Reeducation-Maßnahmen. Diese folgten allerdings keinem übergreifenden Ziel, sondern eher persönlichen Anschauungen. In Apolda beispielsweise versammelte der dortige Stadtkommandant am 11. Mai 1945 die Stadtbevölkerung zu einem Vortrag über gute Kindeserziehung nach christlichen Wertevorstellungen. Hinterher berichtete er über den Erfolg seiner Veranstaltung als Teil der allgemeinen Reeducation.
"Organisieren" und die Suche nach Normalität
Demgegenüber standen der Besatzungsalltag und die alltägliche Begegnung mit den US-amerikanischen Soldaten. Die elf Wochen der amerikanischen Besatzungszeit waren einerseits von Mangel und Improvisation, andererseits von einer erstaunlich gut weiterlaufenden staatlichen Verwaltung geprägt. Die Lebensmittel blieben knapp und rationiert, die Versorgung funktionierte nur eingeschränkt. Viele Menschen lebten vom Tauschhandel und vom „Organisieren“ – ein Begriff, der die Grauzone zwischen Plündern und Überleben ausdrückte und mit dem sich die Thüringer von aus ihrer Sicht kriminellen Handeln der befreiten Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge abheben wollten, obwohl beide das gleiche betrieben.
Neben dem alltäglichen Kampf um Versorgung suchten die Menschen nach Normalität. Es gab bereits ab Mai 1945 wieder erste Kulturveranstaltungen wie Kino- oder Theateraufführungen, wohingegen öffentliche Versammlungen noch verboten blieben. Eine neue wichtige Rolle kam den Kirchen zu. Aus vielen Orten wird über die sehr gut besuchten Gottesdienste berichtet. Für viele war die Kirche in den ersten Wochen nach der Besatzung ein Ort der Orientierung. Dies galt insbesondere für die Flüchtlinge und Vertriebenen, die hier zusammenkamen und sich austauschen konnten. Für die im protestantischen Thüringen eher marginalisierte katholische Kirche stellte dies eine große Chance dar, denn die Flüchtlinge und Vertriebenen gehörten anders als die einheimischen Protestanten mehrheitlich der katholischen Konfession an.
Verbotene „Fraternisierung“
Die Begegnung zwischen amerikanischen Soldaten und der thüringischen Bevölkerung war von Ambivalenz geprägt. Offiziell untersagte die Militärregierung jedwede „Fraternisierung“: Soldaten sollten keinen privaten Kontakt zu Deutschen haben, weder Freundschaften noch Liebesbeziehungen waren gestattet. Viele der US-Soldaten hielten sich auch aus Überzeugung an dieses Verbot. Für sie waren die Deutschen Täter, Mittäter oder zumindest Mitwisser entsetzlicher Verbrechen – mit ihnen wollte man nichts zu tun haben. Doch im alltäglichen Umgang gab es zahlreiche Kontaktflächen, die das Verbot relativierten. Viele damalige Kinder erinnern sich noch heute an die spendablen GIs in den Tagen und Wochen nach der Besetzung. In ihren späteren Erinnerungen finden sich ausnahmslos Schilderungen von geschenkter Schokolade, Kaffee oder Keksen. Viele berichten von ihrem Streit mit den Eltern, die eine Entgegennahme dieser Geschenke zunächst verbieten wollten, später aber die Kinder gezielt losschickten, um noch mehr Lebensmittel auf diese Art zu akquirieren. Auch für Thüringen gibt es deutsche und amerikanische Berichte von den „sex starved soldiers“ einerseits und den „leichten deutschen Mädchen“ andererseits. Wie ausgeprägt diese Formen der Beziehungen waren, lässt sich schwer beurteilen. Es hat sie jedenfalls gegeben, und in einigen wenigen dokumentierten Fällen führten sie auch dazu, dass Thüringerinnen gemeinsam mit US-Amerikanern Ende Juni 1945 das Land verließen.
Eine weitere große Rolle spielten im Besatzungsalltag Gerüchte. Angesichts einer fast vollständig zusammengebrochenen Informationsstruktur waren Gerüchte neben den nur spärlich erscheinenden städtischen Mitteilungsblättern die einzige Möglichkeit, sich auf dem Laufenden zu halten. Den damit verbundenen zahlreichen Fake-News des Frühjahrs 1945 versuchten sowohl Amerikaner als auch die deutsche Verwaltung entgegenzuwirken. Im Juni 1945 warnten durchgängig alle Mitteilungsblätter und die in Thüringen als erste Zeitung neu erscheinende „Hessische Post“, dass das Verbreiten von Gerüchten unter schwere Strafe gestellt sei. Während sich Gerüchte bis dahin vor allem überregional mit dem tatsächlichen Kriegsende, der Möglichkeit der Heimkehr und regional mit neuen Versorgungsmöglichkeiten oder der Inbetriebnahme von stillgelegten Eisenbahnstrecken beschäftigten, betrafen sie spätestens ab Juni 1945 den unmittelbar bevorstehenden Besatzungswechsel, der allgemein mit Bangen erwartet wurde.
„We take the brain“
Zwei Wochen vor dem Besatzungswechsel begannen die US-Amerikaner unter Mithilfe der im Mai 1945 gebildeten Field Information Agency, Technical (FIAT) ganze Betriebe mit Maschinen und Unterlagen inklusive der dazugehörigen Wissenschaftler und Ingenieure in den Westen zu bringen. Dies betraf vor allen Dingen die Zeiss-Werke in Jena, aber auch andere im Bereich des Maschinenbaus und der Rüstungsindustrie spezialisierte Firmen. Insgesamt wurden rund 1.500 Fachleute, zusammen mit ihren Familien und umfangreichem Material, abtransportiert. In Jena erklärte ein US-amerikanischer Offizier gegenüber einem leitenden Firmenmitarbeiter die kurzfristige Aktion ebenso kurz wie nüchtern: „We take the brain.“
Am 21. Juni 1945 kündigte der US-Präsident Dwight D. Eisenhower den bevorstehenden Abzug der Amerikaner aus Thüringen an, doch erst am 29. Juni erhielten die Besatzungstruppen in Thüringen konkrete Befehle. Ab dem 1. Juli begann der schrittweise Rückzug der US-Armee aus Thüringen. Seit dem 2. Juli, 0.00 Uhr, galt Thüringen offiziell als sowjetisches Besatzungsgebiet. Die Rote Armee folgte den US-Amerikanern in nur wenigen Kilometern Abstand. Beide sollten eigentlich nicht aufeinander treffen, was in Orten wie Weimar aber dennoch geschah.
Am 9. Juli war auch Südthüringen vollständig von sowjetischen Truppen besetzt. Damit endeten die elf Wochen amerikanischer Besatzungszeit, und es begann für Thüringen eine neue Phase, die weit folgenreicher werden sollte. Der Einmarsch der sowjetischen Armee bedeutete nicht nur einen technischen Machtwechsel, sondern den Beginn einer grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Umgestaltung. Während die Amerikaner Verwaltung und Politik eher provisorisch organisiert hatten, traten die sowjetischen Behörden mit einem klaren Programm auf: Entnazifizierung, Demontage und Umgestaltung mit der Maßgabe, eine Diktatur nach dem Vorbild der Sowjetunion zu errichten. Die wieder neu entstandenen Parteien wurden erneut unterdrückt und die SPD 1946 mit der KPD zur SED zwangsvereinigt. Lokale Verwaltungen und Landesregierung blieben zunächst bestehen, doch ihre Handlungsmöglichkeiten wurden immer stärker eingeschränkt.
Eine neue Diktatur
Für die Bevölkerung brachte die sowjetische Besatzung neue Erfahrungen. Hauptsächlich verbanden die Menschen die Rote Armee mit Angst – Berichte über neue Plünderungen und Gewaltexzesse sind zahlreich, ebenso die über Willkür bei der Verfolgung vormaliger Nationalsozialisten wie auch anderer politischer Gegner. Als eine ihrer ersten Aktionen funktionierte die sowjetische Besatzungsmacht das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald in eines ihrer neuen Speziallager um.
Auf der anderen Seite eröffneten Maßnahmen wie die „Bodenreform“ oder der Ausbau von Bildungsmöglichkeiten – immer unter den Bedingungen eines autokratischen Regimes – neue Perspektiven für Teile der Gesellschaft, insbesondere für die in Thüringen ankommenden Vertriebenen.
Im Rückblick markiert der Sommer 1945 für Thüringen den Beginn einer über vierzigjährigen Zugehörigkeit zur sowjetischen Einflusssphäre. Damit stand das Land exemplarisch für die Teilung Deutschlands – und Europas. Die US-Amerikaner hatten sich zuvor still, aber honorig von den Thüringern verabschiedet. So schrieb der bis zum 2. Juli 1945 als Militärkommandant Erfurts amtierende US-Offizier Walter Voegele dem Oberbürgermeister Otto Gerber einen Abschiedsbrief. In diesem betonte er: „Thanks to you, the United States of America is leaving this territory and your City with a feeling of just accomplishment.“