Dokumentation: Späte Genugtuung
Die Rehabilitierung der Emma Goldacker
64 Jahre nach ihrer Verurteilung durch ein NKWD-Gericht erfährt Emma Goldacker, dass die Russische Generalstaatsanwaltschaft sie rehabilitiert hat. 1945 war sie zu 10 Jahren Besserungslager verurteilt worden. Eine Dokumentation der Rehabilitierungsbescheinigung und verschiedener Prozessdokumente.Vorgeschichte
Ende Oktober 2009 erschienen in den Medien[1] Informationen, dass die Dokumentationsstelle Widerstands- und Repressionsgeschichte in der NS-Zeit und SBZ/DDR der Stiftung Sächsische Gedenkstätten demnächst eine Internetseite eröffnen würde. Dort sollten Namen zu finden sein von 10.091 Bürgern, die durch die sowjetischen Militärbehörden nach 1945 zu Unrecht verurteilt wurden. Diese seien durch russische Behörden nunmehr rehabilitiert worden.Das erweckte das Interesse des Verfassers, der eine Person kannte, die 1945 durch ein Gericht des sowjetischen Geheimdienstes NKWD verurteilt worden war. Die Recherchen auf der Webseite der Dokumentationsstelle www.dokst.de, die am 16. November 2009 eröffnet wurde, führte sofort zum Erfolg:
Emma Goldacker, geboren 1919 – das war sicher meine Schweizer Briefpartnerin Emmy Attinger-Goldacker. Sie war 1945 verhaftet und verurteilt worden.
Die Bekanntschaft mit Emmy Attinger-Goldacker hatte im Jahre 2001 begonnen. Im Juli des Jahres stand eine ältere Dame an dem Gartentor unseres Grundstückes in Dessau und fragte etwas unsicher, ob sie einmal herein kommen könnte. Sie sei mit ihrem Mann auf der Durchreise von der Schweiz nach Berlin, und dieses Haus sei ihr Elternhaus gewesen. Ihr Vater, Paul Goldacker, hätte in den 1920er-Jahren dieses Haus für seine Familie erbaut. Sie würde gern Haus und Garten wiedersehen.
Emmy Attinger-Goldacker konnte nicht wissen, dass wir über den Namen Goldacker und über die Geschichte dieses Hauses sehr gut informiert waren. Paul Goldacker hatte damals in dem I. G. Farben-Werk Filmfabrik Wolfen gearbeitet, und ich war 29 Berufsjahre mit der Filmfabrik Wolfen verbunden gewesen. Zu einem weiteren Treffen zwei Tage später kam auch der Archivar der Filmfabrik Wolfen, Manfred Gill, hinzu. Dieser hatte ein Bündel Akten mitgebracht: die Personalakte von Dr. Paul Goldacker und ergänzende Schriftstücke.
Bereits etliche Jahre zuvor hatten wir mit der Dessauer Moses-Mendelssohn-Gesellschaft e. V. zusammengearbeitet, welche die Geschichte der Juden in Dessau erforscht und aufbereitet. In der Broschürenreihe des Vereins hatten wir eine Arbeit veröffentlicht, welche sich mit den Schicksalen von jüdischen (und auch jüdisch verheirateten) Wissenschaftlern in der Filmfabrik Wolfen nach 1933 befasst.[2] Im Archiv der Filmfabrik Wolfen existieren noch zahlreiche Akten, die eine solche Arbeit möglich machten.
So wussten wir, dass Emmy Goldacker 1919 in Dessau geboren worden war und ihr Vater 1926/27 dieses Haus erbaut hatte. Paul Goldacker wurde 1928 aus dienstlichen Gründen zum Agfa-Werk nach Berlin-Treptow versetzt. Er verkaufte das Haus an die Filmfabrik Wolfen. Seine Ehe wurde 1931 geschieden. Mit seiner zweiten – jüdischen – Frau zog er wieder nach Dessau, einem bevorzugten Wohnort für Akademiker, die in Wolfen oder Bitterfeld arbeiteten, als er wieder nach Wolfen versetzt wurde. 1938 flüchtete er mit seiner Frau nach Palästina. Zudem existieren Akten, welche die wirtschaftliche Lage der ersten Ehefrau mit ihren drei Kindern (darunter Emmy) dokumentieren, nachdem Versorgungszahlungen von Paul Goldacker aus Palästina zunächst ausblieben.
Emmy Attinger-Goldacker war von den Akten beeindruckt, da sie viele Sachverhalte aus der Personalakte gar nicht kennen konnte. Sie berichtete aus ihrem Leben.[3] Ihre Mutter hatte es natürlich mit den drei Kindern nicht leicht. Deshalb war Emmy stark um ihre Ausbildung bemüht, lernte Sprachen und fand eine Anstellung im I. G.-Werk in Berlin-Lichtenberg. Dort war sie im Büro von Paul Schlack, dem Erfinder der synthetischen "Perlon"-Faser mit Übersetzertätigkeiten beschäftigt. 1942 wurde sie wegen ihrer Sprachkenntnisse als Zivilangestellte in das Reichsicherheitshauptamt (RSHA) dienstverpflichtet. Emmy Goldacker war in der RSHA-Dienststelle in der Berkaer Straße beschäftigt. Chef der dortigen Struktureinheit Amt VI (Geheimdienste und Abwehr) war damals Frank Walter Schellenberg, der 1949 im sogenannten "Wilhelmstraßenprozess" des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg zu sechs Jahren Haft verurteilt werden sollte. Dort erhielt sie eine Ausbildung für eine Auslandstätigkeit. Während des Zweiten Weltkrieges wurde sie als Sekretärin an das Deutsche Konsulat in Istanbul gesandt. Neben allgemeinen Sekretariatsarbeiten war sie für die Radiofunkverbindung zum Amt VI des RSHA zuständig, sie chiffrierte und sandte die vom Konsul empfangenen und gekürzten Nachrichten per Funk nach Berlin. Es ergab sich dabei ab und zu, dass Emmy Goldacker Agenten traf, die ihr Nachrichten für den Konsul gaben. Die von ihr verrichtete Arbeit im Japanischen Konsulat in Wien beschränkte sich ausschließlich auf das Hören und Übersetzen englischer Nachrichten. Niemals war sie als Spionin tätig.
Nach dem Kriege versuchte sie einen neuen Start und begann eine Ausbildung als "Neulehrerin". Ihre berufliche Vergangenheit holte sie jedoch ein. Sie wurde denunziert und von sowjetischen Soldaten festgesetzt. Es folgten Verhöre in russischer Sprache mit mangelhafter Übersetzung in verschiedenen Haftanstalten und im September 1945 eine Verurteilung zu zehn Jahren Zwangsarbeit. Die gesamte Haftzeit hat Emmy Goldacker in verschiedenen Lagern im hohen Norden Russlands verbringen müssen. Ihre Erfahrungen dort hat sie in dem Buch "Der Holzkoffer – Leben und Überleben in sowjetischen Lagern" (Hameln 1982)[4] niedergeschrieben und einer breiteren Öffentlichkeit unter anderem in einer Sendung im Südwestdeutschen Rundfunk über die letzten deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion unter dem Titel "Zum Tode verurteilt und zum Leben gezwungen", an der auch Günther Wagenlehner beteiligt war, darüber berichtet.[5] Zudem hat Emmy Attinger-Goldacker die Kraft aufgebracht, nach dem politischen Wandel in der ehemaligen Sowjetunion zusammen mit ihrem Mann Orte in Sibirien zu suchen, an denen sich ähnliche Lager befanden, wie diejenigen im hohen Norden, in denen sie damals die langen Haftjahre verbringen musste. Sie war mehrmals in Moskau, hat dort neue Freunde gefunden, etwa bei der Organisation "Memorial". Diese halfen auch, ihr Buch "Der Holzkoffer" für eine Veröffentlichung in russischer Sprache vorzubereiten.[6]
Bei der Buchpräsentation im Jahre 2005 kam es zu regen Diskussionen, doch eine Aufhebung des Urteils von 1945 oder gar eine ideelle Wiedergutmachung waren hierbei kein Thema. Dabei waren bereits Rehabilitierungen bei Unrechtsurteilen sowjetischer Militär- bzw. Geheimdienstgerichte vorgenommen worden. Die Möglichkeit dazu hatte ein russisches Gesetz eröffnet, das bereits im Jahre 1991 in Kraft getreten war. Danach konnten Opfer der politischen Repressionen einen Antrag auf Rehabilitierung stellen. Doch wenn das nicht einmal in Deutschland allgemein bekannt war, wie sollte dann ein im Ausland lebendes Opfer davon erfahren haben?