Positionen einer europäischen Erinnerungspolitik
Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen, Flucht und Vertreibung, die Sowjetisierung Ostmittel- und Osteuropas, wirken im Gedächtnis der europäischen Völker und Nationen nach und beeinflussen die Suche nach der politisch-historischen Identität insbesondere in den Staaten des früheren Sowjetimperiums.Sammelrezension zu:
- Hans-Henning Hahn, Robert Traba (Hg.): Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 3: Parallelen, Paderborn u.a.: Schöningh 2012, 490 S., € 58,–, ISBN: 9783506776418.
- Anna Zofia Musioł: Erinnern und Vergessen. Erinnerungskulturen im Lichte der deutschen und polnischen Vergangenheitsdebatten, Wiesbaden: VS 2012, 311 S., € 39,95, ISBN: 97833531183312.
- Stefan Troebst, Johanna Wolf (Hg.): Erinnern an den Zweiten Weltkrieg. Mahnmale und Museen in Mittel- und Osteuropa (Schriften des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität; 2), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011, 272 S., € 20,–, ISBN: 9753865835482.
- Gerhard Besier, Katarzyna Stokłosa (Hg.): Geschichtsbilder in den postdiktatorischen Ländern Europas. Auf der Suche nach historisch-politischen Identitäten (Mittel- und Osteuropastudien; 9), Berlin: LIT 2012, 185 S., € 19,90, ISBN: 9783643102300.
- Zsuzsa Breier, Adolf Muschg (Hg.): Freiheit, ach Freiheit … Vereintes Europa – Geteiltes Gedächtnis, Göttingen: Wallstein 2011, 247 S., € 16,90, ISBN: 9783835309555.
Deutsch-polnische Erinnerungsorte

In ihrer Einleitung verweisen die Herausgeber, die Osteuropahistoriker Hans-Henning Hahn (Oldenburg) und Robert Traba (Warschau), auf die methodischen und historischen Grundlagen für ihr ambitiöses Unternehmen, indem sie ebenso an Pierre Noras "Lieux de mémoire" als auch an Maurice Halbwachs' Arbeiten zum kollektiven Gedächtnis erinnern. Die sich nach 1945 herausbildende Erinnerungskultur sei ein "System des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppierung". Ein solches Gedächtnis sei ein Artefakt, das Erinnerungsorte als realhistorische wie auch als imaginierte historische Phänomene in vergleichbarer Hinsicht zu Gegenständen einer historiografischen und kulturgeschichtlichen Analyse mache. Umgesetzt wird das 2006 aus der Taufe gehobene Projekt von zwei Instituten: dem Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaft und dem Institut für Geschichte (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg). In methodischer Hinsicht beruft es sich auf die Abhandlungen von Klaus Zernack zur ostmitteleuropäischen Beziehungsgeschichte (vgl. seine Monografie "Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte"). Auf der Grundlage dieser transnationalen Analyse entstand auch das Konzept derjenigen deutsch-polnischen Erinnerungsorte, die bislang noch nicht in das systematisch-vergleichende Visier der (Kultur-)Historiker fielen.
Die insgesamt 22 Beiträge, von jeweils einem bzw. zwei Autoren verfasst, sind nach einem Prinzip mit da und dort abweichenden Varianten aufgebaut. Einer einführenden Beschreibung der zu vergleichenden Topoi, die getrennt oder auch mit vergleichenden Aspekten abläuft, folgt eine ausführliche Darstellung der beiden Gegenstände und der damit verbundenen Begründung für die engen realen oder auch imaginierten Verbindungslinien zwischen ihnen.
Besonders überzeugend ist die Darlegung auf den ersten Vergleichsfeldern, dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation (vom Mittelalter bis 1806) und der polnisch-litauischen Rzeczpospolita (zwischen 1500 und 1795); Kresy und Deutschem Osten, der spannende Vergleich der Entstehung und Herausbildung der polnischen Grenzgebiete, der Kresy von Lettland bis zur Ukraine, und dem imaginierten Begriff "Deutscher Osten" unter dem Stichwort "Vom Glauben an die historische Mission". Ebenso hervorzuheben ist der Beitrag zu den beiden Begriffen "Targowica" und "Dolchstoß". Verrat, Illoyalität und Schuldzuweisung, je nach politischer Relevanz, sind auch in der deutschen und polnischen Geschichte stetige Wirkkräfte gewesen. Doch die vergleichende Betrachtung und die Analyse von zeitlich stark verschobenen Ereignissen und imaginierten Phänomen erweist sich umso schwieriger, als Akteure aus unterschiedlichen Völkern in der Entscheidungsfindung bei der Schuldzuweisung angesichts nationaler Katastrophen sich ähnlicher Argumentationsmuster bedienen. Der eine Topos, die Konföderation von Targowica, ein Abkommen eines Teils der polnischen Magnaten mit der Zarin Katharina II., am 27. April 1792, in St. Petersburg unterzeichnet, entwickelte sich in seiner historischen Ausdeutung zu einem Inbegriff des Verrats an der polnischen Nation und beförderte den Prozess der Aufteilung Polens. Der andere Topos rankte sich um die Dolchstoßlegende, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von der deutschen nationalistischen Rechten gegen die sozialdemokratischen "Verräter" mit Philipp Scheidemann an der Spitze inszeniert wurde. Doch mehr als 200 bzw. fast 100 Jahre danach würde, so Peter Oliver Loew, die negative Bedeutung des "Verrats" allmählich seine Wirkung verlieren und seine nationalen Bezugsrahmen verlassen.
Ebenso spannend ist der Vergleich der Wirkungsgeschichte großer nationaler Idole, die in der Kulturgeschichte ihrer jeweiligen Länder eine mehr oder weniger uneingeschränkte Anerkennung finden. Sind sie, wie sie Heinrich Olschowsky in seiner Betrachtung der Wirkungsgeschichte Johann Wolfgang von Goethes und Adam Mickiewicz' bezeichnet, "poetische Gesetzgeber des kulturellen Kanons"? (217) Olschowskys mit vielen eindrucksvollen Beispielen belegte Rezeptionsgeschichte weist die wesentlich unterschiedliche anerkennende Resonanz der Dichter in ihren jeweiligen nationalen Kulturen nach. Erst die Epochenwende von 1989/90 habe auch in Polen das messianisch überhöhte Bild des Nationaldichters Mickiewicz mit anderen Akzenten versehen, ein Wandel, der im Hinblick auf die Goethe-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland mit der Klassiker-Demontage bereits in den 1970er-Jahren einsetzte und nach dem Ende des kulturpolitisch funktionalisierten Goethe-Kults in der DDR nunmehr eine institutionell abgesicherte Figur des kollektiven Gedächtnisses geworden sei.
Der mit einer stattlichen Liste von vergleichenden Erinnerungsorten aufwartende Band beschäftigt sich u.a. mit den beiden so unterschiedlichen Nationalhymnen, analysiert die Paulskirchenverfassung von 1848 und die polnische Verfassung 1791, seziert die Strukturen der Überwachungsbehörden Stasi und Ubecja (Amt für Öffentliche Sicherheit), dekonstruiert die deutschen und polnischen Fussballmythen und begibt sich sogar in die "Niederungen" der motorisierten Sehnsucht, in denen der Polski Fiat 126p mit dem Trabant verglichen wird. Die damit geleisteten Erinnerungsdiskurse sind historisch fundiert, komparativ "abgefedert", enthalten wertende Resümees und zahlreiche Literaturverweise. Ein Fundament legendes Werk, das mit den noch 2012 folgenden Bänden I und II die gegenwärtig noch sehr lückenhafte deutsch-polnische Erinnerungslandschaft verdichten wird.