Antikommunismus zwischen Wissenschaft und politischer Bildung
Bundeszentrale für Heimatdienst und Ostkolleg
Die frühe Arbeitsphase des Ostkollegs


In beiden Texten wird nichts über die Konzeption des OK ausgeführt, stattdessen wird die wissenschaftliche Eigenverantwortung des Direktoriums, das zunächst aus zehn Mitgliedern besteht[73], und somit seine weitgehende Autonomie für die Programmplanung hervorgehoben. Die Programme der Studientagungen zeigen bereits in den Anfangsjahren, dass der Anspruch, eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis des Kommunismus zu betreiben, in einer bemerkenswerten Weise eingelöst werden konnte.
Das Spektrum war so pluralistisch, wie es die beiden Protagonisten Bochenski und Lieber signalisieren: der eine als Ratgeber der Bundesregierung im KPD-Prozess, der andere als Herausgeber einer bundesdeutschen Marx-Ausgabe, die seit 1960 erscheint. Lieber wird der erste geschäftsführende Direktor des Hauses (diese Funktion wechselt im Jahresturnus und wird durch Wahl innerhalb des Gremiums bestimmt). Erster hauptamtlich beschäftigter, für die konkrete Programmplanung und die Einladungsaktivitäten zuständiger Studienleiter wird der vom BMI ernannte Rudolf Wildenmann[74], den 1959 der Osteuropahistoriker Karl-Heinz Ruffmann (bis Ende1961) ablöst, der bei der Profilierung des OK eng mit Hans-Joachim Lieber kooperiert.
Obwohl im Hinblick auf den Marxismus von konträren Positionen ausgehend, vertreten Lieber und Bochenski, der ihm 1959 nach Günther Stökl als dritter geschäftsführender Direktor nachfolgt, für das Ostkolleg gemeinsam eine Konzeption, die als Ziel die Immunisierung der intellektuellen und politischen Eliten der Bundesrepublik gegen die kommunistischen Ideen durch aufklärende Information verfolgt und diese auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen trachtet. So erklärt sich auch der institutionelle Rahmen des Ostkollegs mit der starken Stellung eines wissenschaftlichen Direktoriums, dem in der Frühzeit mit Gerhard von Mende[75] auch eine vormals massiv in die NS-Politik verstrickte Person "eines undurchschaubaren Intellektuellen und Strippenziehers im Kalten Krieg"[76] angehörte. Obwohl von Mende in den beiden ersten Jahren noch häufig als Referent an Tagungen des OK mitwirkte, hatte er auf die programmatische Ausrichtung und Wissenschaftskonzeption des Ostkollegs keinen nachweisbaren Einfluss. Dass er im Direktorium isoliert war, zeigt auch der Umstand, dass ihm die Position eines geschäftsführenden Direktors versagt blieb.
Die Programme des Ostkollegs hatten thematische Kerne (Geschichte, Ideologie, Herrschaftssystem, Wirtschaft, Außenpolitik der Sowjetunion), die in vier bis fünf Einheiten umfassenden "Grundvorlesungen" behandelt wurden. Diese wurden durch variable Themenaspekte ergänzt, zusätzlich wurden Beiträge zur geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in die Tagungsprogramme einbezogen. Eine Auswertung der Programme für die zehn ersten Tagungen im Ostkolleg[77] zeigt, dass neben den Kernthemen und wechselnden Einzelthemen (wie Rechtssystem, Erziehungssystem, Kirchen, Nationalitäten in der Sowjetunion, "Satelittenstaaten", China) meist abschließend und kontrastierend über "Die weltpolitische Lage" (Theodor Schieder), "Europa zwischen Ost und West" (Walter Hofer) oder das Thema "Der Geist des Abendlandes und das Menschenbild des Kommunismus" (Theodor Litt) referiert wurde. Auch die beiden für die 1955 gegründete Schule des Bundesamtes für Verfassungsschutz zuständigen Beamten Günther Nollau ("Die internationale Zusammenarbeit der kommunistischen Parteien") und Heinrich Degenhardt ("Die Methoden der kommunistischen Politik in der Bundesrepublik") kamen – allerdings nur in den Anfangsjahren – häufiger im OK zu Wort. Prominente Teilnehmer der ersten Tagungen waren beispielsweise Hermann Pörzgen ("FAZ"), Reinhard Appel ("Stuttgarter Zeitung"), Franz Herre ("Rheinischer Merkur") sowie mehrere Bundesrichter.
Über die Aktivitäten des Ostkollegs in den ersten vier Jahren gibt ein Bericht Aufschluss, den Karl-Heinz Ruffmann, der zu diesem Zeitpunkt seine Funktion als Studienleiter des Ostkollegs aufgab, um den neu gegründeten Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen zu übernehmen, Ende 1961 vorlegte.[78] Bis dahin hatten 123 Studientagungen im Kölner Haus und vier auswärts stattgefunden, darunter waren 96 "Normaltagungen" (für die seit 1960 der Begriff "Studientagungen" eingeführt wurde), zehn Kurztagungen für Wirtschaftler und Journalisten (Dauer: dreieinhalb Tage), fünf Sondertagungen für Verwaltungsjuristen (Dauer: 14, dann zehn Tage, darin eine mit Schwerpunkt DDR), drei Sondertagungen für Pädagogen, drei West-Ost- und vier Aufbautagungen (für qualifizierte Teilnehmer aus den Grundtagungen, erstmals 1961 durchgeführt). "Auf den Normaltagungen (Dauer: eine Woche, Teilnehmer: Angehörige verschiedener Berufe) wurden Grundkenntnisse über den Sowjetkommunismus vermittelt. Dabei ergab sich aus den in der Anfangszeit gesammelten Erfahrungen die Notwendigkeit, die eigene Position in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus stärker herauszuarbeiten." Mit einem Sonderseminar wirkte das OK bei der Attaché-Ausbildung des Auswärtigen Amtes mit; zudem veranstaltete es Seminare für Stabsoffiziere an der Führungsakademie der Bundeswehr.
Unter den 4.444 Teilnehmern stellte der höhere Verwaltungsdienst mit etwa einem Sechstel den höchsten Anteil, je ein Zehntel waren Lehrer an höheren Schulen, Offiziere oder Teilnehmer aus dem Bereich der Wirtschaft, acht Prozent Studenten, drei Prozent waren Hochschullehrer und wissenschaftliche Assistenten, Angehörige der Justiz waren mit sechs Prozent, Journalisten und Gewerkschaftler mit je vier Prozent vertreten, zu geistlichen und anderen kirchlichen Berufen gehörten drei Prozent. 155 Teilnehmer (3,5%) kamen aus dem Ausland, vornehmlich aus der Schweiz und aus Österreich. Insgesamt 120 "wissenschaftlich ausgewiesene Sachkenner" waren im Zeitraum von November 1957 bis Ende 1961 als Referenten im OK tätig, darunter 26 "führende ausländische Sowjetologen". Die Grundvorlesungen wurden weitgehend von den Mitgliedern des Direktoriums des Ostkollegs gehalten.

Das Direktorium verstand das OK als weltweit einzige Bildungsinstitution, die für qualifizierte Bevölkerungsschichten eine geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus auf wissenschaftlicher Grundlage etabliert hatte. Dies wurde 1964 durch zwei Sonderveranstaltungen unterstrichen: Im Mai fand ein Erfahrungsaustausch über "Vorurteile und Klischees bei der Behandlung von Ostfragen" statt, an dem insgesamt 38 namhafte Journalisten und Direktoriumsmitglieder teilnahmen. Im Dezember 1964 war es endlich gelungen, eine bereits seit September 1962 vom Direktorium angeregte supranationale Veranstaltung zu realisieren, die unter dem Arbeitstitel "NATO-Tagung" stand. An dem "Internationalen Colloquium" zum Rahmenthema "Ostforschung und politische Bildung" (in der Planungsverantwortung des neuen, aus der Bundeszentrale Anfang 1964 als Studienleiter übergewechselten Werner Maibaum) nahmen 50 Personen, Ostforscher, Botschaftsvertreter sowie Repräsentanten von Bildungseinrichtungen zur Auseinandersetzung mit dem Kommunismus aus den NATO-Mitgliedsstaaten Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Portugal und den USA sowie aus Schweden, der Schweiz und die Mitglieder des OK-Direktoriums teil.[80]
Während Karl-Heinz Ruffmann in einem Beitrag "Entstehung und Stellung des Ostkollegs im Rahmen der politischen Bildung" vorstellte, sollten zwei Grundsatzreferate, die unterschiedliche Akzente setzten, als Debattenimpulse dienen. Joseph M. Bochenski referierte "Zur geistigen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie"[81], und Hans Joachim Lieber bilanzierte "Erfahrungen über Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Aufklärung". Das Kolloquium wurde durch den Bundesinnenminister Hermann Höcherl eröffnet, der sich – anders als sein Amtsvorgänger Gerhard Schröder – bereits auf der Linie eines rationalen Antikommunismus bewegte. "In seinen Ausführungen betonte er, daß eine Immunisierung gegenüber dem Totalitarismus ohne eine eingehende Berücksichtigung des totalitären Sowjetsystems unmöglich ist. Politische Bildung darf aber nicht mit staatlicher Schulung verwechselt werden. Sie soll vielmehr die Voraussetzungen für eine persönliche Entscheidung aller Staatsbürger schaffen, die auf sachgemäßer Unterichtung und differenzierter Aufklärung basiert."
Bochenski betrachtete in seinem Eingangsbeitrag die "Intensivierung der geistigen Auseinandersetzung" als "die bedeutendste Aufgabe, die der politischen Bildung im Bereich der Analyse kommunistischer Wirklichkeit gestellt ist". Er lehnte die Ausarbeitung einer "Gegenideologie" strikt ab, "weil die Grundwerte unserer westlichen Lebensordnung nicht in dogmatischer Weise bestimmbar sind". Stattdessen müsse sich die politische Bildung darauf konzentrieren, "die gemeinsamen Elemente der Grundwerte bewußt zu machen." Diese Fokussierung auf die Ideologie wurde in der Diskussion erheblich relativiert. "Von besonderer Bedeutung sind dabei die wirtschaftliche Entwicklung, Wandlungen der politischen Struktur und eine zunehmend deutlicher werdende Differenzierung der monolithischen Ideologie innerhalb der kommunistischen Welt."
Liebers Referat[82] verwies auf Vorurteilsstrukturen, die bei einer "auf Aufklärung abzielenden politischen Bildungsarbeit" beachtet werden müssten. Diese zeigten sich generationenspezifisch, in Klischeevorstellungen oder einer verbreiteten "Neigung zum Denken in Alternativ-Modellen."[83] Ein vorwiegend affektiv akzentuierter Antikommunismus stehe zudem im Zusammenhang mit der eher emotional bestimmten Abwehrreaktion eines bloßen "Anti-Antikommunismus". Lieber hob die doppelte Aufgabe hervor, "im Zuge von Informierung über das Sowjetsystem zugleich kritische Bewußtseinserhellung über die eigene Lebensordnung leisten zu müssen".[84]